Das ägyptische Militär foltert wieder

»Wir dachten, sie stehen auf unserer Seite«

Während der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo war die ägyptische Armee von der Bevölkerung als »Retterin der Revolution« gefeiert worden. Einen Monat nach dem Sturz des Regimes gibt es wieder Fälle von Misshandlungen und Folter an Demons­tranten durch das Militär.

Auf den Videos, die er ins Netz stellte, nannte sich Ramy Essam »The revolutionary singer«: Architekturstudent, 23 Jahre alt. Die Clips zeigen den jungen Mann mit den dunklen Locken während der Proteste auf dem Tahrir-Platz, er steht auf einer improvisierten Bühne, lacht, spielt Gitarre und singt selbstkomponierte Lieder. Auf dem letzten Video, das Essam auf seiner Facebook-Seite postete, ist von der ausgelassenen Stimmung der ersten Revolutionstage nichts mehr zu sehen. Essam liegt im Bett, sein Gesicht ist geschwollen, er singt nicht, er spricht, von seinen langen Haaren sind nur kurze struppige Strähnen geblieben. Sie wurden ihm mit Glasscherben abgeschnitten – von Soldaten der ägyptischen Armee, als sie ihn über Stunden hinweg folterten. Essam war einer der rund 200 Menschen, die am 9. März in Kairo festgenommen wurden, als ägyptische Soldaten den Tahrir-Platz räumten. Demonstranten forderten dort die Umsetzung der demokratischen Reformen durch die Armee.
Seit den Protesten und dem Rücktritt von Hosni Mubarak wird das Militär von einem großen Teil der ägyptischen Bevölkerung als »Retter der Revolution« verehrt. Das Militär genießt in Ägypten ein deutlich höheres Ansehen als die Polizei oder die Sicherheitspolizei, eine Art Geheimdienst, der über Jahrzehnte hinweg willkürlich Menschen folterte oder verschleppte. Durch die allgemeine Wehrpflicht bestehen enge Verbindungen zwischen der Armee und der Bevölkerung. Dass die Militärführung sich während der Proteste weigerte, auf die Demonstranten schießen zu lassen, und sich weitgehend neutral verhielt, hat das positive Bild des Militärs verfestigt. Im Internet kursieren zahlreiche Videos, die Verbrüderungen zwischen Soldaten und Protestierenden zeigen. Geschichten von Offizieren werden erzählt, die sich weigerten, Befehlen zu gehorchen, und sich heldenhaft auf Seiten der Demonstranten stellten.
Doch das Bild einer Armee, die – wie ein General nach der Machtübernahme verlauten ließ – nur an der Macht sei, um die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen, bekommt immer mehr Risse, seit sie gegen diejenigen, die weiterhin protestieren und Kritik üben, mit ähnlichen Methoden vorgeht wie vor der Revolution die Sicherheitspolizei im Dienste der Staatspartei.
»Sie brachten uns zum Ägyptischen Museum und sie schlugen uns vom ersten Moment an«, erzählt Essam in seinem Video. »Wir verstanden nicht, warum wir verhaftet wurden, und sie erklärten es uns nicht.« Er habe gar nicht erst angefangen, mit den einfachen Soldaten zu diskutieren, er habe auf die politischen Offiziere gewartet, im Vertrauen darauf, dass sich die Angelegenheit rasch aufklären würde. »Das Gegenteil war der Fall. Die Offiziere gingen noch brutaler mit uns um. Sie warfen mich zu Boden und prügelten auf mich ein. Dann zogen sie mich aus und schnitten mir die Haare ab. Sie folterten uns auf verschiedene Weise. Sie schlugen uns mit Stöcken, Stromkabeln, Gürteln und Drähten. Sie schlugen uns mehrmals ihre Schuhe ins Gesicht. Ein Soldat sprang mehrmals auf mein Gesicht. Danach schleiften sie mich auf den Hinterhof des Museum und schmierten mir Dreck ins Gesicht. Offiziere verabreichten mir Elektroschocks. Was soll ich sagen.« Das Video zeigt Essams Rücken: Blutergüsse, blaurote Striemen und die schwarzen Verbrennungen der Elektroschocks sind deutlich zu erkennen. »Gott schütze mich vor dem ägyptischen Militär!« sagt er am Schluss seines Berichts.
