Über den Streik der Lokführer

Einer für alle

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) fordert einheitliche Löhne, um den Unterbietungswettbewerb in der Bahnbranche zu stoppen. Die privaten Unternehmen, die aus den Verhandlungen ausgestiegen sind, werden nun bestreikt.

»Solidarisch den BuRa-LfTV durchsetzen!« Mit diesem Titel präsentiert sich das Editorial der aktuellen Ausgabe des Voraus, des Magazins der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Gemeint ist mit der Abkürzung der einheitliche Bundesrahmen-Lokomotivführertarifvertrag für den Güter-, Nah- und Fernverkehr. Für die Deutsche Bahn AG (DB) ist das nicht nur sprachlich eine Zumutung. Seit 1994 mit der Privatisierung begonnen wurde, hat die DB zahlreiche Dienstleistungen, Wartungs- oder Serviceleistungen in Tochterunternehmen ausgelagert, die niedrigere Löhne zahlen. Bei den Lokführern ging diese Strategie nicht auf: Im Jahr 2008 scheiterten Versuche, die Lokführer der DB Regio in Tochterunternehmen zu überführen, ebenso am Widerstand der GDL, wie die Einstellung von schlecht bezahlten Zeitarbeitern als Lokführer im Tochterunternehmen DB-Bahnservice GmbH. Dennoch fahren externe Lokführer für den Staatskonzern, beispielsweise beim aufgekauften Transportunternehmen Arriva.
Dass die Bahn AG einem Branchentarifvertrag zumindest teilweise zustimmen kann, liegt an der privaten Konkurrenz, den sogenannten nichtbundeseigenen Bahnen. Maßgeblich bei den Tarifverhandlungen ist hier die Gruppe der sechs größten Privatbahnen (G6): Veolia-Verkehr, die Unternehmen der Hessischen Landesbahnen, Arriva, Abellio, Benex und Keolis.

