Über die italienische Atompolitik. Teil 2 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Wiedereinstieg unsicher

Italien war nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl das einzige Industrieland, das Ende der achtziger Jahre aus der Atomenergie ausstieg. Seit einigen Jahren plant die Regierung von Silvio Berlusconi den Wiedereinstieg. Nach dem Reaktorunfall in Japan werden diese Pläne erstmals offen kritisiert. Teil 2 einer Serie über die internationalen Debatten zum Thema Atompolitik.

In Italien geht es nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima ums Ganze: 300 000 Menschen demonstrierten am Wochenende in Rom für den »Schutz des Gemeinwohls«, für eine basisdemokratische Verwaltung natürlicher Rohstoff­ressourcen und eine neue Energiepolitik. Vereinzelt wehten auch die Regenbogenfahnen der Friedensbewegung. Unzählige Basisgruppen und lokale Bürgerinitiativen aus dem ganzen Land warben mit der Demonstration für die Teilnahme an einem für den 12. Juni geplanten Referendum. An diesem Tag sollen per Volksentscheid das Regierungsdekret zur Privatisierung der kommunalen Trinkwasserversorgung und das Gesetz zur Wiedereinführung der Atomenergie aufgehoben werden.
Als das italienische Verfassungsgericht im Januar dieses Jahres die beantragte Volksabstimmung bewilligte, hatte das Bündnis »Ja zum öffentlichen Wasser« schon mehr als eine Million Unterschriften für das Referendum gegen die Kommerzialisierung der Wasserversorgung gesammelt. Der Antrag auf ein Referendum gegen die von der Regierung geplante Wiedereinführung der Atomenergie war dagegen nur auf Initiative der kleinen liberalen Oppositionspartei »Italien der Werte« eingereicht worden. Erst nach den japanischen Reaktorunfällen ist diese Abstimmung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und die italienische Anti-Atom-Bewegung wieder erstarkt. Dank der gemeinsamen Mobilisierung wächst die Chance, dass im Juni das nötige Quorum erreicht und beide Gesetzesvorhaben abgelehnt werden können.

In den ersten Tagen nach den Unfällen in Fukushima beunruhigte die Umweltministerin Stefania Prestigiacomo deshalb vor allem die »makabre Spekulation« der Atomkraftgegner, die ein Unglück ungeheuren Ausmaßes für ihre eigenen Zwecke ausnutzen würden. Ihre Regierung lasse sich davon aber nicht beeindrucken: »Die italienische Nuklearpolitik wird sich nicht ändern.« Auch Wirtschaftsminister Paolo Romani bekräftigte, dass für sein Land eine Abkehr von der Rückkehr zur Atomenergie »unvorstellbar« sei. Wenige Tage später, nach dem EU-Energieministertreffen in Brüssel, sah er sich allerdings doch gezwungen, andere Töne anzuschlagen und die Öffentlichkeit zu beruhigen. Nun verkündete Romani, Italien wolle dem Beispiel anderer europäischer Länder folgen und ein einjähriges Moratorium verhängen. Für einen Zeitraum von zwölf Monaten soll das Verfahren zur Standortbestimmung der geplanten Reaktorneubauten ausgesetzt werden. Die Regierung will die Ergebnisse der vergangene Woche beschlossenen »Stresstests« für die europäischen Atomkraftwerke abwarten, lässt aber keinen Zweifel daran, dass man sich von den Testergebnissen eine Bestätigung der eigenen Atompolitik erhofft. Wenn geklärt sei, dass in Europa die gewünschte Sicherheit garantiert werden könne, sagte Romani, werde die Regierung ihre Pläne wieder aufnehmen.
Die Opposition kritisiert das Moratorium als Ablenkungsmanöver. Angelo Bonelli, Vorsitzender der italienischen Grünen, hält die vermeintliche »Nachdenkpause« für einen Täuschungsversuch, mit dem die Regierung das Referendum gegen den Wiedereinstieg in die Atompolitik zu sabotieren versuche. Tatsächlich meinte die Vorsitzende des italienischen Unternehmensverbandes, Emma Marcegaglia, vor wenigen Tagen: »Wenn sich herausstellen sollte, dass es die japanischen Probleme in Italien nicht geben kann, könnte man das Moratorium auch vorzeitig aufheben.« Für die Atombefürworter geht es offenkundig nur darum, erst einmal die Angst, die die italienische Bevölkerung ergriffen hat, abflauen zu lassen. Denn daran, dass die Menschen von dieser Angst umgetrieben werden, kann Italiens Atomlobby keinen Zweifel haben.
Knapp eineinhalb Jahre nach dem Super-Gau von Tschernobyl im April 1986 war es der Anti-Atom-Bewegung gelungen, die Mehrheit der italienischen Bevölkerung für das Referendum gegen die Atomenergie zu gewinnen. Obwohl damals weder die Abschaltung von Atomkraftwerken noch der Ausstieg aus der Atomenergie zur Abstimmung stand, markierte das Referendum vom 8. November 1987 eine entscheidende Wende in der Atompolitik Italiens.
Der Volksentscheid forderte die Aufhebung von drei scheinbar untergeordneten Rechtsnormen. Es ging erstens um die Abschaffung des staatlichen Interventionsrechts, das es der Regierung ermöglichen sollte, den Bau eines Atomreaktors auch gegen den Willen der betroffenen Kommune durchzusetzen. Zweitens wurde abgelehnt, dass der Staat sich das Baurecht mit Ausgleichszahlungen an die Kommunen, die ihr Territorium zur Verfügung stellten, erkaufen darf. Und drittens wurde dem staatlichen Energiekonzern Enel das Recht abgesprochen, sich im Ausland am Bau von Atomanlagen zu beteiligen. Alle drei Forderungen erhielten eine deutliche Mehrheit.

