Stellt Joachim Radkaus Buch »Die Ära der Ökologie« vor

Plutonium und Hysterie

Zersplitterter Widerstand: Mit seinem Buch »Die Ära der Ökologie« hat Joachim Radkau eine Weltgeschichte der Umweltbewegungen vorgelegt.

Zu den stereotypen Vorwürfen, die die Atomwirtschaft und die angeschlossenen Lobbyisten in Politik, Marketing und Medien gegen die Atomkraftgegner vorbringen, gehört der Verweis auf die Hysterie der Kritiker. Weil die Proteste gegen den Bau von Atomreaktoren oder die Stationierung von Atomwaffen hysterisch seien oder zumindest auf hysterischen Vorstellungen beruhten, wird den Protestierenden jede rationale Auseinandersetzung mit dem Atomkomplex abgesprochen.

An dieser Diagnose ist sehr viel richtig. Sie kehrt sich aber in dem Moment gegen die Betreiber und Befürworter der Atomwirtschaft, in dem sie sich auf die Wissenschaft und ihre Rationalität beziehen. Es gibt nämlich einen inneren Zusammenhang zwischen der spezifisch modernen Form der Wissenschaft, wie sie im 17. Jahrhundert mit Galilei und Descartes entsteht, und der Hys­terie als Reaktionsform auf eine unkontrollierbar gewordene Wirklichkeit.
»So paradox die Behauptung sein mag«, schrieb der Psychoanalytiker Jacques Lacan, »die Wissenschaft nimmt ihre Anläufe aus dem Diskurs der Hysterika.« Für Lacan galten neben Galilei und Descartes Sigmund Freud und die Entwicklung der Psychoanalyse als das Beispiel für die Geburt der modernen Wissenschaft aus der Hysterie. Die Hysterie, als das Symptom der ungeheueren Spaltung, die die moderne Wissenschaft in das Subjekt hineinträgt, indem es ihm durch die Entdeckung der Unendlichkeit des Alls den geschlossenen Kosmos einer vom göttlichen Himmel überwölbten Erde nimmt, ist der Motor der neuen Wissenschaft. Die neue Wissenschaft unterscheidet sich von der alten der Griechen sowie der des Mittelalters durch die Unendlichkeit ihrer Aufgabe.
Der Schock, der dadurch über die Subjekte kommt, kann platt so ausgedrückt werden: Endliche Subjekte sehen sich mit Objekten konfrontiert, deren Betrachtung zu keinem Ende kommt, weil sie unendlich sind. Mit der Unendlichkeit der Objekte nehmen aber natürlich auch die Ungewissheiten zu, vor allem jene Ungewissheiten, die aus der Interaktion von Endlichem und Unendlichem hervorgehen. Der Atomkomplex ist von Anfang an ein Paradebeispiel für die prinzipielle Ungewissheit, die den Kontakt zwischen Endlichem und Unendlichem begleitet. Die jahrzehnttausendelange Halbwertzeit des Plutoniums macht eine zufriedenstellende Lösung für die Endlagerung der abgebrannten Reaktorbrennstäbe prinzipiell unmöglich. Das ist zwar seit langem bekannt, es ist aber angesichts der mit der Katastrophe in Japan bestimmt nicht endenden Eiertänze der Atomkraftbefürworter notwendig daran zu erinnern. Denn die Unmöglichkeit der defintiven Lösung der Endlagerung des Atommülls ist das wissenschaftlich Sagbare.
Man kann die Geschichte dieses Arguments jetzt in einer groß angelegten Analyse, die auch die sich darum gruppierenden Bewegungen mit ihren Erfolgen und Niederlagen untersucht, erstmals nachvollziehen. »Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte« ist die erste globale Analyse ökologischer Bewegungen. Dabei handelt es sich um eine teilnehmende Beobachtung. Joachim Radkau, der Autor der Studie, lehrt in Bielefeld Neuere Geschichte und ist ein Öko der ersten Stunde. Er sei sich längst wie »ein trotteliger Anti-AKW-Opa« vorgekommen, hat er kürzlich in einem Interview aus Anlass der japanischen Atomkatastrophe gesagt. Mit der Katastrophe in Japan ist aber nicht nur für Radkau die gesamte Szenerie der siebziger und achtziger Jahre um die Außenein­andersetzungen über die Atomkraft wieder aktuell.
Und auch jetzt ergreift Radkau Partei. Seine Aufgabe als Historiker sieht er darin, durch seine Analyse der weltweit zersplitterten und disparaten Umweltbewegungen deren Sinn für den richtigen historischen Moment zu schärfen. Und dass gerade eine Zeit beginnt, in der die Möglichkeiten des historischen Eingriffs gegeben sind, steht für Radkau außer Frage.
Entscheidend ist für ihn in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, ob es dank der Möglichkeiten des Internet zu einer neuen globalen Verknüpfung der in der Regel lokal agierenden Umweltgruppen kommt und inwieweit das die Kampfkonstellationen verändert oder befördert. Denn um Kämpfe wird man nach wie vor nicht herumkommen, und die Kämpfe um die Umwelt sind für Radkau immer auch soziale Kämpfe. Der Ökologismus, ein Begriff, unter dem er die Denk- und Organisationsformen der Umwelt­bewegungen zusammenfasst, ist für ihn bislang die einzige umfassende Antwort auf das, was in der Welt vor sich geht, und dabei bedeutender als »alle Verheißungen der Liberalisierung und Globalisierung«.

