Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg

Das Atom ist schuld

Ein Gewinner, viele Verlierer – die für die Grünen äußerst erfolgreichen Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen die existenziellen Schwierigkeiten, mit denen die anderen Parteien zu kämpfen haben.

Die Gelegenheit gibt es nicht oft, einen geradezu historischen Wahltag mitzuerleben. Der Sonntag war ein solcher. Es war 17.12 Uhr, als eine Eilmeldung über den Ticker ging. Die DPA meldet unter Berufung auf »dessen Umgebung«, Guido Westerwelle werde »unter keinen Umständen« zurücktreten. Der FDP-Vorsitzende und Bundesaußenminister musste zu diesem Zeitpunkt noch befürchten, dass seine Partei auch in Baden-Württemberg völlig untergehen würde.

Immerhin ist ihr das zunächst erspart geblieben. Doch für die Partei, die vor nicht einmal zwei Jahren bei der Bundestagswahl mit 14,6 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte feiern konnte, dürfte das nur ein schwacher Trost sein. 4,2 Prozent in Rheinland-Pfalz, landesweit 3,5 Prozent bei den Kommunalwahlen in Hessen, und auch in Baden-Württemberg hätte es für die FDP kaum schlimmer kommen können. Im einzigen Bundesland, in dem sie je einen Ministerpräsidenten stellen durfte, kommt sie nun nur noch auf 5,3 Prozent der Stimmen. Trotz einer gestiegenen Wahlbeteiligung manövrierten die Freidemokraten damit nicht nur sich selbst, sondern auch die CDU in die Opposition.
»Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt«, lautet ein Lieblingssatz von Westerwelle. Nun scheint der Kapitän fest entschlossen zu sein, als letzter von Bord zu gehen. Dass es nicht schon am Wahlabend zur Meuterei kam, liegt an der armseligen Truppe, die er um sich versammelt hat. Seine drei Stellvertreter Andreas Pinkwart, Cornelia Pieper und Rainer Brüderle, die Bundestagsfraktionsvorsitzende Birgit Homburger – sie alle waren oder sind Landesvorsitzende ausgerechnet in jenen Ländern, in denen die FDP ihre letzten vier Wahlniederlagen hinnehmen musste: in Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Sie alle dürften den FDP-Bundesparteitag Mitte Mai in Rostock nicht überstehen, sofern sie es überhaupt noch bis dahin schaffen. Auch Westerwelles Tage sind gezählt. Seine Partei befindet sich in einem Überlebenskampf. Und sie weiß das.
Das unterscheidet die FDP von der Linkspartei. Für diese endete der Wahlsonntag ebenfalls äußerst unerfreulich. Bei der Bundestagswahl 2009 erhielt sie in Baden-Württemberg noch 7,2 Prozent der Zweitstimmen, in Rheinland-Pfalz kam sie sogar auf 9,4 Prozent. Nun scheiterte ihr Einzug in den Landtag von Mainz mit 3,0 Prozent ebenso deutlich an der Sperrklausel wie der in Stuttgart. Dabei erhielt sie im Süden mit 2,8 Prozent nur unwesentlich mehr Stimmen als die Piratenpartei. Die hessischen Kommunalwahlen hinzugerechnet, bei der sie und linke Listen, an denen sie sich beteiligte, zusammen landesweit auf 3,4 Prozent kamen, wird mehr als deutlich: Auch die Linkspartei befindet sich in einer Krise. Sie kann nur hoffen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen nicht der Verlockung erliegt, noch in diesem Jahr für Neuwahlen zu sorgen.
Die Linkspartei könnte tatsächlich bald wieder eine ostdeutsche Regionalpartei mit einigen politisch unbedeutenden Ablegern im Westen werden. Doch statt ihre Situation zu analysieren, setzt die Führung auf Durchhalteparolen. »Für dieses Ergebnis ist einzig und allein das Thema Atomkraft verantwortlich«, bilanzierte der Bundesvorsitzende Klaus Ernst. Wenn sich die störende Atomwolke verzogen hat, wird es schon wieder aufwärts gehen, lautet die schlichte Botschaft. Doch schon vor dem japanischen Gau hatte die Linkspartei im Westen große Schwierigkeiten. Die Hamburger Bürgerschaftswahl, bei der sie unter guten Bedingungen bei 6,4 Prozent verharrte und in absoluten Zahlen sogar Stimmen verlor, war dafür bereits ein deutliches Anzeichen.

