Die Grünen und der bürgerliche Konservatismus

Konservatismus mit menschlichem Antlitz

Die Zeit der Technokraten ist vorerst abgelaufen. In Baden-Württemberg hat das Bedürfnis des Bildungsbürgertums nach Sinnstiftung den Grünen zum Wahlerfolg verholfen, sie sind die legitimen Erben des bürgerlichen Konservatismus.

Der Machtwechsel in Baden-Württemberg – nach fast sechs Jahrzehnten ununterbrochener Regierung der CDU – wird als historische Zäsur gewertet. In einzelnen Wahlkreisen wie Stuttgart und Tübingen wurden die Grünen sogar stärkste Partei. Dabei soll gerade in Schwaben, wo Pietismus und Maschinenbau das Leben bestimmen, das »industrielle Herz« der Exportnation Deutschland liegen. Überhaupt gilt Baden-Württemberg als das Stammland des bundesrepublikanischen Konservatismus. Wird nun das Wertesystem der deutschen Nachkriegsordnung von einem grünen Ministerpräsidenten in seinen Grundfesten erschüttert?
Auch wenn die Behauptung vom Stammland nur bedingt zutrifft – das katholische Rheinland könnte die gleiche historische Bedeutung für sich beanspruchen –, so bedeutet der Wechsel zu einer grün-roten Regierungskoalition zweifellos etwas unerhört Neues im Süd-Westen. Aber er zeugt wohl kaum von einem tiefgreifenden Wechsel der politischen Mentalität. Das Neue besteht vielmehr darin, dass eine bürgerliche Landesregierung aus Gründen stürzte, die ihr eigentlich den Machterhalt hätten sichern müssen. Das Scheitern von Stefan Mappus (CDU) zeugt von der Entfremdung der bürgerlichen Rechtsparteien von ihren traditionellen Milieus. Hier tritt das Dilemma der politischen Rechten zutage: Die Einheit von konservativer Kultur und ihrer Politik besteht nicht mehr. Stattdessen gibt es jetzt die Grünen.

Mit einem Mangel an rechten Stimmen lässt sich die Niederlage nicht begründen. Die Wahlbeteiligung war relativ hoch und die etwa zehn Prozent der Wählerstimmen, die noch in den neunziger Jahren in Baden-Württemberg verlässlich für die Republikaner abfielen, hat die CDU längst wieder absorbiert. Auch der gemäßigten Politik der Bundespartei kann man nicht allein die Verantwortung zuschieben. Mappus war einer der letzten Unionspolitiker, dem der rechte Flügel seiner Partei noch Vertrauen entgegenbrachte. Eigentlich hatte man sich aus dem Südwesten die Zurückdrängung des pragmatischen Liberalismus von Angela Merkel versprochen. Doch nun ist der Hoffnungsträger der Hardliner in Stuttgart gescheitert, zuvor wurde schon Christoph Ahlhaus, der andere Exponent des rechten Unionsflügels und ein Export der baden-württembergischen CDU, in Hamburg abgewählt.
Damit scheint das seit Jahrzehnten bewährte Erfolgskonzept der Südwest-CDU vorerst an sein Ende gekommen zu sein. Sein Hauptmerkmal, die vollständige Verflechtung konservativer Politik mit der Wirtschaft, war ein Paradebeispiel für die »Technokratiethese«, in der nach Martin Greiffenhagens klassischer Studie über den deutschen Konservatismus alle Hoffnungen des Nachkriegskonservatismus lagen: An die Stelle einer traditionellen Weltanschauung war ein stabiles Indus­triesystem getreten, dessen »Sachzwänge« im Prinzip jede Diskussion überflüssig machten. Von nun an ohne Mythos, aber mit einer prosperierenden Wirtschaft ausgestattet, wurde dieses Modell mehr als ein halbes Jahrhundert lang zum Schlüssel der CDU-Politik. Sein Bestand wurde im Wahlkampf beschworen, als drohe bei einer Niederlage die Enteignung von Daimler, Porsche und SAP.
Doch nicht zuletzt wegen dieser politisch-industriellen Synthese stieß das baden-württembergische Ideal des widerspruchsfreien Durchregierens an seine Grenzen. Greiffenhagen prognostizierte schon 1986 nicht nur, dass der technokratische Kompromiss sich seinem Ende nähere, sondern gab auch bereits einen Hinweis, wer die Technokraten beerben könnte: »Das politische Spektrum der Grünen zeigt Möglichkeiten ideologischer Brückenschläge und Koalitionen, die man noch vor einem Jahrzehnt für undenkbar gehalten hätte.« Ein Vierteljahrhundert später bestätigte sich diese Analyse nun im grünen Triumph.