Im »Zeitalter der Ökologie« haben der motorisierte Straßen- und Luftverkehr, die Belastung durch Emissionen unvermindert zugenommen. Erst jetzt kam die Chemisierung der Landwirtschaft mitsamt der Kontamination von Boden und Grundwasser in vielen Regionen in vollen Gang, und trotz aller Lippenbekenntnisse zur »Nachhaltigkeit« sind führende Konzerne mehr denn je auf maximalen Profit orientiert. Je weniger die Unternehmen noch standortgebunden sind, einen desto rücksichtsloseren Umgang mit der Umwelt können sie sich leisten. Exemplarisch findet Radkau den aktuellen Raubbau durch weltweit agierende Agrarunternehmen in Afrika. Insbesondere durch die Nutzung der Anbauflächen durch Großunternehmen hat sich dort die Umweltzerstörung seit den siebziger Jahren verschlimmert.
Die Probleme können benannt und auch Geschichten vom Widerstand erzählt werden, trotzdem ist die Öko-Ära keine Erfolgsgeschichte. Sie besteht eher aus Geschichten von Anläufen, Abbrüchen und neuen Anläufen, in denen nach Konstanten zu suchen nicht leicht ist. Zu vielfältig scheint der Ökologismus zu sein. »Das eine Mal begegnet er als Schlachtruf von Protestbewegungen«, schreibt Radkau, »das andere Mal als Hebel bürokratischer Reglementierung, das dritte Mal als Gegenstand von Ökologie als naturwissenschaftlicher Spezialdisziplin, dazu noch als spirituelle Lichtquelle der Meditation.« In Indien tritt der Öko­logismus als Kampf der Chipko-Frauen für traditionelle Dorfrechte am Wald auf, aber auch als Engagement von Naturschützern für Tigerschutz, der die Dorfbewohner gefährdet. Für Radkau sind das aber nicht nur Zeichen des Widersprüchlichen, Disparaten und der Zersplitterung der Ökobewegungen, sondern Merkmale ihrer Vitalität.
Weil es aber immer Kleingruppen, Einzelper­sonen und Ereignisse wie Tschernobyl, ein Großstaudammprojekt oder ein Unfall in einem Chemieunternehmen sind, die in die Umweltbewegungen neue Dynamik bringen, gibt es keine endgültige Lösung. Überall, wie jetzt in Japan, kann immer wieder ein unkontrollierbares Problem auftauchen. Das macht die Umweltproblemematik zu einer unendlichen Aufgabe. Gerade am Beispiel Japans lassen sich aber auch Konstanten herausarbeiten, die den Ökologismus lebendig halten. Wenn man Japan und die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, fällt erst einmal auf, dass es in Japan keien große Kernenergiekontroverse gab, wie es sie hierzulande seit den siebziger Jahren immer wieder gegeben hat. Das ist natürlich merkwürdig. Japan war und ist bis heute das einzige Opfer der Atomwaffen. Und als im März 1954 der japanische Thunfischfänger »Glücklicher Drache« in den Fallout eines amerikanischen Wasserstoffbombentests geriet und die 23-köpfige Besatzung unter der Strahlenkrankheit litt, wusste man dort auch, dass Atombombentests stets gefährlich sind. Hinzu kamen schwere Störfälle in dem schnellen Brüter Monju 1995 und in der Wiederaufbereitungsanlage Tokaimura 1997.