Man muss nicht sein Anhänger sein, trotzdem ist offenkundig: Die Linkspartei hat den Rückzug Oskar Lafontaines nicht kompensieren können. Er öffnete der Partei erst den Weg in den Westen, nun fehlt er ihr sowohl als Stratege wie als Wahlkämpfer. Mit seiner Biographie und seiner kämpferischen Attitüde konnte Lafontaine jene Zielgruppen im Westen ansprechen, die die alte PDS nie hatte erreichen können. Mit seiner Präsenz bot Lafontaine auch ein Gegenbild zur grauen Garde der Funktionäre, die in den östlichen Landesverbänden den Ton angeben. Aber er lenkte auch vom desolaten Zustand etlicher westlicher Landesverbände ab.
Anstatt ein eigenes Profil zu entwickeln, beschäftigen sich einige von diesen damit, wie sie möglichst schnell mit der SPD ins Geschäft kommen könnten, die anderen mit sich selbst – und dann gibt es noch jene, die sich an ihrem Verbal­radikalismus ergötzen. Die Folge ist eine Substanzlosigkeit, die schnell zu einer Wahlniederlage führen kann. Bestes Beispiel dafür ist die derzeitige Atomdebatte. Eigentlich liegt die Linkspartei mit ihrer Forderung, die AKW sofort abzuschalten, gar nicht schlecht, entspricht dies doch dem Bedürfnis vieler Menschen. Aber das zahlt sich aus gutem Grund nicht aus. Schließlich drängt sich der Verdacht auf, dass sie den sofortigen Ausstieg nur fordert, um die Grünen und die SPD zu überbieten – und nicht, weil er ihr wirklich wichtig wäre. So wirkt auch ihre Kritik am rot-grünen »Atomkonsens« der Regierung Schröder vor allem wohlfeil. Nicht einmal eine kleine Protestmahnwache vor dem Reichstag war es der damaligen PDS wert, als sich die Grünen im Jahr 2000 von der SPD den Kompromiss mit der Atom­industrie abpressen ließen. Tatsächlich nahm der sofortige Atomausstieg auf der Prioritätenliste der Linkspartei noch nie eine so exponierte Stelle ein, dass sie selbst deshalb irgendeine Koalition hätte scheitern lassen. Daran hat sich nichts geändert – weswegen sich mögliche Wähler, für die das Thema wichtiger ist, lieber für die Grünen entscheiden.
Die SPD gab sich am Wahlabend im Berliner Willy-Brandt-Haus alle Mühe, ihren Misserfolg schönzureden. Neben der FDP und der Linkspartei sind die Sozialdemokraten die großen Verlierer. In Rheinland-Pfalz erzielten sie mit 35,7 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1959. Im Vergleich zur Landtagswahl 2006 verloren sie 9,9 Prozentpunkte – keine andere Partei musste am Sonntag einen höheren Verlust einstecken. Noch schlimmer sieht es in Baden-Württemberg aus. Hier muss die SPD mit 23,1 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit Gründung des Bundeslandes verkraften.
Dass im Berliner Willy-Brandt-Haus trotzdem keine Weltuntergangsstimmung herrschte, resultiert zum einen aus dem Scheitern der Linkspartei – einem erklärten Wahlziel der SPD. Zum anderen erlaubt der historische Erfolg der Grünen, die in Baden-Württemberg 24,2 und in Rheinland-Pfalz 15,4 Prozent der Stimmen erhielten, den Sozialdemokraten, sich in einer bemerkenswerten Realitätsverweigerung zu üben: Das Abschneiden der Grünen beschert dem blassen Nils Schmid den Karriere­sprung auf die Regierungsbank in Stuttgart und dem bräsigen Kurt Beck die unverdiente Laufzeitverlängerung in Mainz.
Zum Glück für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden sind die Grünen nicht nachtragend: Als Beck noch die Wahl hatte, entschied sich der Provinzgenosse lieber für eine Koalition mit der FDP Rainer Brüderles. Dass sich die Grünen nun nicht dafür revanchieren, ist allerdings auch auf jenen strategischen Fehler Angela Merkels zurückzuführen, der sich derzeit für die CDU verhängnisvoll auswirkt: die Aufkündigung des rot-grünen »Atomkonsenses«. Damit hat sie nicht nur auf Bundesebene für absehbare Zeit ein schwarz-grünes Bündnis unmöglich gemacht und sich der desolaten FDP ausgeliefert. Seit der Katastrophe von Fukushima wäre eine solche Koalition auch auf Länderebene für die Grünen nicht mehr vermittelbar, weswegen die Avancen der rheinland-pfälzischen CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner unerwidert blieben.

Auffällig ist, dass die CDU trotz der Turbulenzen der vergangenen Wochen erstaunlich stabil geblieben ist. In Rheinland-Pfalz konnte die Union sogar Stimmen gewinnen und schloss mit 35,2 Prozent wieder zur SPD auf. Auch der unbeliebte Stefan Mappus schnitt besser ab, als es auf den ersten Blick scheint. Der Machtwechsel in Stuttgart resultiert nicht aus großen Verlusten, sondern – neben der FDP-Pleite – vor allem aus der gestiegenen Wahlbeteiligung. Zwar sank der prozentuale Anteil der CDU von 44,2 auf 39,0 Prozent, in absoluten Stimmen gewann sie jedoch 193 638 Stimmen hinzu. Damit sind die Christdemokraten wider Erwarten unter den vielen Verlierern noch am glimpflichsten davongekommen. Der in der Partei umstrittene und von der politischen Konkurrenz als unehrlich bewertete Sinneswandel Merkels in der Atompolitik scheint sich ausgezahlt zu haben.
Entscheidend für die noch anstehenden Wahlen in diesem Jahr wird sein, ob der Andeutung eines beschleunigten Ausstiegs aus der Atomenergie Taten folgen oder sich die »energiepolitischen Piusbrüder« durchsetzen, wie Heiner Geißler die Befürworter der Atomkraft in der Partei nennt. Das wird auch mit darüber entscheiden, ob sich CDU aus der Abhängigkeit von der FDP lösen kann und neue Koalitionsmöglichkeiten entstehen. Denn in Baden-Württemberg führten Merkels großzügige Zugeständnisse an die Atomkonzerne vom vergangenen Herbst nun dazu, dass mit Winfried Kretschmann ausgerechnet der eifrigste Verfechter von Schwarz-Grün der künftigen rot-grünen Landesregierung vorstehen wird. Mit bemerkenswerter Ausdauer warb das Mitglied verschiedener K-Gruppen (früher Kommunistische Hochschulgruppe, derzeit Zentralkomitee der deutschen Katholiken) jahrzehntelang in seiner Partei für eine Zusammenarbeit mit der CDU. Gedankt hat es ihm die Union nicht. Nun sitzt sie in der Opposition.