Für die jungen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an den Protesten beteiligt haben, war das Video ein Schock. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass das Militär so etwas tut«, sagt Fatima, eine Freundin Essams. Sie hat Essam wenige Tage nach den Vorfällen besucht. »Wir dachten, sie stehen auf unserer Seite!« Auch sie war eine Woche nach der Revolution vom Militär verhaftet worden. »Aber sie haben uns gut behandelt, mit Respekt«, erzählt sie. Nach wenigen Stunden sei sie wieder freigekommen. Was aus diesen Vorfällen für die Revolution folgt? Sie schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern: »Ich weiß es nicht.«
»Ich dachte zuerst, das seien Einzelfälle«, sagt Hamid, ein junger Ingenieur-Student. »Aber jetzt sieht es nicht mehr danach aus.« Er ist wütend und enttäuscht. »Wir haben die Sicherheitspolizei nicht vertrieben, damit das Militär jetzt genauso weitermacht.«
Das Entsetzen ist umso verständlicher, wenn man die relative Freiheit jetzt mit den Zuständen vor der Revolution vergleicht. Der Sicherheitsapparat hat früher mutmaßliche Oppositionelle und Kritiker des Regimes bespitzelt und eingeschüchtert, die Polizei und die Sicherheitspolizei griffen Menschen auf der Straße willkürlich an, brachten sie an geheime Orte und folterten oder ließen sie für immer »verschwinden«. Die Angst vor dieser ständigen Bedrohung war ein Grund, warum so viele junge Menschen lange nur da­ran gedacht haben, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen. »Einmal war ich in Alexandria mit einem Freund am Strand, bei Sonnuntergang«, erzählt Hamid. »Ein Sicherheitspolizist kam vorbei und fragte, was ich machte. ›Ich schaue mir das Meer an.‹ ›Das darfst du nicht‹, sagte er aggressiv.« In diesem Moment, erzählt Hamid, habe er gewusst, dass er in Gefahr war, dass, wenn er Pech hatte, ihm jetzt alles passieren könne. »Mein Freund sagte den Namen seines Vaters, der eine hohe Position beim Militär hatte. Das hat mich gerettet. Der Polizist entschuldigte sich und bot uns an, uns die Stadt zu zeigen. So etwas konnte einem ständig und überall passieren. Man konnte nie sicher sein.« Wer einmal mitgenommen wurde, um den stand es schlecht: Es gibt keine verlässlichen Zahlen über die Opfer von Polizei und Sicherheitspolizei während der Amtszeit Mubaraks. Eine von Menschenrechtorganisationen erstellte Statistik über Folteropfer aus den Jahren vor der Revolution legt nahe, dass rund ein Viertel der Festgenommen zu Tode gefoltert wurde.

Die Kampagne »We are all Khaled Said«, die sich gegründet hatte, nachdem der junge Blogger Khaled Said im Juni 2010 auf offener Straße von zwei Polizisten zu Tode geprügelt worden war, hat die ersten großen Demonstrationen Ende Januar mit initiiert. Nach der Revolution dauerte es 40 Tage, bis die Polizei es wieder wagte, sich auf der Straße zu zeigen. Als die ersten Polizisten zwei Wochen nach der Revolution wieder ihren Dienst antraten, jagte die Bevölkerung sie durch die Straßen und zündete einen Polizeiwagen an, in dem zwei Polizisten verbrannten. In der Hafenstadt Suez, wo während der Revolution heftige Kämpfe stattfanden, ist die Polizei nach Berichten von Aktivisten immer noch nicht in die Öffentlichkeit zurückgekehrt.
Die Angst in der Bevölkerung ist groß. Befürchtet wird, dass die neu Freiheit der Rede und der Organisation wieder erstick werden – und dass das Militär, das sich bisher mit Folter und Bespitzelung zurückgehalten hat, die Rolle der aufgelösten Sicherheitspolizei übernehmen könnte.
