Über die Proteste in Syrien

Die letzte Bastion

Das syrische Regime verspricht Reformen, lässt aber auf Protestierende schießen. Sein Sturz würde die Machtverhältnisse im Nahen Osten grundlegend ändern.

Ein unmissverständliches Anzeichen dafür, dass eine Revolte in einem Land des Nahen Ostens in die erste Liga aufsteigt, ist die Einrichtung eines Liveblogs, etwa beim Sender al-Jazeera. Im Fall Syriens war es am 25. März soweit, als auf die Demonstranten in Deraa geschossen wurde. Nach drei Tagen lag die Zahl der bestätigten Todesopfer über 20, Schätzungen der Opposition sprachen bereits von mehr als 100. Die Gewalt eskalierte auch in anderen Städten, Videoclips zeigte jubelnde Menschen beim Herunterreißen von Por­träts des Präsidenten, Geheimdienstgebäude wurden gestürmt, Eliteeinheiten der Armee vorgeschickt und wieder zurückgezogen. Vieles erinnerte an die Dynamik der Geschehnisse in anderen Ländern der Region, anderes scheinbar nicht.
Man werde die Notstandsgesetze aufheben und politische Reformen einleiten, hatte Buthaina Shaaban, die Beraterin Präsident Bashar al-Assads, am Tag vor dem Massaker in Deraa angekündigt. Von der Zulassung von Parteien und von Pressefreiheit war plötzlich die Rede. Zwei Tage später folgte die Versicherung, erste Reformen würden in den kommenden Wochen verwirklicht, die Regierung werde überdies zurücktreten und neu formiert. Derweil wurde aus Lattakia an der syrischen Küste gemeldet, dass ein Dutzend Protestierende getötet worden seien.

Dass Syrien ein Sonderfall und dort alles ganz anders sei, war und ist ein gängiges Mantra der Nahost-Analysen. Weshalb es auch überall hieß, die Welle der arabischen Revolten werde an Syrien vorbeirauschen. Die Familie Assad steht zwar seit Anfang der sechziger Jahre einer Diktatur der Ba’ath-Partei vor, aber mit Bashar al-Assad war, anders als in den Gerontokratien der Region, ein jüngerer Herrscher aus der Erbengeneration an der Macht, der sich theoretisch reformbereit gab. Zudem wurden die »antiimperialistische« Politik und die Konfrontation mit Israel auch im Westen gerne als etwas betrachtet, das angeblich die Bevölkerung und die Herrscherfamilie vereine. So wies die Arabische Liga, die doch Maßnahmen gegen Muammar al-Gaddafi gefordert hatte, auf die Frage, ob man nun auch Maßnahmen gegen Syrien einleiten müsse, inoffiziell auf die »Besonderheit« Syriens hin, da sich das Land noch im Kriegszustand mit Israel befinde und syrisches Territorium – der Golan – besetzt sei.
Die in London erscheinende Zeitung al-Quds al-Arabi beschwor Assad, schnelle Reformen einzu­leiten, denn sonst sei »die letzte übriggebliebene Bastion gegen das amerikanisch-israelische Unternehmen« gefährdet. Während früher das Ausbleiben von Reformen mit der Existenz Israel entschuldigt wurde, gelten in diesen Kreisen nun die Reformen als notwendig für die Fortsetzung des Kampfes gegen Israel. Das ist auch Zeitgeist.
Aber wie »besonders« ist Syrien denn nun? Wollen die Syrer wirklich weniger Freiheit als die Menschen anderswo? Vielleicht liegt diese überstrapazierte Besonderheit Syriens vielmehr in seiner Rolle als strategisches Schlüsselland. Denn obwohl das Regime längst beste Kontakte nach Europa unterhält, ist es der einzige wirkliche staatliche Verbündete des Iran, nicht nur in der Region. Ohne diesen arabischen Partner wäre die iranische Unterstützung für die Hamas und die Hizbollah gefährdet. Der Einfluss des Iran im arabischen Raum baut maßgeblich auf seiner vorgeschobenen Bastion Syrien auf. Und die – sunnitischen – Demonstranten in Deraa haben skandiert: »Nein zum Iran, nein zur Hizbollah.« Syrien hat zudem großen Einfluss auf die Entwicklung des palästinensisch-israelischen Konfliktes und auf die Politik des Libanon. Alle relevanten nahöstlichen Terrororganisationen unterhalten Dependancen in Damaskus. Veränderungen in Sy­rien würden deshalb die Machtverhältnisse im Nahen Osten grundlegend in Frage stellen. Davor haben alle Angst, das ist der große Faustpfand Bashar al-Assads, nicht die Liebe seiner Landsleute zu ihm oder deren Probleme mit Israel.

