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Bei jeder Krise lernt man etwas dazu. Wer hätte vor drei Monaten Auskunft über die Namen libyscher Küstenstädte geben können? Nun ist Ras Lanouf so bekannt wie Hurghada und Djerba. Es gibt auch Krisen, die Erinnerungen wecken. Man hatte schon fast vergessen, was es mit diesen Becquerel auf sich hat. Nun ergibt sich für die Älteren die Gelegenheit, wunderliche Geschichten aus einer längst vergangenen Epoche zu erzählen, in der die Ökos auf einmal keinen Salat mehr essen wollten. Weil so viele Becquerel drin waren, herübergeweht aus der Sowjetunion. Damals wurden Wasserwerfer noch nicht dazu verwendet, rauchende AKW-Ruinen zu kühlen. Aber der Fortschritt ist unaufhaltsam. »Rem? Völlig veraltet«, meint der Kollege, der einst Physik studiert hat. Heutzutage wird man mit Sievert verstrahlt. Klingt irgendwie harmloser, so könnte auch ein Waschmaschinenhersteller heißen. Tatsächlich aber war Rolf Sievert ein Physiker, dem nachgesagt wird, dass ihm der Strahlenschutz am Herzen lag. Da erscheint es als zweifelhafte Ehre, wenn sein Name nun ständig mit der Atomkatastrophe in Japan in Verbindung gebracht wird. Aber Sievert kann sich nicht mehr beklagen, er starb 1966. Man kann ihn also auch nicht mehr fragen, warum für Kleinkinder in Japan Wasser mit 100 Becquerel pro Liter gefährlich ist, während für die Gleichaltrigen in Deutschland 370 Becquerel noch als unbedenklich gelten.
Wie Sie sehen, wirft jede Krise zahlreiche Fragen auf. Manche kann man beantworten: Wohin kommt all das hochradioaktive Wasser, das in Fukushima abgepumpt wird? Angeblich wird es in Tanks gefüllt und nicht etwa ins Meer geschüttet. Andere Fragen werden die Analytiker noch lange beschäftigen: Was hat er sich gedacht, der Guido Westerwelle? Eine Frage gibt Anlass zu kontroversen Debatten: Kann Baden-Württemberg demokratisiert werden oder drohen nach dem Sturz des Mappus-Regimes blutige Stammeskonflikte? Ein schwäbischer Kollege ist pessimistisch. Womöglich muss Westerwelle bald eine »Kein Blut für Spätzle«-Rede halten. Uns als Journalisten bewegt aber noch eine ganz andere Frage: Muss das jetzt wirklich alles auf einmal sein? Deshalb, lieber Weltgeist, eine dringende Bitte: Mach mal Urlaub! Die Entfaltung der Vernunft in der Geschichte liegt uns wirklich sehr am Herzen, aber nachdem du jahrelang vor dich hingedöst hast, glaubst du nun offenbar, alles auf einmal erledigen zu müssen. Wegen dir haben wir jetzt am Dienstag immer erst so spät Feierabend. Eine Woche ohne weltbewegende Ereignisse – ist das wirklich zuviel verlangt? Also, entspann dich mal! Aber vielleicht bist du schon in Libyen am Strand. Es könnte ja sein, dass die libyschen Rebellen nun der Weltgeist auf dem Pick-up sind.