50 Jahre nach dem Eichmann-Prozess verweigert die Bundesregierung die Öffnung der BND-Akten

Die Aktualität des Bösen

Auch 50 Jahre nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem verweigert die Bundesregierung die Öffnung aller Akten. Dabei wussten Kanzler Adenauer und sein Staatssekretär Globke schon vor 60 Jahren, wo sich Eichmann aufhielt. Wurde der Organisator der Shoah von Westdeutschland geschützt?

Vor 50 Jahren, am 10. April 1961, trat Konrad Adenauer vor die Fernsehkameras. Der Bundeskanzler sprach aus Anlass der einen Tag später in Jerusalem beginnenden Gerichtsverhandlung gegen Adolf Eichmann: »Wir wünschen, dass in diesem Prozess die volle Wahrheit ans Licht kommt und dass Gerechtigkeit geübt wird.« Vieles kam »ans Licht«, und im Dezember 1961 kam es zum Urteilsspruch: Tod durch Erhängen. Am 31. Mai 1962 wurde Eichmann hingerichtet.
Doch genau in dem Bereich, der in der politischen Verantwortung von Konrad Adenauer lag, ist die »volle Wahrheit« immer noch nicht »ans Licht« gekommen. Vor wenigen Jahren tauchten erstmals Hinweise auf, dass sowohl die CIA als auch der Bundesnachrichtendienst (BND) bzw. dessen Vorläuferorganisation, die Organisation Gehlen, spätestens im Jahr 1958 – also zwei Jahre vor Eichmanns Verhaftung durch den israelischen Geheimdienst Mossad – dessen Decknamen und Aufenthaltsort gekannt hatten. Aus Rücksicht auf mögliche Verwicklungen mit der NS-Karriere von Konrad Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke sei aber nichts geschehen. Globke hatte 1938 einen juristischen Kommentar zu den NS-Rassegesetzen verfasst. Im Reichsinnenministerium war er Eichmann vorgesetzt; ob sich beide kannten und ob es ein direktes Unterstellungsverhältnis war, ist nicht klar.
Politisches Interesse an den neuen Informationen zu Eichmann hatte in Deutschland zunächst nur die Linkspartei. »Nur häppchenweise«, sagt der Linke-Bundestagsabgeordnete Jan Korte, kämen die Informationen ans Licht. Korte kämpft schon lange für die Offenlegung der BND-Akten zu Eichmann. Die »Blockadehaltung« von CDU/CSU und FDP erklärt sich Korte damit, dass die »dann nämlich, zumindest teilweise, ihre eigene, angeblich saubere Geschichte umschreiben müssten«. Korte hat mittlerweile gemeinsam mit der Linke-Fraktion eine Reihe von parlamentarischen Initiativen gestartet. »Freiwillig passiert in dieser Bundesrepublik doch so gut wie gar nichts«, sagt Korte. »Dass die Aufarbeitung eines wichtigen Teils der Geschichte dieser Republik, konkret der personellen Kontinuitäten im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik, ohne Druck von außen geschehe, ist eine große Legende, wenn nicht sogar eine dreiste Lüge.«
Vor einem Jahr, am 17. März 2010, veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Beitrag, in dem der Autor Peter Carstens über NS-Verbrecher im BND berichtete. Der Beitrag ent­hielt auch eine anonymisierte Liste mit kurzen biographischen Notizen zu 47 ehemaligen BND-Mitarbeitern, die in Verbrechen des NS-Regimes verwickelt waren. Die Liste war das Ergebnis der internen Ermittlung eines kleinen Sonderstabes im BND, der bereits im Spätsommer 1963 per Hauserlass eingerichtet worden war und den Tarnnamen »Organisationseinheit 85« trug. Offiziell sollte der Sonderstab um den BND-Mitarbeiter Hans-Henning Crome herausfinden, welche Ehemaligen aus dem NS-Terrorapparat in Verbrechen verwickelt und deshalb untragbar für eine weitere Beschäftigung beim BND waren.
Als dann das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Ende April 2010 auf Antrag zweier Journalisten urteilte, dass die Zurückhaltung von Adolf Eichmann betreffenden Akten rechtswidrig sei, bekam das Thema weitere Dynamik. Wenige Tage später legte Korte mit Fraktionskollegen dem Bundestag einen Antrag mit dem Titel »Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen« vor.
