Die japanische Linke und die Katastrophe in Fukushima

Eine verpasste Chance

Die Reaktorkatastrophe in Fukushima hat in Japan kaum Protest seitens der Anti-AKW-Bewegung ausgelöst. Die Debatten über Atomwaffen und Atomenergie wurden dort schon immer getrennt geführt.

Viele deutsche Leserinnen und Leser werden bei der Lektüre der Live-Ticker zum Erdbeben in Japan und dem drohenden Super-Gau in Fukushima bisher Berichte über ein Aufbegehren der japanischen Bevölkerung gegen die Atomkraft vermisst haben. Wenn schon Roger Willemsen, der Botschafter von Amnesty International, vor kurzem den deutschen Völker- und Menschenrechtsfreunden mitteilte, dass durch die Atomkatastrophe in Fukushima »das Recht der Menschen auf Gesundheit geschändet« worden sei, so bringt es diese dann doch ins Grübeln, warum sich in Japan kaum Protest gegen die nukleare Gefahr geregt hat. Gern wird in den hiesigen Medien kulturalistisch argumentiert. Es wurde versucht, die Japaner – wegen Konfuzianismus, Kultur oder Natur – als besonnene, disziplinierte und vor allem obrigkeitshörige Menschen zu charakterisieren.
Dass eine landesweite Anti-AKW-Bewegung in Japan bislang nicht zustande gekommen ist, hat jedoch viel mehr mit der Kultur der Protestbewegungen, einer theoriearmen Linken und einer vom Staat mit Repression und Propaganda erfolgreich durchgesetzten Atompolitik zu tun. Auch wenn gegenwärtig in Japan kaum gegen die Atomkraft protestiert wird – es gab seit der Reaktorkatastrophe bislang zwei größere Demonstrationen mit jeweils ungefähr 1 000 Teilnehmern in Tokio –, so hat das Land doch eine Geschichte des Widerstands gegen die Nutzung der Atomkraft. Die Debatten um Atomwaffen und Atomenergie wurden bisher zumeist getrennt geführt.

Die japanische Friedens- respektive Antiatomwaffenbewegung entstand im Jahr 1954, als bei einem amerikanischen Atombombentest vor dem Bikini-Atoll ein japanisches Fischerboot samt Besatzung verstrahlt wurde. Ein Tokioter Frauenlesekreis machte diesen Vorfall zum Symbol seines Protestes gegen die Verwendung von Atomwaffen, der die bis heute größte Bürgerbewegung Japans hervorbrachte. Kritische Stimmen gegen die Verwendung der Atomenergie kamen hingegen erst Anfang der siebziger Jahre auf, im Zuge der Entstehung von Umweltschutzgruppen. Mit dem von Anfang an zumeist auf lokaler Ebene ausgetragenen Kampf gegen den Bau von Atomkraftwerken und den Versuchen, Störfälle öffentlich zu machen, gelang es im Gegensatz zur Antiatomwaffenbewegung nie, gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Obgleich man nun doch auf die Bildung einer nationalen Anti-AKW-Bewegung hoffen könnte, muss zunächst die problematische Verbindung zwischen der Antiatomwaffenbewegung und dem Nationalismus in der japanischen Nachkriegsgeschichte betrachtet werden.
Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki dienten dem japanischen Staat dazu, seine Rolle als Täter im Zweiten Weltkrieg mit der des Opfers zu vertauschen. Auch die Linke verlor sich in der Nachkriegszeit in ihrem Glauben an das eigene Volk als revolutionäres Subjekt. Man sah dieses als eigentliches Opfer des Kriegs an, dem man nun in seiner Friedenspolitik und im Widerstand gegen die als Demütigung empfundene »Besatzung« der Amerikaner beistehen müsse.
Ihren politischen Befreiungsnationalismus schrieb sie sich die Linke nicht offen auf die Fahnen. Ende der sechziger Jahre, in der Hochphase der Bürgerproteste, gab es aber keinen sozialen Konflikt, in den sich Japans sogenannte Neue Linke nicht auf die Seite der vermeintlich Unterdrückten stellte – egal, wie fern diese einer emanzipatorischen Politik standen. Die Eigendefini­tion als revolutionäre Kraft bedurfte anscheinend keiner weiteren theoretischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen – jeder Anlass zur Opposition gegen die parlamentarischen Kräfte, bei dem man sich auf die Seite des »einfachen Volkes« stellen konnte, war willkommen.

Die linke Solidarität reichte von der Unterstützung des Widerstands der Bauern gegen den Bau des internationalen Flughafens in Narita bis zu den Protesten gegen die amerikanischen Militärbasen auf der japanischen Insel Okinawa und Sasebo. Während des Zweiten Weltkriegs war Sasebo als Marinestützpunkt der Ausgangspunkt für die nationalistische Expansion Japans im Pazifik. Die Stadt stand loyal hinter der Ideologie und Kriegspolitik des japanischen Kaiserreichs. Indem die Neue Linke zusammen mit den Bürgern Sasebos Anfang 1968 auf die Straße ging, um gegen das Einlaufen des amerikanischen Flugzeugträgers »Enterprise« in den Hafen der Stadt zu protestieren, trug sie maßgeblich zur Entlastung Japans von dessen Kriegsschuld bei. Sasebo wurde über Nacht zum Synonym für eine neues demokratisches Japan.
Dieses Beispiel zeigt den staatstragenden Charakter der Antiatomwaffenbewegung und erklärt, weshalb es kaum Verbindungen zu der Anti-AKW-Bewegung gibt. Die Friedensaktivisten begriffen sich vor allem als Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki, eine Kritik an der zivilen Nutzung der Atomenergie blieb aus. Kritiklos wurde die Position der Regierung übernommen. In einer »friedlichen Nutzung« von Atomenergie wurden keinerlei Gefahren gesehen. Gleichzeitig tolerierte die japanische Regierung die Antiatomwaffenbewegung zu ihrem eigenen Nutzen. Demgegenüber bot die Anti-AKW-Bewegung keine nationale identitäre Projektionsfläche und stand vielmehr gegen die umfassende staat­liche Atomenergiepolitik, die eine wichtige Grundlage des japanischen Wirtschaftswachstums darstellte.

