Über die Gefahr der Reaktion in den arabischen Revolten

Das Risiko der Reaktion

Für die Entwicklung der im Umbruch befindlichen arabischen Länder wird entscheidend sein, ob die sozialen Konflikte ausgetragen werden. Wenn nicht, droht der revolutionäre Impuls zu erlahmen oder gar ins Gegenteil umzuschlagen.

Zweifelsohne wird das Jahr 2011 einen bedeutenden Platz in der Geschichtsschreibung der arabischen Welt einnehmen. Ob es im Rückblick als »Beginn einer neuen Epoche« oder nur als Markstein politischer Instabilität in der Region gelten wird, ist offen. Es lässt sich nur mutmaßen, welche Formen die Umwälzungen noch annehmen werden – sowohl in Hinblick auf ihre politische Ausrichtung als auch auf ihre räumlichen Ausdehnung. Ebenso unklar ist, welche Reaktionen diese Verschiebungen in der internationalen Politik noch zur Folge haben werden.
Es ist wahr, »Revolutionen gibt es nur ohne Gewähr«, wie Oliver M. Piecha schreibt (Jungle World, 08/2011). Der weit verbreitete »Anti-Chaos-Reflex«, wie er einst von Richard Löwenthal formuliert wurde, kann nicht einfach als irrationale Furcht des Bürgertums abgetan werden. Denn die Spontaneität der Massen birgt im Spiel von Ak­tion und Reaktion stets auch Risiken. Es können sich neue Koalitionen bilden, die sich allein in der Abwehr eines ihre Interessen bedrohenden Akteurs einig sind. Ebenso können gut organisierte politische Gruppen entstehende Machtvakuen nutzen und das progressive Potential einer Revolte hemmen oder in ihr Gegenteil verkehren. Und wo die Kräfteverhältnisse unklar sind, ist auch der blutige Konflikt nicht ausgeschlossen, wie das Beispiel Libyen zeigt.
Diese Erfahrungen hat die Arbeiterbewegung im Laufe ihrer Geschichte mehrfach machen müssen. Schon früh offenbarte sie ihre mangelnde Fähigkeit, ihre – zumeist spontanen – Aufstände in konstruktive Bahnen zu lenken. Erfahrungen mit solchen Rückschlägen führten schließlich zur Herausbildung handlungsfähiger Organisationen und einer Ausdifferenzierung revolutionärer Strategien. Während der libertäre Flügel der Bewegung eine sozialrevolutionäre Programmatik entwickelte, die aus der Alltagspraxis heraus zu einer Reorganisation der sozioökonomischen Zusammenhänge führen sollte, zeigte ihr marxistischer Teil Wege der politischen Machteroberung auf, mit der der revolutionäre Prozess staatlich organisiert werden sollte. Nicht nur das sowjetische Beispiel verdeutlichte, dass reaktionäres Potential auch in den eigenen Konzepten enthalten sein kann.

Was dieser historische Exkurs mit den heutigen arabischen Revolten zu tun hat? Ganz einfach: Es handelt sich bei diesen unverkennbar (auch) um Erhebungen der Arbeiterklasse. Und in gewisser Hinsicht steht diese vor ähnlichen Problemen wie die Arbeiterbewegung in Europa vor über einem Jahrhundert. Zurecht verweist Thomas Schmidinger auf die Rolle der Arbeiter und Gewerkschaften in Tunesien, ohne die ein Sturz Ben Alis in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Auch zeigt er, dass die Wurzeln der revolutionären Dynamik in Ägypten in den Streiks und Kämpfen um soziale Rechte zu suchen sind (10/2001). Gerade für diesen Teil der Aufständischen geht es um mehr als eine oberflächliche Demokratisierung des Staates. Sie erheben soziale Forderungen, die über die politischen Ziele hinausweisen, die in den meisten Medienberichten im Vordergrund stehen.
Die revoltierende Arbeiterklasse Ägyptens ist nicht vom Himmel gefallen. Mit repressiven Gesetzen und religiös-ideologischem Kitt wurde sie lange unter Kontrolle gehalten. Und ähnlich wie im Westen, wenn auch unter anderen Bedingungen, wurden die Klassenwidersprüche lange durch das Versprechen der »sozialen Mobilität« relativiert. Deren Stellenwert für die Funktionsweise des modernen Ägypten hatte bereits vor über zehn Jahren der ägyptische Publizist Galal Amin betont. In Anlehnung an den Ökonomen Karl Polanyi sprach er von einer »Marktkultur«, die seit den siebziger Jahren die gesamte Gesellschaft durchdringe und der »inneren Kolonialisierung« gleiche, die Europa bereits im 19. Jahrhundert vollzogen habe, ohne dass jedoch die entstehenden sozialen Verwerfungen abgefedert würden.
In Kombination mit den spürbaren Konsequenzen mehrerer ökonomischer Krisenschübe und dem Frust der jungen Generation über die Enge einer bornierten, autokratischen Gesellschaft erzeugte dies eine höchst instabile Lage – und das nicht nur in Ägypten. Dass sich dabei die Proteste der Arbeiter auch gegen den politischen Überbau richten, ist nur allzu verständlich. Entscheidend ist, dass sich damit eine wichtige Schnittmenge zwischen den Interessen der Arbeiter und dem nach mehr politischer Partizipation strebenden Bürgertum bildete. Dieser Doppelcharakter der Bewegung wird auch daran deutlich, dass die Proteste für Arbeiterrechte sowohl in Tunesien als auch in Ägypten weitergehen. Und es ist bezeichnend, dass die westlichen Medien, die der Demokratiebewegung ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet hatten, sich über die sozialen Kämpfe nun ausschweigen.
Dabei gehen die Auseinandersetzungen in eine wichtige Phase. Vielerorts haben sich neue unabhängige Gewerkschaften gegründet, die ihren Forderungen mit Arbeitskämpfen Nachdruck verleihen. Vergangene Woche hat nun das Kabinett Sharaf einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der Streiks und Proteste, die der Wirtschaft schaden, während des Ausnahmezustands kriminalisieren soll. Verschiedene Arbeiter- und Studentenorganisationen sehen darin einen Versuch der alten Eliten, weitere revolutionäre Prozesse zu vereiteln und den Kämpfen ihre Dynamik zu nehmen.

