Alexej Jablokov, Strahlenbiologe im Gespräch über die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe und die Lage in Fukushima

»Frösche sind nicht radiophob, erkranken aber trotzdem«

Ende April jährt sich der Super-Gau in Tschernobyl zum 25. Mal. Dass der Jahrestag dieses Mal besonders große Aufmerksamkeit erhält, verdankt sich der derzeit noch andauernden Katastrophe im AKW Fukushima. Da deren Folgen unabsehbar sind, hoffen die einen, die derzeitige nukleare Katastrophe werde »nicht so schlimm wie Tschernobyl«. Andere befürchten, die Folgen des Unfalls in Fukushima könnten »noch schlimmer als Tschernobyl« sein. Doch wie gravierend waren die Auswirkungen der Reaktor-Katastrophe in der Ukraine wirklich? Bis heute schwanken die Angaben über die Zahl der Todesopfer der Tschernobyl-Katastrophe und gehen weit auseinander. Die Jungle World sprach mit dem russischen Strahlenbiologen und prominenten Umweltschützer Alexej Jablokov, der sich mit den gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe beschäftigt.

Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) spricht von 56 Menschen, die in Tschernobyl einem unmittelbaren Strahlentod erlagen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt insgesamt 9 000 Opfer der Katastrophe an. Die Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) gehen von weitaus mehr Opfern aus. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Einschätzungen?
Die Zählweise des unter der Ägide von WHO und IAEA stehenden »Tschernobyl-Forums«, das von 9 000 Todesfällen durch Krebserkrankungen innerhalb von 80 Jahren ausgeht, basiert erstens auf der Anwendung eines inkorrekten Erkrankungskoeffizienten. Zweitens finden dabei nur Krebserkrankungen Berücksichtigung. Drittens beziehen sich diese Angaben nur auf Weißrussland, die Ukraine und den europäischen Teil Russlands, auf die lediglich 43 Prozent der Radio­nuklide aus Tschernobyl niedergegangen sind.
Worauf beziehen Sie sich selbst bei Ihren eigenen Rechenanalysen, und wie hoch liegen die von Ihnen ermittelten Opferzahlen?
Bei meinen Berechnungen vergleiche ich die Sterblichkeitsrate in Regionen, die ähnliche ökonomische, geographische, soziale und weitere Merkmale aufweisen und sich lediglich durch unterschiedliche Niveaus der Strahlenbelastung unterscheiden. Legt man dabei alle Krankheiten zugrunde, die auf die Katastrophe von Tschernobyl zurückzuführen sind, so kommt man zu der Annahme, dass allein innerhalb der ersten 20 Jahre nach dem Gau weltweit etwa eine Million Menschen an dessen Folgen gestorben sind.
Sind die auf diese Weise ermittelten Zahlen zuverlässig?
Ein derartiger Vergleich bietet sicherlich keine besonders genauen Angaben. Er schließt die aus verstrahlten Gebieten evakuierte Bevölkerung aus und vernachlässigt den Umstand, dass praktisch die gesamte Nordhalbkugel der Erde mit bestimmten Mengen an Radionukliden verseucht wurde. Außerdem wird ausgeblendet, dass die unterschiedlichen Regionen womöglich mit einer verschiedenartigen Zusammensetzung des radioaktiven Fallouts konfrontiert waren. Die Berechnungen werden nur anhand der Strahlenbelastung durch Cäsium 137 angestellt. Aber dieser Vergleich enthält immer noch weniger spekulative Annahmen und unüberprüfbare Merkmale als eine Schätzung, die sich an der nur ungenau zu ermittelnden Strahlendosis orientiert und dann den offiziell anerkannten und bewusst herabgesetzten Erkrankungskoeffizienten für die angenommene Strahlendosis heranzieht.
Da Sie von einem bewusst herabgesetzten Erkrankungskoeffizienten sprechen: Im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima wird derzeit viel darüber gesprochen, dass die WHO eine Vereinbarung mit der ebenfalls zu den Vereinten Nationen gehörigen IAEA habe, die die WHO dazu verpflichte, den Einfluss radioaktiver Strahlen auf die Gesundheit geringer anzugeben, als er tatsächlich sei.
Dieses Abkommen wurde von der Generalversammlung der WHO im Mai 1959 angenommen. Ich kann Ihnen gerne zwei Passagen daraus zitieren: »Immer, wenn eine Organisation die Initiative eines Programms oder einer Aktivität zu einem Thema anregt, welches erhebliche Interessen der anderen Organisation berührt oder berühren kann, ist die initiierende Partei dazu aufgerufen, Konsultation mit der anderen Seite zu führen, mit dem Ziel, die Angelegenheit in gegenseitigem Einvernehmen zu regulieren«, heißt es dort. Weiter heißt es, die WHO und die IAEA erkennen an, »dass es notwendig sein kann, res­­trik­tive Maßnahmen zu treffen, um den vertraulichen Charakter untereinander ausgetauschter In­formationen zu wahren. Sie kommen daher überein, dass es nicht als Pflicht angesehen werden kann, solche Informationen weiterzureichen, wenn nach dem Ermessen der Seite, die im Besitz dieser Informationen ist, der ordnungsgemäße Ablauf ihrer Tätigkeit gestört würde.« Mit anderen Worten: Die WHO ist zur Zurückhaltung von Datenmaterial im Interesse der IAEA verpflichtet.
