Die UN und die Libyen-Resolution

Vereint wie fast nie

Dass der UN-Sicherheitsrat die Libyen-Resolution annahm, ist angesichts der jahrzehntelangen Blockade der Institution eine kleine Sensation. Offenbar revolutionieren die Aufstände in der arabischen Welt auch die internationalen Beziehungen.

Aus Sicht der Vereinten Nationen ist die interna­tionale Intervention in Libyen eine diplomatische Erfolgsgeschichte. Es ist bemerkenswert, wie schnell und umfassend das Regime Muammar al-Gaddafis auf der internationalen Ebene demontiert wurde. Den Anfang machte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) Ende Februar, indem er wirtschaftliche Sanktionen gegen Libyen und Reisebeschränkungen für den Oberst und seine Entourage verhängte. Außerdem wies er den Internationalen Strafgerichtshof an, Ermittlungen in der Sache aufzunehmen. Wenige Tage später wurde Libyen als erstes Land vor dem regulären Ende seiner Mitgliedschaft aus dem UN-Menschenrechtsrat ausgeschlossen. Dass der libysche UN-Botschafter sich schon bald von Gaddafi distanzierte und in einer dramatischen Botschaft die internationale Gemeinschaft um Hilfe gegen das »faschistische Regime« in Tripolis hat, trug zur internationalen Isolierung des Regimes bei.
Dass der Sicherheitsrat aber sogar eine internationale Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung und die Errichtung einer Flugverbotszone autorisierte, kam für viele internationale Beobachter dann doch überraschend. Möglich wurde dies vor allem durch die breite internationale Unterstützung insbesondere der arabischen Länder. Viele sehen damit die UN als Sachwalterin der internationalen Sicherheit rehabilitiert. Diese Aufgabe, die ihr durch ihre Charta theoretisch zugewiesen ist, hat die Organisation schon seit ihrer Entstehung nie vollständig, in den vergangenen 20 Jahren aber fast gar nicht mehr wahrnehmen können.
Während des Völkermords in Kambodscha, der großen humanitären Katastrophen der neunziger Jahre auf dem Balkan und in Ruanda sowie des seit Jahren anhaltenden Völkermords in Darfur schwieg der Sicherheitsrat, politisch gespalten und durch Vetos blockiert. Internationale Interventionen wurden entweder ohne rechtliche Grundlage durchgeführt oder überhaupt nicht. Dadurch verlor der Sicherheitsrat an Ansehen und wurde zunehmend als »Papiertiger« kritisiert. Die Prophezeiung, die UN werde alsbald völlig in die Bedeutungslosigkeit absinken, kam zunehmend in Mode. Dazu trugen auch die strukturellen Defizite und die übermäßige Bürokratie des UN-Systems bei.

Entsprechend gab es bereits seit den neunziger Jahren Initiativen, die versuchten, Alternativen zu einem Sicherheitsrat zu entwickeln, der auf humanitäre Krisen nicht zu reagieren wusste. Viele Schwellenländer wie Brasilien und Indien, aber auch das vereinigte und nach globalem Einfluss strebende Deutschland mahnten Reformen im Sicherheitsrat an. Die exklusive Gruppe der mit Vetomacht ausgestatteten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sollte endlich neue Mitglieder akzeptieren und sich zeitgemäß umgestalten. Dem wurde entgegengehalten, dass eine noch größere Zahl an Vetomächten und Mitgliedern die Handlungsfähigkeit des Rates kaum befördern würden.
Andere Stimmen aus dem westlichen, zumal dem angelsächsischen Lager hoben weniger auf eine Reform der UN ab, sondern stellten das sicherheitspolitische Monopol des Sicherheitsrates in Frage. Sie drangen auf eine Dezentralisierung der Legitimierung humanitärer Interventionen. Wie die Nato im Balkan sollten regionale Staatenbündnisse zunehmend Gewaltanwendung selbst verantworten dürfen. Die Befürworter vertraten den Standpunkt, dass in Abwesenheit von legal justification durch den Sicherheitsrat ethical jus­tification ausreiche, um im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen einzugreifen. Dagegen wurde eingewandt, dass dies Staatenbündnissen wie der Nato beliebige und willkürliche Interventionen in souveräne Staaten erlaube und damit das internationale Recht unterminiere.
Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen ist es nun bemerkenswert, dass der Sicherheitsrat die von Frankreich und Großbritannien initiierte Resolution annahm. Sie erlaubt den Einsatz »aller nötigen Mittel zum Schutz von Zivilisten« und erlegt der eingreifenden Koalition dadurch kaum Beschränkungen auf. Allerdings verbietet sie den Einsatz von Bodentruppen und legitimiert keinen aktiven »Regime change«. Eine aktive militärische Kooperation und Koordination mit den Rebellen gegen Gaddafis Brigaden, wie sie dem Anschein nach derzeit stattfindet, ist von der Resolution nicht direkt gedeckt.
Dass der Text in dieser Form vom Sicherheitsrat angenommen werden konnte, lag daran, dass Russland und China nach zähen Verhandlungen darauf verzichteten, ihr Veto einzulegen, und sich bei der Abstimmung enthielten. Ausschlaggebend hierfür war die beispiellose Abwendung der mächtigen Blöcke der Arabischen Liga und der Organization of the Islamic Conference (OIC) von Gaddafi, der einst einer der Ihren war. Dies zeigt zum einen, wie schlecht das Ansehen des libyschen Despoten selbst unter den anderen arabischen Regimes ist. Zum anderen hoffen sie offenbar, dass es die aufkommenden Demokratiebewegungen in ihren Ländern beschwichtigen könnte, wenn sie Gaddafis brutaler Niederschlagung der Revolte entschieden entgegentreten.