Nachdem Essam seine Erfahrungen öffentlich gemacht hatte, sind andere ihm gefolgt. Etwa der Schauspieler Aly Sobhy oder die junge Aktivistin Salma al-Hosseina Gouda, die von den Soldaten ebenfalls ins Ägyptische Museum geschleppt wurden: »Wir Frauen wurden zu Prostituierten erklärt, wir saßen vollkommen nackt vor den Soldaten. Und wenn ein Mädchen widersprach und etwa sagte, sie sei noch Jungfrau, kam einer, um das zu ›checken‹.«
Das positive Bild des Militärs und dessen mächtige Rolle in der Politik vor und nach der Revo­lution macht die Situation für viele Folteropfer schwierig. Denn statt Unterstützung bekommen sie häufig Vorwürfe zu hören, auch seitens der Unterstützer der Revolution. »Ihr beschmutzt das Bild des Militärs« sei ein häufiger Kommentar auf Facebook, erzählt eine Aktivistin, die die Videos verlinkt hat. Trotz aller gewonnenen Freiheit: Das Militär zu kritisieren ist auch nach der Revolution noch ein Tabu.
In vielen der jungen politischen Gruppen, die oft auch Freundeskreise sind, gibt es Menschen, die am 9. März auf dem Platz waren und im Ägyptischen Museum gefoltert wurden oder von denen seither jede Spur fehlt. Von 179 verhafteten Männern und 19 Frauen spricht eine Gruppe von Menschenrechtsanwälten. Erleichtert wurde diese brutale Art, für Ruhe im Land zu sorgen, durch ein neues, Mitte März verabschiedes Gesetz, das sich gegen thugs richtet, was so etwas wie »Schläger« bedeutet. Das Gesetz umfasst eine lange Liste von Vergehen, von Waffenbesitz bis zur Störung der öffentlichen Ordnung, die allesamt als thuggery geahndet und mit mehreren Jahren Gefängnis, im Ausnahmefall sogar dem Tod bestraft werden können.
Dass das Gesetz auch dazu dienen kann, missliebige Meinungsäußerungen zu unterbinden, zeigte sich vor der Abstimmung über die Verfassungsänderung am 20. März. So wurden Berichten zufolge mehrere Aktivisten wegen thuggery verurteilt, als sie am Tag der Abstimmung öffentlich dazu aufriefen, mit »Nein« zu stimmen. Die Jugendorganisationen und zahlreiche libe­rale Bündnisse lehnen die neue, inzwischen angenommene Verfassung ab, weil sie dem Präsident weiterhin fast unbegrenzte Vollmachten gibt, sie fordern, eine wirklich »neue«, nicht nur modifizierte Verfassung.
Wenige Tage nach der Abstimmung, am 23. März, trat ein weiteres Gesetz in Kraft, das jeden Protest verbietet, der den reibungslosen Betrieb von öffentlichen Institutionen oder privaten Unternehmen beeinträchtigt. Die Militärpolizei hat das Gesetz schon wenige Stunden nach Inkrafttreten angewandt und die Besetzung der Kairoer Universität beendet. Die Studierenden hatten dort – wie an vielen anderen Universitäten – die Absetzung von einigen Professoren und der vom alten Regime ernannten Universitätsleitung gefordert.
Nicht nur übergeht das Militär damit die Forderung der Demonstranten, den seit 30 Jahren geltenden Ausnahmezustand zu beenden – es verschärft ihn sogar. Und es zeigt, dass es eine immer härtere Linie vertritt gegen die Protestierenden, die sich mit dem Rücktritt des Präsidenten und des Kabinetts nicht zufrieden geben, sondern die herrschenden Zustände in Frage stellen, die Fortsetzung der Revolution statt der Rückkehr zum Alltag fordern. Der Armee gehören rund 25 Prozent des Landes: Land, Hotels, Fabriken, Lebensmittelbetriebe, Strände. Seit den fünfziger Jahren kamen die Präsidenten aus dem Militär und blieben ihm immer eng verbunden. Seit der Revolution herrscht das Militär nun nicht mehr im Hintergrund, sondern offiziell. Es muss nicht nur die Aufgaben von Armee, Regierung und Polizei zugleich erfüllen, sondern auch einen Umgang mit einer ungewohnt freien Presse und einer Bevölkerung finden, die sich immer offener politisch äußert. Geht es zu hart vor, riskiert es, den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Gleichzeitig muss es die Dynamik der Bewegung brechen, um seine Macht und Privilegien nicht zu verlieren.