Vor dem Hauptquartier der WHO in Genf demonstrieren bereits seit vier Jahren ohne Unterbrechung von morgens bis abends an jedem Werktag zwei bis vier Personen aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Italien und anderen Ländern mit Plakaten, auf denen geschrieben steht: »Denkt an den Eid des Hippokrates«, »Sagt die Wahrheit über Tschernobyl«, »Setzt das schändliche Abkommen außer Kraft«. Ich habe einmal an dieser Kundgebung teilgenommen und will das wieder tun.
Im deutschen Wikipedia-Eintrag zu Tschernobyl heißt es, die Katastrophe habe vor allem mentale und psychosoziale Auswirkungen. Auch viele russische Experten sagen, Krankheiten entstünden vor allem durch die Angst vor möglichen Strahlenfolgen und weniger aufgrund der Strahlung selbst. Auch die Vereinten Nationen (UN) vertreten diesen Standpunkt. Bedeutet das, dass die von der Strahlung ausgehende Gefahr für Menschen höher ist, wenn sie über sie Bescheid wissen, als wenn sie nichts von ihr wüssten?
Das ist alles viel schwieriger und einfacher zugleich. Die Atomlobby und offizielle Stellen beharren darauf, dass die hohe Erkrankungsrate in den verstrahlten Gebieten auf Radiophobie, also Angst vor Strahlung, zurückzuführen sei. Doch zeigen Soziologen in ihren Untersuchungen, dass deren Verbreitung eindeutig rückläufig ist, die Erkrankungshäufigkeit aber zunimmt! Die Menschen können ja auch nicht dauerhaft in einem Angstzustand leben. Und von welcher Strahlenangst kann im Übrigen bei Fröschen, Feldmäusen, Vögeln und Fischen in den verseuchten Gebieten die Rede sein, deren Gesundheit die gleichen Schädigungen wie die der Menschen aufweist? Frösche sind nicht radiophob, aber sie erkranken trotzdem. Selbstverständlich wirkt sich das Gefühl, als unschuldiges Opfer vom Staat im Stich gelassen und zu einer Existenz unter gefährlichen Bedingungen verdammt worden zu sein, negativ auf die Gesundheit aus. Aber der Hauptgrund für Erkrankungen bleibt dennoch der unsichtbare Strahleneinfluss.
Die Menge der nach Tschernobyl pro Einwohner niedergegangenen Radionuklide war in Norwegen um einiges höher als in Rumänien. Aber in Rumänien wurden im Unterschied zu Norwegen keinerlei Maßnahmen gegen die Strahlengefährdung ergriffen. Die Strahlendosis, die die Bevölkerung abbekam, lag in Norwegen deshalb unter der in Rumänien.
Wie sieht die Situation in den verstrahlten Gebieten heute aus? Ist die lokale Bevölkerung nach wie vor Gefahren ausgesetzt?
Alle Prognosen gingen davon aus, dass die Ökosysteme sich innerhalb weniger Jahre von den Radionukliden selbst reinigen würden – wegen der Halbwertszeit der Radionuklide und weil man dachte, die langlebigen Radionuklide würden in tiefere Bodenschichten einsickern. Doch hat sich gezeigt, dass die Radionuklide beim Absinken in den Boden in tiefere Wurzelschichten eindringen und durch das Pflanzenwachstum erneut an die Bodenoberfläche getragen werden. Bis heute bleibt die Konzentration von Radionukliden im Fleisch von Elchen in Schweden etwa auf dem gleichen Niveau wie vor 20 Jahren. Bis vor kurzem kaufte der britische Staat die Schafe von Hunderten Schafzüchtern in den nach dem Tschernobyl-Gau besonders verstrahlten Gebieten Schottlands auf und ließ diese Tiere vernichten, weil ihr Fleisch die zulässigen Mengen an Radionukliden überschritt. In Süddeutschland erhielten im vergangenen Jahr Jäger, die radioaktiv verseuchtes Wild erlegten, dessen Fleisch durch seinen hohen Cäsium-137-Gehalt eine Gefahr darstellt, insgesamt mehrere hunderttausend Euro an Kompensationsleistungen. Weitläufige Gebiete in Weißrussland, der Ukraine, Russland, Deutschland, Schweden, Norwegen und Großbritannien bleiben noch viele Jahrzehnte hochverstrahlt.
Lassen sich nach der Havarie im AKW »Fukushima 1« anhand der offen zugänglichen Daten bereits Schlüsse über die Folgen für die Bevölkerung und die Biosphäre ziehen?
Um über die Folgen für die Biosphäre zu sprechen, ist es noch zu früh, da bislang unklar ist, in welchem Umfang Radionuklide an welchen Orten niedergehen werden. Klar ist bislang, dass der westliche Teil des Pazifik spürbar radioaktiv verseucht ist. Die gesundheitlichen Folgen lassen sich etwas klarer abschätzen: Es gibt dazu Berechnungen, die sich auf das Risikomodell des Europäischen Komitees für Strahlenrisiken (ECRR) beziehen. Ausgehend von den vor einer Woche gemessenen Strahlenbelastungen gehen diese Berechnungen davon aus, dass innerhalb der kommenden 50 Jahre zusätzlich zu den Erkrankungen unter normalen Verhältnissen vermutlich etwa 400 000 Krebsfälle im Radius von 200 Kilometern um das AKW »Fukushima 1« auftreten werden. Eine besondere Gefahr besteht darin, dass sich im dritten Block von Fukushima aus einem Uran-Plutonium-Gemisch hergestellte Mox-Brennelemente befinden. Die Verseuchung des Gebietes kann sich dadurch ewig hinziehen – zumindest auf mehrere tausend Jahre.