Die Regierung konnte das Abstimmungsergebnis nicht ignorieren, sie legte 1988 einen neuen Energieplan vor, der die Nutzung der Nuklearenergie nicht mehr vorsah. Der Bau bereits geplanter Atomkraftwerke wurde gestoppt, die damals noch in Betrieb befindlichen vier Atomreaktoren wurden abgeschaltet. Nachdem Italien in den sechziger Jahren neben den USA und Großbritannien zu den wichtigsten Atomenergieländern gehört hatte, war es Ende der achtziger Jahre die einzige Industrienation, die infolge der sowjetischen Reaktorkatastrophe de facto aus der Atompolitik ausstieg. Allerdings verzichtet Italien deshalb nicht auf Atomstrom, der kommt seither aus den Kraftwerken der Schweiz und Frankreichs. Offen ist bis heute auch die Frage der Wiederaufbereitung bzw. der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Bisher lagern sie provisorisch auf dem Gelände der alten Atomanlagen.
Weil der Ausstieg nie gesetzlich festgeschrieben wurde, konnte 2005, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, der Wiedereinstieg in die Atompolitik beginnen. Nachdem die Privatisierung des Energieunternehmens Enel bereits größtenteils abgeschlossen war, verabschiedete Berlusconis damalige Mitte-Rechts-Koalition einen Plan, der es dem neustrukturierten Energiekonzern ermöglichte, erneut in die Atomwirtschaft einzusteigen. Enel konnte in der Slowakei einen 66-Prozent-Anteil des Stromerzeugers Slovenske Elektrarne erwerben und in den nachfolgenden Jahren auch in Spanien und Frankreich investieren. Der französische Stromkonzern EDF ist für Enel heute der wichtigste Partner für den geplanten Wiedereinstieg Italiens in die Atomenergie. Im Februar 2009 unterzeichneten Berlusconi und der französische Präsident Nicolas Sarkozy ein Abkommen, das bis zum Jahr 2020 den Bau von mindestens vier Reaktoren vom Typ EPR (European Pressurized Reactor) vorsieht, die zu einer neuen Generation von Druckwasserreaktoren gehören. Damit sollen zehn, langfristig aber bis 25 Prozent des nationalen Energiebedarfs gedeckt werden. So soll die Abhängigkeit Italiens von Energieimporten verringert werden.
Wenige Monate nach Unterzeichnung des Abkommens verabschiedete die Regierung im Sommer 2009 ein Gesetz, das das Verfahren zur Standortbestimmung und zur Errichtung der Reaktorneubauten regelt. Eine Bestimmung des Gesetzes, die die Militarisierung der ausgewählten Territorien vorsah und damit die Zuständigkeit der Regionen und Kommunen zu unterlaufen versuchte, wurde im Februar für verfassungswidrig erklärt. Der Oberste Gerichtshof gab damit der Klage statt, die die Regionen Emilia Romagna, Toskana und Apulien eingereicht hatten. Bisher erklärten sich aber mit Ausnahme des Piemont nicht einmal die von Rechtskoalitionen geführten Regionen bereit, ihr Territorium für ein Atomkraftwerk oder ein Endlager zur Verfügung zu stellen. Der Plan der Regierung, die neuen Reaktoren auf dem Gelände der alten zu errichten, wird sich deshalb kaum durchsetzen lassen.
Mit jeder weiteren Katastrophenmeldung aus Japan wird der italienische Wiedereinstieg in die Atomenergie unwahrscheinlicher. Nach aktuellen Umfragen sprechen sich zwei Drittel der Bevölkerung dagegen aus. Auch deshalb hat die Regierung das Referendum nicht mit den im Mai bevorstehenden Kommunalwahlen zusammengelegt, sondern auf den 12. Juni verschoben, in der Hoffnung, dass möglichst viele Abstimmungsberechtigte das Wochenende lieber am Strand verbringen. Die große Beteiligung an der Demonstration am Samstag in Rom deutet jedoch darauf hin, dass eine Mehrheit der Italiener zu Beginn der Sommerferien den endgültigen Ausstieg Italiens aus der Atompolitik besiegeln wird.