Fukushima: Die Strahlenbelastung wächst

Badesalz im Kühlwasser

Der Austritt von Radioaktivität aus den Reaktorblöcken von Fukushima konnte nicht gestoppt werden. Die Folgen der Strahlenbelastung sind umstritten.

Yukiya Amano hat keinen leichten Job. Als Generaldirektor der Internationalen Atomenergie­organisation (IAEO) ist er gemäß dem Statut verpflichtet, »die Forschung, Entwicklung und prak­tische Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke überall in der Welt zu fördern und zu unterstützen«. Die Gründung der IAEO geht auf die Initiative »Atome für den Frieden« zurück, die US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 lancierte. In der Epoche der nuklearen Naivität, als man allein Atombomben fürchtete, war das populär. Mittlerweile aber mehren sich die Zweifel, ob die Förderung der Atomenergie weiterhin das erklärte Ziel einer Organisation sein sollte, die zum UN-System gehört.
Um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, will Amano nun »mehr tun, um die Sicherheit von Kernkraftwerken zu erhöhen«. Am Montag fand im Hauptquartier der IAEO in Wien ein Seminar statt, bei dem »Präsentationen« der japanischen Nuclear and Industrial Safety Agency (NISA) sowie des Energiekonzerns Tepco, der die Reaktoren von Fukushima betrieb, über die Reparaturarbeiten informieren sollten.
Ob die für die Atomkatastrophe Verantwortlichen dort den staunenden Experten erläuterten, in welchem Verhältnis sie Kunstharz, Zeitungspapier und Sägespäne mischten, um das Loch in der Umhüllung von Reaktor 2 zu stopfen, blieb der Öffentlichkeit unbekannt. Bereits zuvor war jedoch bekannt geworden, dass auch diese Improvisation gescheitert ist. Nun wurde Kühlwasser mit Badesalz gefärbt, um undichte Stellen aufzuspüren. »Es könnte sein, dass das Wasser noch über andere Kanäle hinausgelangt. Wir müssen genau nachsehen und die Lecks so rasch wie möglich stopfen«, sagte Hidehiko Nishiyama, ein Sprecher der NISA. Auf mehrere undichte Stellen deutet die Tatsache hin, dass sich hoch radioaktives Wasser in mehreren Reaktorblöcken ansammelte. Dieses Wasser muss abgepumpt werden, damit die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können.

Dass es auch in Japan noch kein Endlager für solche Abfälle gibt, ist derzeit das geringere Problem. Da es an Behältern mangelt, hat die Regierung es Tepco gestattet, 11 500 Tonnen schwach radioaktives Wasser ins Meer zu leiten. Unter »schwach radioaktiv« versteht man eine Belastung, die den Grenzwert um das Hundertfache übersteigt. Nach Angaben von Tepco würde ein Mensch, der täglich Meeresfrüchte aus diesem Gebiet verzehrt, im Jahr mit 0,6 Millisievert belastet. Das wäre relativ wenig, doch ist unklar, wie groß die Menge aus einem oder mehreren Lecks unkontrolliert ins Meer geflossener hoch radioaktiver Substanzen ist. Zudem ist es zwar eine gute Nachricht für die Japaner, dass seit Beginn der Katastrophe meist Westwind herrscht, so dass die radioaktiven Wolken über unbewohnte Gebiete des Pazifiks treiben. Dort aber gehen die radioaktiven Substanzen auch nieder, und es ist noch weitgehend unerforscht, wie sie sich in der Nahrungskette anreichern.
Die Strahlenbiologie ist an sich eine exakte Wissenschaft, zumindest beruht sie auf überprüfbaren Daten. Strahlung ist eine Form der Energie, die man in Gray messen kann, und die in Sievert angegebene Strahlenbelastung wird nach einer festgelegten Formel errechnet. Doch die Unsicherheit beginnt, wenn es um die biologische Wirkung geht. So hat etwa die Internationale Strahlenschutzkommission, auf deren Empfehlungen die Grenzwerte der meisten Staaten beruhen, im Jahr 2007 einige der sogenannten Gewebe-Wichtungsfaktoren für die Berechnung der effektiven Äquivalentdosis leicht korrigiert.