Syrien unter der Herrschaft des jungen Assad ist zudem für den Westen längst zugänglich geworden. Dagegen spricht nicht, dass Buthaina Shaaban den Demonstranten vorwarf, sie zielten auf die Rolle Syriens als »Säule im Widerstand gegen Zionsimus«. Seltsam genug, US-Außenministerin Hillary Clinton versicherte kurz darauf in einem Interview, die Umstände, die zu der internationalen Intervention in Libyen geführt hätten, seien im Fall Syriens nicht gegeben, viele US-Politiker hielten zudem Assad für einen Reformer.
Assad und die Diktatur seiner verrotteten Ba’ath-Partei gelten immer noch als berechenbar, was von einem regime change zu erwarten wäre, vermag sich hingegen im Westen derzeit niemand vorzustellen. Weder gibt es in Syrien relevante Oppositionsparteien noch unabhängige Organisationen wie etwa Gewerkschaften. Der islamis­tische Einfluss ist evident, aber schwer einzuschätzen. Die syrische Gesellschaft ist religiös und »ethnisch« fragmentiert. Der Clan des Präsidenten stammt aus der Minderheit der Aleviten, ebenso wie der Kern von Militär, Polizei und Geheimdiensten, sie werden ihren Mann halten, solange es geht. Die städtische Oberschicht hat bisher weitgehend mit den Assads kooperiert, mit den Massen der Jugendlichen aus der Provinz, die die Proteste tragen, verbindet sie noch kein erkennbares Interesse. Bislang haben die Kurden, die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, sich an den Protesten kaum beteiligt. Ihre Unzufriedenheit mit dem Regime ist jedoch bekannt.
Nun lässt Assad also Reformen versprechen, während seine Truppen schießen. Fraglich ist, wie viel persönliche Entscheidungsfreiheit er dabei hat, denn er ist sehr von seiner Klientel abhängig, wie diese von ihn. Unklar ist auch, wie er die versprochenen Gehaltserhöhungen und Subventionen bezahlen will. Der Iran wird wohl nicht helfen können, denn Präsident Mahmoud Ahmedinejad ist längst knapp bei Kasse und muss noch die Hamas und die Hizbollah mitfinanzieren. Syrien selbst ist ökonomisch ruiniert.

Vielleicht könnte ein Massaker Assad kurzfristig helfen, aber die Welt ist eine andere geworden, seit sein Vater 1982 die aufständische Stadt Hama mit Artillerie zusammenschießen und Zehntausende töten ließ. Doch was geschieht, wenn es tatsächlich Reformen geben sollte?
Der permanente Notstand kann als der Normalzustand dieser Diktatur gelten, und nun, da das Regime tatsächlich in Not ist, soll er angeblich aufgehoben werden. Doch ein Folterkeller bleibt ein Folterkeller, auch wenn man ihn neu tapeziert. In den Medien ist der Hinweis beliebt, dass anfangs nicht einmal der Sturz Assads gefordert wurde, sondern nur Reformen, über die das Regime verhandeln könnte. Nach fast 50 Jahren Diktatur hat es dann doch nur ein paar Tage gedauert, bis die ersten Präsidentenbilder heruntergerissen wurden. Die Dynamik besteht dieser Tage überall darin, dass in kürzester Zeit das bisher Undenk­bare denkbar wird. Hat dieser Prozess einmal begonnen, lässt er sich kaum noch stoppen.
»Die Angst ist weg«. Dieser Satz, der beim Beginn der Proteste überall in der Region zu hören war, stellte in Kürze immer das gesamte System in Frage. Sollte das Regime also nicht nur Zeit gewinnen wollen, dürften Reformen langfristig wenig zu seinem Überleben beitragen. Die Einpar­teiendiktatur basiert auf Geheimdienstkontrolle und Folter, der Verzicht auf die Repression würde den gesellschaftlichen Druck weiter steigern. »Das syrische Regime müsste sich, will es überleben, radikal reformieren«, urteilt Karim Emile Bitar vom Institute for International and Strategic Relations. »Sollte dies aber geschehen, würde es das Ende des ganzen Systems bedeuten.«