Dass es bald eine gewählte Regierung geben wird, die die sozialen Forderungen der Arbeiter und Gewerkschaften erfüllt, darf bezweifelt werden. Diese tun deshalb gut daran, sich nicht auf die Zeit nach den Wahlen vertrösten zu lassen. Wie durchsetzungsfähig sie jedoch in diesen Konfrontationen sein können, ist fraglich. Denn eine arabische Arbeiterbewegung gab es lange Zeit kaum. Infolge der Etablierung autokratischer Regime mit teils sozialistischem Anstrich ähneln die Gewerkschaften stark denen des Ostblocks, die eine wesentliche Rolle dabei spielten, die Nation wie ein Heerlager zu verwalten.
Es irrt sich deshalb auch Bernhard Schmid, wenn er den Wegfall der »Systemkonkurrenz« als Ursache einer »politischen Lähmung« und Begünstigung reaktionärer Kräfte ausmacht (07/2011): Nationale Einheitsregime hatten schon lange zuvor der Gesellschaft die Fähigkeit zum sozialen Konflikt genommen. Mit der Auflösung der Blockkonstellation wurde dies lediglich offengelegt. Zudem hatten diese sich teils als sozialistisch gerierenden Regime die politischen Hoffnungen der arabischen Welt in den sechziger und siebziger Jahren nicht erfüllen können und dadurch die Erneuerung des Islam als politische Bewegung begünstigt.

Ob es der sich neu formierenden ägyptischen Arbeiterbewegung gelingt, den sozialen Konflikt weiter fortzuführen, wird nicht nur für die Zukunft Ägyptens entscheidend sein. Zum einen sind gerade unabhängige Gewerkschaften ein wesentlicher Teil der Zivilgesellschaft. Zum anderen ist die Austragung sozialer Konflikte ein Garant dafür, dass die Dynamik der Klassenwidersprüche nicht in nationalistische Bahnen oder äußere Feindprojektionen kanalisiert wird. Feindbilder und Verschwörungstheorien, auch der antisemitischen Art, wie sie – darauf verweist Stephan Grigat (09/2011) – zweifellos auch unter den ägyptischen Arbeitern kursieren, dürften dann auf einen weniger fruchtbaren Boden fallen.
In Ägypten zumindest gibt es für die Gewerkschaften durchaus Potential. Der US-amerikanische Politologe Nathan J. Brown spricht sogar von einer »syndikalistischen Zukunft«. Er spielt damit auf die Herausbildung autonomer und klassenorientierter Organisationstypen an, die – infolge zahlreicher »Mini-Revolutionen« im Lande – mit der Tradition zentralistischer und institutionalisierter Politik brechen. Sollte sich dies bewahrheiten, könnten sich die sozialen Konflikte dynamisieren und mittelfristig auch an die Substanz der herrschenden Klasse gehen. Spätestens an diesem Punkt dürften jedoch die Grenzen der Revolte deutlich werden. Denn es ist fraglich, ob eine neue Bewegung die Mittel und Konzepte entwickeln kann, um diesen Machtkampf zu bestehen, ohne dabei selbst ihr progessives Potential zu verlieren. Auch von einem Dialog mit der westlichen Linken würde sie dabei kaum profitieren. Denn deren revolutionäres Knowhow erschöpft sich häufig in insurrektionalistischen Gedankenspielen, die der libertäre Arbeiteraktivist Alexander Schapiro bereits vor 80 Jahren als »Anarchismus in den Kinderschuhen« bezeichnet hatte.