Entscheidend ist jedoch die Frage, wie viele Krebserkrankungen als Folge welcher Strahlenbelastung zu erwarten sind. Befürworter der Atomkraft ziehen gern die natürliche Strahlenbelastung als Vergleich heran, da diese den Normalbetrieb von Reaktoren und sogar die Folgen mancher Atomunfälle harmlos erscheinen lässt. Doch vermuten Mediziner, dass zehn Prozent aller Krebsfälle von Strahlung aus natürlichen und künst­lichen Quellen verursacht werden. Während sich die Sonne nicht abschalten lässt und die Belastung durch Röntgenuntersuchungen notwendig sein kann, bleibt es eine politische Entscheidung, wie viel zusätzliche Strahlung als akzeptabel gilt. So hat sich nun herausgestellt, dass in Japan strengere Grenzwerte für die Strahlenbelastung von Wasser und Lebensmitteln gelten als in Europa. In der vergangenen Woche gestattete die EU-Kommission den Import von japanischen Nahrungsmitteln, die dort nicht verkauft werden dürften.
Umstritten sind auch die Folgen, die wegen der bereits jetzt in den Reaktorblöcken von Fukushima frei gewordenen Strahlung zu erwarten sind. Die Schätzungen beziehen sich meist auf Unter­suchungen, die nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl durchgeführt wurden. Der russische Strahlenbiologe Alexej Jablokow schätzt die Zahl der Todeopfer auf eine Million (siehe Seite 20). Exakte Angaben sind, wie Jablokow einräumt, nicht möglich, zweifellos aber ist seine Kritik an den Berechnungsmethoden der zum UN-System gehörenden Organisationen WHO und IAEO berechtigt.
Überdies sind die offiziellen Zahlenangaben von Tepco und den japanischen Behörden beunruhigend genug. Die Regierung hat bereits angedeutet, dass eine baldige Rückkehr der Evakuierten in die Umgebung der Reaktorblöcke nicht möglich sein wird. Die Angabe von Greenpeace, dass in einem Dorf 20 Kilometer außerhalb der Evakuierungszone Werte von zehn Mikrosievert pro Stunde gemessen wurden, haben die Behörden nicht abgestritten. Eine Ausweitung der Evakuierungszone auf einen Bereich von 40 oder 50 Kilometern, die Mitte März bereits Gregory Jaczko, der Vorsitzende der US-Behörde Nuclear Regulatory Commission, empfohlen hatte, scheint jedoch nicht geplant zu sein.

Unumstritten ist, dass sich die radioaktiven Substanzen nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl nicht gleichmäßig verteilten, so war die Strahlenbelastung in einem mehr als 100 Kilometer nordöstlich gelegenen Gebiet fast ebenso hoch wie in unmittelbarer Umgebung der Reaktoren. Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass die japanische Regierung zögert, weitere Evakuierungsmaßnahmen zu beschließen. Es ist nicht kalkulierbar, wo die weiterhin ständig austretende Radioaktivität niedergehen wird. Messbar ist sie mittlerweile auch in den USA und Europa, bei ungünstigem Wind könnten sich in Japan bedenkliche Konzentrationen weit außerhalb der Evakuierungszone finden.
Eingestanden hat die japanische Regierung mittlerweile auch, dass die Reaktoren und die Brennstäbe in den Abklingbecken noch monatelang gefährlich sein werden. Der einzige Erfolg bei den Reparaturarbeiten war, dass statt Meerwasser nun wieder Süßwasser zur Kühlung verwendet werden kann. Dadurch wird vermieden, dass sich auf den beschädigten Brennstäben eine Salzkruste bildet, die eine Kühlung verhindert. Derzeit wird versucht, durch die Beseitigung des radioaktiven Wassers die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der Reparaturarbeiten zu schaffen. Die Lage ist schlechter als Mitte März. Immerhin haben die Tepco-Manager nun offiziell mitgeteilt, dass sie nicht mehr beabsichtigen, zwei weitere Reaktoren in Fukushima zu errichten.