»Wir reden nicht von einzelnen Dokumenten«, begründet Korte, warum ihm das Urteil des BVerwG nicht genügt, »sondern von Aktenmetern, für die es übrigens gar kein Findbuch gibt. Die Akten sind also noch gar nicht erschlossen.« Korte fordert, dass im Bundeshaushalt Mittel für die Erschließung bereitgestellt werden. Obwohl das keinen Erfolg hatte, wird der Fall Eichmann, fast 50 Jahre nach der Hinrichtung des Protagonisten, immer aktueller. Vor allem die Vorstellung der Studie »Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik«, in der die NS-Verstrickung des Auswärtigen Amtes sowie personelle Kontinuitäten in der Zeit nach 1945 untersucht wurden, sorgte Ende Oktober 2010 für gehöriges Aufsehen. Darin wird dem Auswärtigen Amt bescheinigt, eine »verbrecherische Organisation« gewesen zu sein, wie es der Kommissionssprecher Eckart Conze ausdrückt.
»Das Amt«, in Auftrag gegeben von Joschka Fischer (Grüne), weiter getrieben von Frank-Walter Steinmeier (SPD) und vorgestellt von Guido Westerwelle (FDP), hat große Publizität. Die Linkspartei stellte im November den Antrag »NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären«: Alle Behörden sollten, analog zum Auswärtigen Amt, ihre Vergangenheit erforschen lassen.
Nachdem im Januar die Bild-Zeitung eine Karteikarte der Organisation Gehlen zu Eichmann veröffentlicht hatte, die bewies, dass die deutschen Behörden nicht erst 1958, sondern sogar schon 1952 Kenntnis von Eichmanns Aufenthaltsort hatte, meldete die Welt, dass der BND-Präsident Ernst Uhrlau Historikern »freien Aktenzugang« versprochen habe. Endlich dürfe die Geschichte des Amtes und seiner Vorgängerorganisation untersucht werden: von 1945 bis 1968, also die Amtszeit des ersten BND-Präsidenten Reinhard Gehlen, eines früheren Wehrmachtsgenerals.
Ein daraufhin eingebrachter Antrag der Linkspartei zur völligen Offenlegung sämtlicher Akten des BND scheiterte allerdings im Innenausschuss des Bundestags: Die schwarz-gelbe Ko­alition lehnte ab, Linke und Grüne stimmten dafür, die SPD enthielt sich. Der FDP-Innenpolitiker Stefan Ruppert sagte, Nachrichtendienste hätten ein »legitimes Geheimhaltungsinteresse«. Und der SPD-Politiker Michael Hartmann riet der Linksfraktion, zunächst die Biographien einiger ihrer Abgeordneter zu überprüfen; am »BND-Bashing« werde seine Fraktion sich nicht beteiligen.
Korte wundert sich: »Man wirft der DDR – zu Recht – vor, dass sie ein Unrechtssystem war. Die BRD wird dem gegenübergestellt als die große Erfolgsgeschichte, die vorbildliche Überwindung jeglicher Diktatur. Durch die Erkenntnisse zu den personellen Kontinuitäten von der ­NSDAP zur BRD würde diese Erzählung allerdings nachhaltig in Frage gestellt. Das passt überhaupt nicht in die angeblich so saubere BRD-Gründungsgeschichte.«
Nicht nur Korte und die Linke-Fraktion sehen die vom BND selbst erlaubte Öffnung seiner Archive mit Misstrauen. Der renommierte Erlanger Historiker Gregor Schöllgen etwa lehnte ein solches Forschungsprojekt ab, weil er nur vorsortierte Akten zu sehen bekommen hätte. Auffallend, so Korte, sei zudem, dass in der jetzigen Kommission, die den BND untersuchen soll, keine Experten zum Thema säßen. Der BND habe vielmehr bewusst solche Wissenschaftler außen vor gelassen, die schon einschlägige Vorarbeiten und Kompetenzen aufweisen.
