Der Libyen-Krieg und die sogenannte westliche Welt

Nation geht vor Union

Seit dem 1. Dezember 2009 hat die Europäische Union eine Außenministerin, doch von einer gemeinsamen Außenpolitik ist die EU so weit entfernt wie nie. Der Streit um die Libyen-Intervention hat ihr inneres Zerwürfnis vervollkommnet.

Die Corniche ist die wichtigste Straße in Bengasi, an ihrem Ende steht der Justizpalast, in dem die provisorische Regierung residiert. Wenn es nach dem Willen der Anhänger dieser Regierung geht, dann könnte die große Straße bald den Namen von Nicolas Sarkozy tragen, dem derzeit wohl eifrigsten Unterstützer der Rebellen.
Wie kaum ein anderer europäischer Politiker wird der französische Staatspräsident im Osten Libyens gefeiert. Schließlich waren es französische Kampfjets, die die Stadt in letzter Minute vor Muammr al-Gaddafis Truppen bewahrten. Hohn, Wut und Verachtung gibt es hingegen für seine deutsche Amtskollegin. »Kanzlerin Merkel sollte sich schämen«, skandierten aufgebrachte Demonstranten Ende vergangener Woche in der Hafenstadt, und: »Deutschland hat uns im Stich gelassen.«

In Libyen findet derzeit nicht nur ein Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung statt. Hier scheitern auch die Pläne für eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Spätestens mit der Enthaltung im UN-Sicherheitsrat hat die deutsche Regierung unmissverständlich klargemacht, dass sie wieder eigene Wege gehen will. Mit ihrer Enthaltung kündigte die Bundesrepublik erstmals in ihrer Geschichte das Bündnis mit den westlichen Partnern Frankreich, Großbritannien und den USA auf – und stellte sich an die Seite Chinas und Russlands.
Einem Bericht der FAZ zufolge beabsichtigte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) ursprünglich sogar, mit Nein zu stimmen, was faktisch den Bruch mit den bisherigen Bündnispartnern bedeutet hätte. Wegen der Enthaltung wurden anschließend deutsche Marineeinheiten von der Nato-Seeblockade abgezogen, die im Mittelmeer das Waffenembargo gegen Gaddafi durchsetzen soll. Mehr Distanz ist eigentlich nicht möglich. Dennoch fühlt sich Westerwelle nicht alleine. Die Bedenken der Deutschen würden immerhin auch von der polnischen und bulgarischen Regierung geteilt, erklärte er. Sein französischer Kollege beurteilt die Entwicklung freilich anders. »Die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Sie ist tot«, zitiert Le Monde den französischen Außenminister Alain Juppé.
Auch wenn die Enthaltung unerwartet kam, in den vergangenen Jahren gab es klare Indizien dafür, dass Deutschland seine Außenpolitik verändert. Ernste Zerwürfnisse zeigten sich bereits im Irak-Krieg 2003, als die rot-grüne Koalition vehement eine deutsche Beteiligung ablehnte. Allerdings war Deutschland damals nicht alleine, sondern teilte diese Position mit Frankreich. Das alte Europa stellte sich gegen die britische Regierung und die osteuropäischen EU-Staaten, denen die neue Vertrautheit zwischen der deutschen, franzöischen und russischen Regierung missfiel. Die vorsichtigen Reaktionen der Bundesregierung angesichts der russischen Invasion in Georgien 2008 bestätigten diese Skepsis.
Zwei Jahre später wurde die deutsche Regierung während der Griechenland-Krise in Europa heftig dafür kritisiert, dass sie strikt auf nationale Interessen setzte. Mit einem rigiden Sparkurs treibt sie seitdem zwar ein EU-Land nach dem anderen in den Ruin, hält aber den Euro stabil. Damit ist es Deutschland gelungen, als vorläufiger Gewinner aus der Finanzkrise hervorzugehen – nicht zuletzt auf Kosten anderer EU-Staaten, die wie Frankreich oder Großbritannien deutlich an Einfluss verloren haben.

