Die Bundesregierung schafft sich ab

Schwarz-gelbe Passionsspiele

Die Regierungskoalition ist am Ende, aber aufgeben kann sie nicht. Ihr zäher und ­sicher noch lange währender Abgesang ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Und doch wird man sich diese Regierung noch einmal zurückwünschen.

Es ist ja ein bisschen wie die Sache mit dem Osterhasen. Obwohl dem Kind schon lange klar ist, dass es den gar nicht gibt, halten alle eifrig an der Geschichte fest. Die Eltern lassen sich tunlichst nicht erwischen, wenn sie die Eier im Garten verstecken, und das Kind steigt drauf ein, einerseits, weil es ahnt, dass klugscheißerisches Dozieren über die Nichtexistenz eines Geschenke austragenden Hasen für einen unschönen Verlauf des weiteren Sonntags sorgen würde, und vielleicht auch, weil es doch ein kleines bisschen wider alle Vernunft gerne daran glauben möchte.
Positiv gedeutet also: Die Bundesregierung war einfach nur elterlich besorgt um uns, als sie uns erzählt hat, dass durch die Reaktorkatastrophe von Fukushima ein Umdenken bei ihr eingesetzt habe. Diese völlig überraschende Erkenntnis, dass so ein Reaktor ja wirklich, ganz in echt kaputtgehen kann, dass das gar nicht nur Folk­lore der Anti-AKW-Bewegung war – wer hätte das denn auch ahnen können? Wo doch mehrere Verantwortliche der Energiewirtschaft ganz fest versprochen hatten, dass unsere Atomkraftwerke gar nichts tun, die wollen doch nur spielen. Weil jetzt also die revolutionäre Erkenntnis auf dem Tisch liegt, dass Technik auch mal kaputtgehen kann, haben sich unsere verantwortungsbewussten Eltern, als wir schon im Bettchen lagen und träumten, zusammengesetzt und überlegt, dass das jetzt doch viel zu gefährlich sei mit der Atomkraft, also stellen sie die Dinger eben ab. Weil sie es einsehen, natürlich.
Natürlich, dachten wir da am nächsten Morgen, als wir überrascht aufwachten, natürlich. Eine neue Lage. Natürlich, da muss man schließlich neu nachdenken und reagieren. Das hat selbstverständlich nichts mit Wahlkampf zu tun, da geht es nur um die Sache. Und dann kommt dieser Rainer Brüderle und sagt: Ätsch, es gibt gar keinen Osterhasen!
Unter den zahlreichen Wendungen, Skandalen und Ungeschicklichkeiten, mit denen Schwarz-Gelb das Land nun schon seit über einem Jahr in stetes Staunen versetzt, war die Brüderle-Affäre die bizarrste. Großes Entsetzen, weil da jemand einfach so die Wahrheit gesagt hat. Eine Wahrheit, die jedem vollständig klar war. Selbst der treudoofste CDU-Wähler, selbst der allerdöseligste Liberale wird nicht im Traum daran geglaubt haben, die Atomwende habe irgendetwas mit einer »Neubewertung« der Risiken der Nukleartechnik zu tun. Neubewertet wurde einzig der Widerstand in der Bevölkerung. Dabei wäre das ja nicht mal das Dümmste, was in einer Demokratie passieren könnte, dass die Politiker auf die Bevölkerung hören.
Aber das darf natürlich nicht sein, und deshalb erklärt ein sichtlich angesäuerter Stefan Mappus, an dessen Namen sich, so viel Gerechtigkeit herrscht dann ja doch, in einem halben Jahr schon niemand mehr erinnern wird, er werde sich persönlich bei Brüderle dafür bedanken. Genau der Mappus, der noch vor ein paar Monaten gar nicht genug von der Atomkraft bekommen konnte und seinen Parteikollegen Norbert Röttgen, der sich immerhin einen Hauch Realitäts­bezug erhalten hatte, zum Rücktritt aufforderte, so sehr sei dessen Eintritt gegen verlängerte Laufzeiten gegen die Interessen der Partei, fand Mappus. Eben jener Mappus, der dann nach der Atomkatastrophe von Fukushima plötzlich genau diese Laufzeitverlängerung viel zu gefährlich fand und nun also aus innerstem Herzen für mehr Sicherheit plädierte.
Ein jämmerlicheres Schauspiel wurde selten geboten in der jüngeren Politikgeschichte. Dass immer noch 39 Prozent der Baden-Württemberger diese politische Molluske wählten und dass es letztlich nur ein paar Stimmen waren, die verhindert haben, dass dort wieder Schwarz-Gelb regiert, bedeutet keine politische Revolution, wie uns jetzt überall weisgemacht werden soll, sondern zeigt nur, wie erschreckend viele Menschen in Deutsch-Südwest immer noch jeden Sandsack wählen, wenn nur »CDU« draufsteht.