Bei der Sicherheitsratsabstimmung über die Libyen-Resolution musste neben den üblichen Blockaden durch die Vetomächte noch eine andere Dimension des Problems »humanitärer Intervention« beachtet werden: das internationale Recht. Die militärische Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates gilt als ein schwerwiegender Bruch seiner Souveränität und damit auch der rechtlichen Verfasstheit der internationalen Gemeinschaft. Die Charta der UN gibt dem Sicherheitsrat lediglich die Autorität, in Situationen zu handeln, in denen der »Weltfrieden und die internationale Sicherheit« bedroht ist, und verbietet ausdrücklich jede Einmischung der UN in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedsstaates.
Um dennoch völkerrechtliche Legalität reklamieren zu können, beriefen sich die Sponsoren der Resolution, England und Frankreich, auf das Konzept der responsibility to protect (R2P). Diese »Schutzverantwortung« sieht vor, dass in Fällen schwerer Menschenrechtsverbrechen trotz des anerkannten Interventionsverbots in einen Staat eingegriffen werden darf. Dahinter steht der Gedanke, dass die Wahrung staatlicher Souveränität kein Vorwand sein darf, um Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder »ethnische Säuberungen« zu erlauben. Zwar wurde das »R2P«-Konzept 2005 auf dem UN-Weltgipfel von fast allen Staaten anerkannt, ob es aber geltendes internationales Recht darstellt, ist umstritten.
Die Resolution 1 973 wurde also entgegen den üblichen Veto-Blockaden, trotz des Verbots der Einmischung in die inneren Angelegenheiten ­eines Staates und trotz der verbreiteten rechtlichen Bedenken gegenüber dem »R2P«-Konzept angenommen. Bei der Bewertung dieser erstaunlichen Entscheidung des Sicherheitsrats ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Politik der UN schon immer auch die Verfasstheit ihrer Mitgliedsstaaten widerspiegelte: Als die UN 1945 gegründet wurde, bestand sie fast ausschließlich aus rechtsstaatlichen Demokratien. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Barbarei entstanden, war sie für Staaten konstruiert worden, die sich auf politische Partizipation und Menschenrechte gründeten, die UN sollte eine neue Ära des Friedens einläuten.
Dass die Vereinten Nationen nun seit 50 Jahren mehrheitlich von Regimen monarchischer, despotischer oder theokratischer Natur kontrolliert werden, ist die tiefere Ursache ihrer jahrelangen Lähmung. Wenn die Überwindung der Blockade im Sicherheitsrat etwas zeigt, dann, dass die revolutionäre Demokratisierung der Regimes in der arabischen Welt auch weltpolitisch von großer Bedeutung sein könnte: Sie könnte jene immanente Dysfunktionalität der UN beseitigen und eine neue Epoche in der Geschichte der internationalen Beziehungen einleiten.