Nicht nur in Europa hat die weltweite Finanzkrise die Machtverhältnisse verschoben. Auch die politische und ökonomische Bedeutung der USA schwindet. Vor diesem Hintergrund orientiert sich Deutschland neu. Seinen ökonomischen Erfolg verdankt es seinen enormen Exporten, die zunehmend in die prosperierenden Märkte in China, Russland, Indien oder Brasilien fließen – also die Staaten, die sich im Sicherheitsrat ebenfalls enthalten haben. Wachsender Bedeutung erfreuen sich zudem die autokratisch regierten Staaten Zentralasiens, zu denen die Bundesregierung ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis pflegt.
In dieser neuen multipolaren Weltordnung weicht die bisherige deutsche West-Ausrichtung einem Natinalismus, der mehr an die Bismarcksche Interessenpolitik des 19. Jahrhunderts als an die in Berlin viel beschworene »werteorientierte Außenpolitik« erinnert. Das schließt nicht aus, dass Deutschland bei anderen Themen wieder im Konsens mit den alten Bündnispartnern handelt. Gut möglich aber, dass sich neue Allianzen ergeben, wenn es die strategischen Interessen erfordern.
Die neue deutsche Außenpolitik ist umso bemerkenswerter, als sie selbst von vielen aus der Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments unterstützt wird. Den größten Beifall erhielt Westerwelle ausgerechnet von der Partei »Die Linke«, heftige Kritik kommt hingegen aus den Reihen der konservativen Transatlantiker. »Deutschland hat zum ersten Mal seit 1949 einen Alleingang gewagt – und sich selbst international isoliert«, klagte Ex-Generalinspekteur Klaus Naumann, selbst CSU-Mitglied. »Ich schäme mich für die Haltung meines Landes«, fügte er hinzu. Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) bezeichnete die Enthaltung als einen »schweren Fehler von historischer Dimension mit unvermeidlichen Spätfolgen«. Und der ehemalige grüne Außenminister Joseph Fischer bedauerte zutiefst, dass »der Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat soeben endgültig in die Tonne getreten wurde«. Um Europa müsse einem nun »angst und bange werden«.
Westerwelle sieht sich auf einer Ebene mit der bis heute populären rot-grünen Kriegsverweigerung von 2003. Mit dieser Meinung steht er in Europa allerdings ziemlich alleine da. In Frankreich und Großbritannien können die Interventionsbefürworter auf eine weitverbreitete Unterstützung zählen. Und selbst in Spanien, wo der Irak-Krieg ebenfalls auf klare Ablehnung stieß, wird heute Deutschland heftig kritisiert. So verglich die Tageszeitung El Pais kürzlich den Kampf gegen Gaddafi mit dem spanischen Bürgerkrieg. »Die gleichen Argumente wie damals hören wir jetzt leider auch aus Deutschland, um in Libyen nicht einzugreifen: die Angst vor einer Ausweitung des Konflikts und Vorbehalte gegenüber der Opposition in Libyen, die ja gar nicht so demokratisch sei«, heißt es einem Kommentar. Die Regierungen in Frankreich und Großbritannien hätten sich 1936 aus Angst um ihre Besitzstände wie schäbige Spießbürger benommen. »Dieses Europa, das nur auf seine engsten Interessen schaut, verkörpert jetzt Deutschland, das feige Europa, das sich nur um Geschäfte und Gewinne kümmert.«

Auf ihre geschäftlichen Interessen schauen allerdings auch die eifrigsten Befürworter der Intervention, allen voran die französische Regierung. Noch vor wenigen Wochen musste Sarkozy den peinlichen Umstand erklären, warum seine Regierung so lange vertrauliche Beziehungen zu arabischen Despoten unterhielt – sie hatte die arabische Aufstandsbewegung schlicht verschlafen. Kurz bevor sein Image völlig ramponiert war, vollzog Sarkozy einen abrupten Wechsel. Zuerst erkannte er als erster Regierungschef in Europa die Aufständischen in Bengasi als einzige legitime Vertreter Libyens an. Dann forderte er vehement, militärisch in den Konflikt einzugreifen.
Dabei hat Sarkozy nicht plötzlich eine revolutionäre Seite an sich entdeckt. Schließlich hatte sich Frankreich in den vergangenen Jahren nur allzu gut mit Gaddafi arrangiert. Vielmehr stehen auch für Frankreich weitreichende Interessen auf dem Spiel. Seit geraumer Zeit versucht die französische Regierung, ihren wirtschaftlichen Einfluss auf die nordafrikanischen Staaten zu erhöhen. Gelingt es Sarkozy, sich als wichtiger Alliierter für potentielle Machthaber zu profilieren, könnten sich interessante wirtschaftliche und politische Möglichkeiten eröffnen. Während Deutschland auf die wachsenden Märkte im Osten zielt, liegt für Frankreich die Zukunft praktisch vor der Haustür.
Dafür ist Sarkozy bereit, viel zu riskieren. »Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die gleiche sein wird«, sagte er vorige Woche pathetisch. »Wir werden an der Seite der Bevölkerung sein, die ohne Gewalt demonstriert.« Eine Botschaft, die von der syrischen und der deutschen Regierung sicher nicht gerne vernommen wurde.
Aber auch die italienische Regierung reagierte pikiert. »Der Libyen-Krieg spaltet Italien und Frankreich«, titelte vergangene Woche die konservative Tageszeitung Corriere della Sera aus Mailand. Italien hatte den französischen Führungsanspruch abgelehnt und sogar mit einer Schließung seiner Stützpunkte gedroht, wenn die Nato nicht das Kommando über den Libyen-Einsatz erhalten sollte. Frankreich wolle »nach dem Sturz Gaddafis den Platz Italiens gegenüber Libyen einnehmen«, insbesondere im Ölgeschäft und in weiteren Wirtschaftsbeziehungen, heißt es in einem Leitkommentar der Zeitung. Deshalb habe Italien unter französischem Oberkommando »viel zu verlieren«.
Kein Wunder also, dass der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf dem EU-Gipfel in Brüssel vergangene Woche beim gemeinsamen Abendessen laut darüber räsonierte, ob Angela Merkel mit ihrer Enthaltung nicht vielleicht doch Recht gehabt habe. Nur zögerlich und gegen den Widerstand der Lega Nord hatte sich die Regierung Berlusconis für eine aktive Beteiligung an der Koalition entschieden.

In der europäischen Außenpolitik setzt sich somit fort, was zuvor bereits in der Währungs- und Finanzpolitik ersichtlich war. Angesicht der fundamentalen Wirtschaftskrise wollen sich die großen EU-Staaten ihre nationalstaatliche Macht nicht mehr beschneiden lassen, sondern sie vergrößern, wenn sich Vorteile daraus ergeben.
Die Befindlichkeiten der Europäer kümmern die Rebellen in Libyen indes vorerst wenig. Am Wochenende hissten sie auf zerstörten Panzern von Gaddafis Armee die Trikolore. Nicht nur denlibyschen, sondern auch den anderen Aufständischen in der arabischen Welt dürfte mittlerweile klar sein, mit wem sie im Zweifelsfall rechnen können. Mit Deutschland sicher nicht.