Die Ursache dafür ist eher in langfristigen gesellschaftlichen Prozessen als einer kurzfristigen Reaktion auf den Atomunfall in Japan zu suchen. Sie liegt in der nie vollzogenen Aussöhnung des Bürgertums mit der industriellen Moderne, deren Zufallsprodukt die Energiepolitik ist. Denn die konservative Reaktion auf den rapiden gesellschaftlichen Wandel in der Bundesrepublik war nach Ansicht von Greiffenhagen die Trennung von Kultur- und Industriesystem. Das bedeutete den Abschied von der Illusion, die Ökonomie sei der konservativen Weltsicht subsumierbar. Die traditionelle bürgerliche Sinngebung erfuhr ihre Umkehr: Nicht mehr der erwirtschaftete Reichtum sollte die Grundlage für die Kultur sein, sondern die Kultur wurde nun umfassend in den Dienst der Ökonomie gestellt. Dieser Vorgang prägt die bürgerliche Kultur allgemein, seine Verdrängung gelang hier jedoch besonders gut und wurde zum Kern des baden-württembergischen Erfolgsmodells.
Doch eben dieser Erfolg musste über kurz oder lang das Fundament des Kompromisses untergraben. Schon der im Studienzentrum Weikersheim versammelte rechte Rand des CDU-Landesverbands lehnte sich seit seiner Gründung gegen die sukzessive Preisgabe des ideologischen Fundaments  – nicht gegen die Wirtschaftspolitik  – auf. Der oberste Stratege des Studienzentrums, Günter Rohrmoser, hielt die immer weniger mit ideologischem Beiwerk wie Tradition und Nation kaschierte Wirtschaftspolitik seiner Partei für geradezu »vulgärmarxistisch«. Das Aufbäumen des Weikersheimer Narrensaumes mag für die Union noch tragbar gewesen sein, sie trennte sich schließlich nie wirklich von ihm.
Doch auch eine andere, wesentlich wichtigere Gruppe entfremdete sich von der Partei: das vor allem auf eine metahistorische Sinnstiftung angewiesene Bildungsbürgertum. Als tragende Schicht des klassischen Konservatismus bot ihm die ökonomisch-technokratische Politik der CDU in Baden-Württemberg kein ausreichendes Identitätsangebot mehr. An kaum einem Konflikt war das so deutlich zu sehen wie am Streit um »Stuttgart 21«. Während die Partei die Änderung im großen Stile durchsetzen wollte, kämpfte man auf der Straße darum, Altes zu bewahren. Die bürgerliche Moral stritt plötzlich gegen die Ökonomie. Dieser Widerspruch hat schließlich das politische Gefüge durcheinandergebracht. Die bürgerliche Moral war nicht länger zu Kompromissen bereit und forderte nun von der Ökonomie, wieder in ihr Recht gesetzt zu werden. Mappus reagierte als Technokrat, der eine Diskussion über die vermeintlichen Fakten nicht mehr als notwendig erachtete – und schickte die Wasserwerfer. Bereits dieser Fehler verschaffte dem grünen Kandidaten Winfried Kretschmann Sympathien. Da Mappus unter dem Jubel der Parteirechten auch den Rammbock der Atomwirtschaft gegeben hatte, besiegelte die Katastrophe in Fukushima schließlich sein Ende.
Die CDU hätte die Entwicklung vorausahnen können. Diese hatte sich früh angekündigt: Schon 1975, als in Wyhl am Kaiserstuhl eine Allianz aus einer modernisierungsskeptischen Landbevölkerung und Umweltschützern gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks protestierte, fiel dem damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger nichts anderes ein, als gegen eine Verschwörung von »Kommunisten« zu wettern. Das war eine immense Fehleinschätzung: Bei den aufsässigen Elementen handelte es sich auch um bodenständige Weinbauern in Südbaden. Das anschließende Scheitern des Großprojekts gehört zur Vorgeschichte der Grünen, deren Gründungsparteitag schließlich 1980 in Karlsruhe stattfand. Wie wenig lernfähig die rechten Hardliner sind, zeigte sich in der Wiederholung dieses Dramas bei der Auseinandersetzung um »Stuttgart 21«: Auch Filbingers Enkeln bei der Jungen Freiheit fiel zu den Protesten nichts weiter ein, als zu behaupten, sie seien »linksextremistisch« gesteuert.

Dass Jungwähler in Baden-Württemberg nun nicht die SPD, sondern vor allem die Grünen wählten, verdeutlicht nur, dass diese die legitimen Erben des bürgerlichen Konservatismus sind. Sie sind die letzten, die noch an den Primat der Weltanschauung vor der Wirtschaft glauben, ohne dabei wie die Linkspartei bisweilen die Systemfrage zu stellen. Ob Kretschmann, dessen Wunschpartner für eine Regierungskoalition vor dem Streit um »Stuttgart 21« eigentlich die CDU war, tatsächlich der Schrecken des »Mittelstands« sein wird, wie nun die Union mahnt, muss sich noch erweisen. Doch auf jeden Fall wirkt er bodenständiger und heimatverbundener als Mappus. Selbst Dieter Stein, der Chefredakteur der Jungen Freiheit, für den die Politik der Grünen bis zum heutigen Tag den Inbegriff des Vaterlandsverrats darstellt, räumt in der aktuellen Ausgabe ein: »Der grüne Ministerpräsident in spe, Winfried Kretschmann, versammelt als Katholik, verheirateter Vater von drei Kindern und Mitglied eines Schützenvereins indes sämtliche Attribute, die angesichts der verbreiteten Libertinage bei Unions- und FDP-Spitzen schon fast reaktionär anmuten.« Damit dürfte sich der Mangel an Sinnstiftung, den der technokratische Kompromiss verursacht hatte, vorerst wieder mildern lassen.
Getreu der Dialektik des Machterhalts, die der italienische Schriftsteller Tomasi di Lampedusa formulierte, gilt: Manchmal muss sich eben etwas ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Doch immerhin wird – und das ist das eigentlich Neue – mit einem grünen Ministerpräsidenten erstmals ein »Konservatismus mit menschlichem Antlitz« möglich, schließlich könnte sich der grüne Sieger langfristig als der behutsamere Modernisierer erweisen.