Dass die Eichmann-Akten nur häppchenweise an die Öffentlichkeit geraten, beispielsweise durch einzelne Karteikartenfunde in der Bild, sorgt für Spekulationen über mögliche Verschwörungen. Zu denen, die sich daran beteiligen, gehört Gabriele Weber. Die Journalistin, die mit ihrer Klage beim Bundesverwaltungsgericht für einen großen Schritt in Richtung Akteneinsicht sorgte, hält es für eine Legende, dass Eichmann durch ein Kommando des is­raelischen Geheimdienstes entführt worden sei. Die Geschichten, wie sie etliche Teilnehmer der Aktion später in Büchern und Interviews erzählt haben, hält sie für erlogen. Dass der frühere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit seiner Information über Eichmanns Aufenthalt in Buenos Aires – die der jüdische Sozialdemokrat Bauer bewusst nicht an den BND, sondern nur an den Mossad gab – in Israel lange Zeit kein Gehör gefunden habe, belege, so Weber, dass der jüdische Staat kein Interesse an einer Verhaftung Eichmanns hatte. »Eichmann war zu einer Gefahr geworden, für seinen früheren Arbeitgeber, Standard Oil, für Israel, für andere«, so Weber. Nach Webers Vermutung waren es die USA, die »von diesem Theater profitiert« hätten. Schließlich hätten die USA der argentinischen Regierung die Lieferung von Uran für die Erforschung und Errichtung nuklearer Stätten zugesagt. Israel hingegen habe Eichmann letztlich doch zu sich geholt und ihm den Prozess gemacht, weil die USA ihnen nukleare Unterstützung versprochen hätten.
Eine andere Verschwörungstheorie rankt sich um den Prozess gegen Eichmann und die Rolle, die Hans Globke dabei möglicherweise spielte. Der deutsche Journalist Jürgen Bevers schreibt in seinem Buch »Der Mann hinter Adenauer: Hans Globkes Aufstieg vom NS-Juristen zur Grauen Eminenz der Bonner Republik«, es habe eine Absprache zwischen dem Bundeskanzler und dem israelischen Ministerpräsidenten ­David Ben Gurion gegeben, wonach der Name Globke im Jerusalemer Eichmann-Prozess auf keinen Fall auftauchen dürfe. Ähnliches behauptet der Publizist Otto Köhler: »Adenauer wollte und konnte verhindern, dass es zu einer direkten Belastung Globkes durch Eichmann kam.« Die Gerüchte gehen unter anderem auf Franz-Josef Strauss zurück, der Rüstungsgeschäfte zwischen Deutschland und Israel mit dem Hinweis auf die faire Führung des Eichmann-Prozesses begründet haben soll. »Die Israelis haben extreme Hetze gegen uns verhindert (Globke)«, lautet eine Strauss’sche Aktennotiz aus dem Jahr 1965.
Mehr Belege für eine Verschwörung gibt es nicht. Eichmann selbst, von dem mehrere autobiographische Manuskripte vorliegen, liefert keine Hinweise. Zwar hält sich das Gerücht, dass in Eichmanns Schriftsatz »Meine Memoiren«, die er in seiner Jerusalemer Haftzeit schrieb, eine Passage über Globke gestanden habe, die von der CIA gestrichen worden sei. Aber selbstredend fehlt dafür jeder Beleg. Erst im Jahr 2000 gab die israelische Regierung Eichmanns Memoiren zur Veröffentlichung frei. Ohne irgendwelche Hinweise auf Globke und dessen eventuelle Rolle beim Prozess.
Fest steht immerhin, dass die Vorgängerorganisation des BND, die Organisation Gehlen, schon sehr früh vom Versteck des Cheflogistikers der Shoah wusste. Zu vermuten ist, dass dies auch die westdeutsche Regierung, also Konrad Adenauer und sein Kanzleramtschef Globke, wussten und dass auch sie keine Strafverfolgung Eichmanns wollten. Wesentlich mehr gesicher­te Informationen zum Eichmann-Komplex sind gegenwärtig kaum zu haben.
Eine vollständige Aktenöffnung wird bislang nur von den Linken und Grünen gefordert. Aber die Bundesregierung teilte erst vor wenigen Wochen, am 9. März, mit, dass sie »offen und kritisch mit der Vergangenheit des BND und seiner Mitarbeiterschaft« umgehe.