Das würdelose Gewinde dieser Partei ist aber nur die eine Hälfte des Elends. Über die andere mag man ja aus einem Restempfinden sportlicher Fairness gar nichts mehr sagen. Nur wer ein Herz aus Stein hat, kann jetzt noch auf die FDP einschlagen. Man soll aus dem Sattel steigen, wenn das Pferd tot ist. Sich gar auf ein weitgehend verwestes Skelett zu setzen, das selbst die Geier mit dem Bürzel nicht mehr angucken mögen, ist pietätlos. Dabei ist das Ende der FDP hoch tragisch. Wie soll unsere Jugend sich sozialisieren, wenn sie kein klares Feindbild mehr hat? Wenn sie nicht mehr weiß, wer die Bösen sind? Junge Menschen brauchen doch eine klare Orientierung!
Es ist ein Jammer. Und so sehr man der FDP reinen Herzens immer alles erdenklich Schlechte wünschen durfte – dass sie sich mal nachsagen lassen muss: »Das genau ist das Dilemma des politischen Liberalismus in Deutschland: Er bringt Krawallschachteln, Windbeutel und Geschaftlhuber hervor«, und zwar von einem Krawallschachtler, Windbeutel und Geschaftlhuber wie Thomas Schmid von der Welt, das gönnt man ja dem ärgsten Feinde nicht. Nein, das haben die Liberalen nicht verdient. Dass diese seit Jahrzehnten von ideologischen Brennstäben angetriebene Partei nun ihrem eigenen Generalsekretär zuhören muss, der einen noch schnelleren Ausstieg als die Grünen fordert.
Dabei wäre doch gerade jetzt die Gelegenheit, sich mal wirklich mit einer originellen Meinung zu profilieren. Wo sind sie hin, die FDP-Politiker, die gerade angesichts der Katastrophe von Fukushima einen raschen Ausbau der Atomenergie fordern? Da man ja sieht, dass die älteren Reaktoren eben doch so ihre Tücken haben, weshalb man eben ganz fix ganz viele neue bauen muss? Die FDP könnte als Lehre aus Japan zudem dafür plädieren, die neuen Atomkraftwerke allesamt in Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern zu errichten. Wenn dann doch mal was schiefgeht, muss man nicht mal groß jemanden evakuieren oder bedauern, dass eine 50-Kilometer-Zone unbewohnbar würde. Der Zustand ist dort ja längst erreicht.

Das hätte man von der FDP doch wohl erwarten dürfen! Aber nein, dasselbe Gerede von den »neuen Erkenntnissen« und der »veränderten Sicherheitslage« wie bei der CDU. Hätte ihr inzwischen abgelaufener Vorsitzender Guido Westerwelle, der jetzt langsam heruntergefahren wird, einen Rest Würde aufgebracht, er wäre bei seiner Kondolenzreise in Japan gleich dort geblieben und hätte sich als Freiwilliger für den Notfalleinsatz in Fukushima gemeldet, die brauchen dort dringend noch Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Und die glauben, dass das alles so schlimm schon nicht sei mit dieser Strahlung. Stattdessen führt er nun also als Liquidator die rauchende Atomruine seiner Partei in ihren wohlverdienten Sarkophag.

So wird die Selbstauflösung der Regierung wohl bei den nächsten Landtagswahlen in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin weitergehen. Die FDP darf vermutlich nirgendwo mitregieren, sofern sie es überhaupt irgendwo ins Parlament schafft, und hat beste Chancen, in Mecklenburg-Vorpommern noch hinter die NPD auf Platz Sechs zurückzufallen. In Berlin werden möglicherweise wie in Baden-Württemberg die Grünen auf dem Chefsessel Platz nehmen.
Denn während die Bundesregierung noch überlegt, welche ihrer Diktatorenfreunde sie ab wie vielen Getöteten der jeweils eigenen Bevölkerung möglicherweise mit noch mehr kritischem Dialog bedrohen soll, haben die Grünen in der Hauptstadt den Kampf gegen einen weiteren Tyrannen längst aufgenommen: Bernhard Blaszkiewitz, den Eisbären-Gaddafi vom Berliner Zoo. Die Bevölkerung rebelliert längst gegen ihn (siehe Seite 17), weil der Zoo-Direktor den verstorbenen Knut ausstopfen und ins Naturkundemuseum stellen lassen will. Ein Verbrechen gegen die Menschheit bzw. weit schlimmer noch: gegen die Eisbärheit, findet Claudia Hämmerling, Mitglied des Abgeordnetenhauses, sowie Sprecherin der Grünen für Tierschutz und Verkehr: »Knut sollte seine letzte Ruhe auf dem Friedhof des Berliner Tierheims finden.«
Das, und der grüne Furor um »Stuttgart 21«, sollte Blaszkiewitz eine Warnung sein. Denn anders als die gegenwärtige weicheierige Bundes­regierung verstehen die Grünen bei der Durchsetzung ihrer Interessen bekanntlich keinen Spaß und schicken zur Not auch mal Jagdbomber zu diesem Zweck los. Wenn die Öko-Partei erst mal an der Macht ist, werden sich manche noch sehnsüchtig an die schwarz-gelben Zeiten zurücker­innern. Und ganz gewiss nicht nur Muammar al-Gaddafi.
Muss es so kommen? Vielleicht nicht – wenn die CDU sich nur zu einem mutigen Schritt entschließen könnte und endlich einen Spitzenkandidaten aufstellte, der wirklich Charisma hat, populär sowie standhaft ist und den Grünen auch intellektuell die Stirn bieten könnte. Nach derzeitiger Lage käme dafür im Regierungslager wohl nur einer in Betracht: der ausgestopfte Knut.