Auf all das wurde auch in Japan mit Protesten und einer umfassenden kritischen Literatur reagiert. Die Anti-Atombewegung blieb immer aktiv, aber lokal. Der japanische Sozialphilosoph Kenichi Mishima erklärt das mit der intensiven Öffentlichkeitsarbeit von Atomlobby und Regierung, durch die es gelungen sei, das Misstrauen gegen die Atomenergie in ein irrationales Vertrauen in den Apparat zu verwandeln. Begleitet wurde diese Arbeit von einer »kulturdiagnostischen Politpropaganda, nach der die japanische Kultur auf Harmonie ausgerichtet sei, weich, sensibel für die Mitbürger«, wie Mishima in der Frankfurter Rundschau sagte. Für Mishima liegt der Skandal in Japan darin, dass sich auch die meisten Intellek­tuellen an dieser Form der Kulturdiagnostik beteiligten. Radkau stimmt Mishima im Fall der Atompropaganda zu, erweitert die Analyse aber um einen wichtigen Aspekt. Denn nicht in allen Fällen der Umweltbarbarei blieben die Japaner weich und harmonisch, ohne dass sich Protest regte. Als eine bis dahin paradiesische Bucht der Insel Kyushu mit Quecksilber vergiftet wurde und die Anwohner horrende Gesundheitsschäden davontrugen, war das eine Initialzündung für die japanische Umweltbewegung. Mitausgelöst wurde der Protest durch die Dokumentation des Skandals durch die Schriftstellerin Ishimure Michiko in ihrem zuerst 1969 erschienenen Buch »Paradies im Meer der Qualen«. Für Radkau wird mit dem gegen die Quecksilbervergiftung gerichteten Massenprotest die Energie des Widerstands so weit absorbiert, dass für den Atomkampf keine Kraft mehr bleibt. Jedes Engagement, meint Radkau, erfordere so viel Zeit und Kraft, das man sich nicht zugleich an anderen Umweltkämpfen beteiligen kann. Es gab also auch in Japan immer intensive Umweltkämpfe, sie bezogen sich jedoch auf andere Gegenstände.
Wichtig ist hier vor allem, dass natürlich auch Michikos Buch das Dokument einer Hysterie war, auf die die richtigen Antworten folgten. Und man spekuliert nicht zu stark, wenn man davon ausgeht, dass die jetzt hysterisch nach nicht kontaminiertem Wasser suchenden Eltern junger Kinder ein Anlass für eine Massenbewegung gegen die Atomenergie in Japan sein werden. Entscheidend für eine Einschätzung Japans wie aller anderen Länder bleibt Radkaus Geschichtsauffassung. Geschichte ist für Radkau ein offener Prozess, und je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto klarer erkennt man die Vieldeutigkeit der in den Geschehnissen enthaltenen Potentiale. Dabei unterscheiden sich die Potentiale von Land zu Land und Kontinent zu Kontinent. Die vielen Umweltinitiativen leben in höchst unterschiedlichen Welten, und nur wenn man akzeptiert, dass die Öko-Bewegung ihre eigene Ökologie hat, ­sobald sie ihre jeweilige Umwelt konkret wahrnimmt und nicht nur die »Umwelt« als Abstraktum beschwört, gibt es eine Chance auch für »globales Handeln«.

Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. C. H. Beck, München 2011, 782 S., 29,95 Euro