Der Spagat gelingt nicht immer. Bereits am 26. Februar, zwei Wochen nach der Machtübernahme, lösten Soldaten eine Demonstration auf und nahmen mindestens neun Menschen fest. Zerknirscht entschuldigte sich ein Sprecher der Armee noch am selben Abend für die Vorkommnisse und versprach, die Armee werde dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr geschehe. Die Entschuldigung sorgte Berichten zufolge in der Armee für viel Ärger. Viele der am 9. März gefolterten Menschen erzählen, dass Offiziere die Misshandlungen als »Rache« für diese Erniedrigung der Armee bezeichnet hätten. Nach den Vorfällen am 9. März war denn auch kein Wort des Bedauerns oder auch nur der Erklärung von der Armee zu hören – trotz der Proteste von internationalen Menschenrechtorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International.
Dies mag auch daran liegen, dass es wenig Widerstand gegen das »harte Durchgreifen« des Militärs gibt. Im Gegenteil. »Viele Leute sind der Meinung, dass jetzt endlich wieder Ruhe und Stabilität im Land herrschen müssten, damit die Wirtschaft wieder anläuft und die Touristen zurückkommen«, sagt die 24jährige Aktivistin Khemana. »Sie meinen, nach so vielen Wochen reiche es jetzt mit Protestieren.« Das Militär, das sich als Garant für Recht und Ordnung darstellt, profitiert von dieser Stimmung. Seine neue Facebook-Seite hat bereits über 800 000 Fans. Das Militär arbeite zudem daran, die noch aktiven Teile der Bewegung zu diskreditieren, und zwar mit Hilfe des alten Sicherheitsapparates, glauben viele der an der Revolution Beteiligten.
Der brutalen Räumung des Tahrir-Platzes am 9. März schlossen sich auch Ladenbesitzer aus den umliegenden Straßen an, die den Protestierenden vorwerfen, Touristen abzuschrecken und der Wirtschaft zu schaden.
Selbst ein Teil der Menschen, die während der Revolution tagelang auf dem Tahrir-Platz ausharrten, übernahmen kritiklos die von Fernsehen und Zeitungen verbreitete Darstellung. »Auf dem Platz hingen zum Schluss nur noch Dealer und Obdachlose herum, die Passanten anpöbelten und Waffen besaßen«, sagt etwa eine Aktivistin.
Es gab einige Obdachlose, die häufig kamen, bestätigt Ahmed, der ebenfalls am 9. März festgenommen wurde. »Wir haben ihnen das Lesen und Schreiben beigebracht.« Auf Waffen und Drogen wurde bis zum Schluss streng kontrolliert. Die Soldaten räumten den Platz auch nicht allein. Sie griffen ein, nachdem Gruppen bezahlter Schläger das Camp angegriffen hatten, und konnten sich so als Schlichter präsentieren. Die Beobachtungen der Festgenommenen, die auf eine enge Kommunikation zwischen Schlägertruppen und Soldaten hinweisen, haben es nicht in die ägyptische Öffentlichkeit geschafft. Auch die Misshandlungen der Gefangenen und die willkürlichen Verurteilungen haben die ägyptischen Medien eher am Rande thematisiert. Vielen Aktivisten dämmert, dass sie noch längst nicht gewonnen haben und weiter kämpfen müssen, wenn sie wollen, dass die politische Freiheit, die in Ägypten seit Mubaraks Rücktritt herrscht, mehr als nur eine kurze Episode bleibt.