Das Einstiegsgehalt für Lokführer beträgt bei der DB etwa 2 295 Euro. Die Gehälter, die bei den Privaten gezahlt werden, sind zumeist ähnlich, aber bei etwa zehn Prozent der Unternehmen liegen die Löhne bis zu 30 Prozent niedriger. Darüber hinaus unterscheiden sich die Tarifverträge hinsichtlich der Zulagen, der Urlaubsansprüche und der Arbeitszeit. Angesichts der Kostenkonkurrenz der Betreiber um neu ausgeschriebene Strecken versuchen die nichtbundeseigenen Bahnen, hier zu sparen. Deshalb wollen die große Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die GDL in dieser Tarifrunde einheitliche Branchen­tarife durchsetzen, um hier einen Unterbietungswettbewerb auszuschließen.
Im Februar schloss die EVG (in der seit Dezember Transnet und die Bahnbeamtengewerkschaft fusioniert sind) mit der DB Regio und den G6 einen Branchentarifvertrag für den Nahverkehr ab, den Bereich, der bislang am meisten von niedrigen Löhnen betroffen war. Der Vertrag gilt auch für Lokführer, obwohl die GDL, die etwa 80 Prozent der Lokführer organisiert, aus den Verhandlungen ausgestiegen war. Durch den Abschluss steigen die Löhne in der Gesamtbranche um 1,8 Prozent und ab Januar 2012 um weitere zwei Prozent. Allerdings bedeutet der neue Tarifvertrag für die meisten Zugführer Einbußen – und ist deshalb für die GDL inakzeptabel. Die »querbeet aufgestellte Großgewerkschaft« sei nicht kompetent für die »fachlich richtige Interessenbedienung«, kommentierte der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky die Probleme der EVG mit den Lokführern schroff. Der neue Tarifvertrag bringe den Lokführern 6,25 Prozent weniger Lohn und unzureichende Regelungen bei zahlreichen, teilweise wichtigen Details. Bei der Arbeitszeit gibt es beispielsweise unzureichende Berechnungen von Bereitschaftszeiten oder Arbeitsunterbrechungen, gelten soll die 40-Stunden-Woche. Die Entscheidung, dass es 28 Tage Jahresurlaub und weniger Zusatzurlaub für die Nachtarbeit geben soll, bleibt ebenfalls hinter den sonstigen Regelungen der DB zurück. Dabei erfordern die unregelmäßigen Arbeitszeiten der Branche eigentlich mehr arbeitsfreie Zeit. Deshalb verhandelt die GDL nun einen eigenen Abschluss.
Die Ausdehnung der Tarife auf alle Branchenbereiche, also auch auf den Güter- und Fernverkehr, ist eigentlich möglich. Denn im Fernverkehr spielt die nichtbundeseigene Konkurrenz noch keine Rolle, und im Güterverkehr sind Zugführer wegen der Nachtarbeit knapp, Niedriglöhne sind hier nicht verbreitet. Am 16. März vereinbarte die GDL den BuRa-LfTV mit vier großen Frachtunternehmen. Ihre Vorstellungen hat die GDL durchgesetzt: Der Grundlohn liegt zwei Prozent über dem Niveau der DB. Die Berufserfahrung in anderen Unternehmen wird anerkannt und die Wochenarbeitszeit beträgt 39 Stunden. Die wichtigen Zulagen für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit werden in gleicher Höhe wie bei der DB gezahlt. Nach dem letzten Warnstreik verhandeln jetzt auch wieder die Bahn AG und die GDL über einen Rahmentarifvertrag und Verbesserungen im Haustarif. Die G6 haben sich aufgelöst und versuchen so, mit dem bestehenden EVG-Vertrag davonzukommen. Deshalb werden sie von der GDL weiter bestreikt.
Der Konflikt zwischen den Gewerkschaften wird auch politisch ausgetragen. Die EVG argumentiert, dass die GDL als Splitter- oder Spartengewerkschaft die Kampfkraft der Gesamtbelegschaft schwäche und das Branchengewerkschaftsprinzip – die Starken nehmen die Schwachen mit – außer Kraft setze. Allerdings wird die DGB-Gewerkschaft EVG als Liebling der Bahn AG verspottet und gilt kaum als konfliktfähig. Den immensen Personalabbau bei der DB seit 1994 hat sie ebenso untätig begleitet wie die Privatisierungspolitik. Als der Transnet-Vorsitzende Norbert Hansen vom Gewerkschaftsvorsitz direkt in den Vorstand der DB wechselte, geriet Transnet in eine Krise.
Brisant ist dabei die aktuelle Auseinandersetzung um die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Tarifeinheit. Im vergangenen Jahr verabschiedete sich das Bundesarbeitsgericht von dem Grundsatz: ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Das Urteil trägt der gewachsenen Rolle unabhängiger Berufsgewerkschaften (wie GDL, Marburger Bund oder Vereinigung Cockpit) Rechnung. Ein Bündnis von DGB und dem Arbeitgeberverband schlägt nun in einem Gesetzesentwurf die Rückkehr zur Tarifeinheit vor, wovon sich die Arbeitgeber weniger Streiks und der DGB »mehr Geschlossenheit« bzw. weniger Konkurrenz versprechen. Wäre das Gesetz bereits in Kraft, hätte die GDL kein Streikrecht für ihren BuRa-LfTV. Die 26 000 Lokführer könnten niemals die Majorität gegen die EVG mit ihren 232 000 Mitgliedern erreichen – maßgeblich wäre deren Tarifvertrag. Die Beschäftigten würden nicht von einem solchen Verhandlungs- und Streikverbot profitieren. Im Gegenteil: Als die GDL 2008 die Tarifverhandlungen mit elf Prozent Lohnerhöhung abgeschlossen hatte, konnte den übrigen Bahnmitarbeitern niemand den zuvor ausgehandelten Tarifvertrag von Transnet mit 4,5 Prozent verständlich machen, die DB übertrug die elfprozentige Lohn­erhöhung auf alle Eisenbahner.

Es scheint beim Streit um die Tarifeinheit um die Macht der Verbände zu gehen. Skandalös ist die derzeitige Kampagne der EVG, die versucht, die Verhandlungen der GDL zu delegitimieren, ein Vorgehen, das sich unter Gewerkschaften während Streiks eigentlich verbietet. Der Vorsitzende der EVG, Alexander Kirchner, klagte während der Warnstreiks, diese seien für andere Eisenbahner »nicht hinnehmbar«. Die GDL habe sich mit ihren Forderungen »verzockt und kriegt nun keinen Fuß mehr auf den Boden«. Dabei hatten die Berufsgewerkschaften im vergangenen Jahrzehnt das Ende der Bescheidenheit bei Tarifauseinandersetzungen vorangebracht. Ein Monopol von DGB-Gewerkschaften ist, gerade angesichts der früheren Kumpanei von Transnet mit dem Hauskonzern, nicht wünschenswert. Mit ihrer Abgrenzungspolitik können allerdings beide Bahngewerkschaften dem Druck zur Deregulierung, der durch die zunehmende Internationalisierung verstärkt wird, immer weniger entgegensetzen.