Diese Erfahrung teilt eine kleine Gruppe von AKW-Gegnern, die bei dem kleinen Fischerdorf Kaminoseki, nicht weit von Hiroshima, seit Jahren gegen den Bau eines Atomkraftwerks kämpft. Bis auf die Unterstützung von lokalen Fischern, die bereits seit 28 Jahren gegen den Bau des Reaktors Widerstand leisten, hat es bislang weder Unterstützung noch Solidaritätsbekundungen der Anti-Atomwaffen-Organisationen in Hiroshima gegeben. Auch vom gegenwärtigen Bürgermeister von Hiroshima ist keine Hilfe zu erwarten. Dieser preist sich, ebenso wie seine Vorgänger das taten, als großer Gegner von Atomwaffen, schweigt jedoch zu den Gefahren der Atomenergie. Eine solche Haltung ist paradigmatisch für die Inkohärenz, mit der die japanische Gesellschaft die Themen Atomwaffen und Atomenergie betrachtet.
Nach den jüngsten Ereignissen in Fukushima wird Japan wohl nicht mehr umhinkommen, nicht nur Atomwaffen, sondern auch die Atomenergie in Frage zu stellen. Die Anfang des Jahres begonnenen Erdarbeiten für den in Kaminoseki vorgesehenen Atommeiler wurden wegen der Katastrophe in Fukushima für unabsehbare Zeit eingestellt. Auch über die Pläne der japanischen Regierung, neben den 54 bestehenden AKW bis 2020 neun und bis 2030 noch einmal mindestens fünf weitere Meiler zu bauen, muss nachgedacht werden.
Bisher begegnete die Regierung den Widerstand gegen geplante AKW, indem sie den Gemeinden hohe Kompensationszahlungen zukommen ließ. Anzunehmen ist, dass diese Vorgehensweise der Regierung und der Stromkonzerne keinen Erfolg mehr haben wird. Das Gleiche gilt auch für die bisherige Kriminalisierung der japanischen Atomkraftgegner. Neben der politischen Repression war es auch die gesellschaftliche Stigmatisierung als »Extremisten«, die in den siebziger Jahren die Aktivisten isolierte. Sie waren von Zwangsexmatrikulationen, erzwungenen Jobkündigungen und sozialem Ausschluss bedroht.
1986 sorgte der Super-Gau in Tschernobyl für kurze Zeit dafür, dass die Gefahren der Atomenergie erneut zum Thema wurden. Mitte der neunziger Jahre verhinderte die Gemeinde von Maki durch Bürgerentscheide den Bau eines Atomkraftwerks. Doch trotz der wiederkehrenden Enthüllungen über Störfälle und trotz der Vertuschungsversuche der Stromkonzerne und der sich um Schadensbegrenzung bemühenden Regierung konnte die Anti-AKW-Bewegung in Japan nur wenige, zumeist regional begrenzte Erfolge vorweisen.
Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Regierung begünstigte wachstumsorientierte Politik zwar rasch zu Wohlstand und technologischem Fortschritt führte, jeglicher Umweltpolitik jedoch im Wege stand. Durch diese Entwicklungen kam es in Japan zu verheerenden Umweltverschmutzungen. Die durch Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung hervorgerufenen Krankheiten, wie die Itai-Itai-Krankheit oder die Minamata-Krankheit, forderten Tausende von Opfern. Im Zuge dessen kam es zu einem allmählichen Wandel des Umweltbewusstseins, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Regierung Japans. Dennoch dauerte es Jahrzehnte, Gesetzesänderungen und Entschädigungen für die Opfer von Umweltverschmutzung zu veranlassen.
Deshalb herrscht mittlerweile auch bei einem Großteil der Bevölkerung in Japan Unmut über die Betreiber des AKW in Fukushima, Tepco, aber auch über die Regierung und deren Umgang mit der Katastrophe. Das Wissen darum, dass Tepco bereits in der Vergangenheit in Betrugsskandale verwickelt war, die Wartung von Reaktoren vernachlässigte und Berichte fälschen ließ, hat viele Japaner dazu veranlasst, ihr Vertrauen in die »friedliche Nutzung« von Atomenergie infragezustellen.
Die noch andauernde Katastrophe in Fukushima wird eine Veränderung des Umweltbewusstseins der japanischen Bevölkerung sowie ihrer Einstellung zur Atompolitik auslösen. Ob sich infolge dessen linke Gruppen neu formieren können, bleibt offen.