Sind deutsche AKW erdbebensicher?

Nicht jedes Beben steht im Katalog

Die Atomkraftwerke in Deutschland gelten als erdbebensicher. Doch neuere Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass das Risiko unterschätzt wird.

Als einen »Einschnitt für die Welt« bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Atomkatas­trophe in Fukushima, der EU-Energiekommissar Günther Oettinger sah die »Apokalypse« nahen, und selbst der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, im vorigen Jahr noch ein eifriger Befürworter längerer Laufzeiten für Atomkraftwerke, wollte die ältesten Reaktoren so schnell wie möglich abschalten. Dabei hat sich an der Sicherheit der deutschen Reaktoren nichts geändert.
Dass Ereignisse eintreten können, für die ein Atomkraftwerk nicht ausgerüstet ist, war auch zuvor bekannt. Dies wird etwas verharmlosend als »Restrisiko« bezeichnet. Die Katastrophe ist unwahrscheinlich, aber sie kann eintreten, zumal sich immer wieder herausstellt, dass Risiken falsch eingeschätzt wurden. Abgesehen von dem Entschluss, auf die Ängste der Wähler Rücksicht zu nehmen, besteht die »Zäsur«, von der Merkel sprach, eher darin, dass sich nun auch unter Politikern von CDU/CSU und FDP herumspricht, dass es zu einer Kernschmelze kommen kann, die dem »Standort Deutschland« nicht zuträglich wäre.
Wie hoch das Erdbebenrisiko ist, kann leider nicht mit einer handlichen Zahl angegeben werden. »Man darf dabei auch nicht vergessen, dass es um viele Anlagen geht, die alle ein anderes Unfallrisiko haben«, sagte Sven Dokter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) der Jungle World.
Wie wird in Deutschland das Erdbebenrisiko ermittelt und mit welchen Erdbebenstärken müssen wir rechnen? Zum Glück sind heftige Beben wie derzeit in Japan in Mitteleuropa genauso wenig zu erwarten wie ein Tsunami. Die stärksten Beben treten vor allem in zwei plattentektonischen Regimes auf: an Seitenverschiebungen, bei denen zwei Krustenblöcke aneinander vorbeigleiten (z. B. in Kalifornien, Alaska, Neuseeland und der Türkei), und an Subduktionszonen, in denen eine ozeanische Kruste unter einen Kontinent oder unter eine andere ozeanische Kruste abtaucht (z. B. in Japan, den Anden und Italien).
Innerhalb der großen Lithosphärenplatten gibt es ebenfalls Spannungen und Verformungen, allerdings in wesentlich geringerem Ausmaß. Nördlich der Alpen ist die stärkste Seismik an tektonische Gräben gebunden, die durch Dehnung entstehen. Dabei sinken Krustenblöcke entlang von Verwerfungen ab, während die Ränder einen verstärkten Auftrieb erfahren und angehoben werden. Das klassische Beispiel ist der Oberrheingraben zwischen Basel und Würzburg. Seine Hauptverwerfungen sind die Ränder von Schwarzwald, Odenwald und Vogesen. Auch das Innere des Grabens ist, unter Sedimenten versteckt, in Krustenblöcke zerlegt, die gegeneinander versetzt werden. Weitere aktive Gräben sind die Niederrheinische Bucht bei Köln, der Hohenzollerngraben auf der Schwäbischen Alb, der Egergraben in Böhmen und der Rhonegraben in Frankreich. Sie alle hängen indirekt mit der Kollision in den Alpen zusammen. Während sich die adriatische Platte in den europäischen Kontinent hineinbohrt, weichen Teile Europas zum Atlantik hin aus.

Abseits der großen Verwerfungen sind Erdbeben sehr selten, können aber auch nicht ausgeschlossen werden. Die Bewegung innerhalb von Salzstöcken, die leichte Hebung in Norddeutschland, die noch immer auf das Abschmelzen der eiszeitlichen Eismassen zurückgeht, und kleine Verwerfungen können ebenfalls ein starkes Beben auslösen.
Der obere Teil der Kruste ist kühl und daher so starr, dass eine Verformung nicht ganz reibungslos abläuft. Durch die Bewegung der Kontinente bauen sich an den Verwerfungen langsam Spannungen auf, bis es plötzlich am Erdbebenherd zu einer ruckartigen Bewegung kommt, weil die Scherfestigung des Gesteins überschritten wurde. Vom Erdbebenherd breiten sich dann unterschiedliche Wellen aus, gefährlich sind die Wellen, die über die Erdoberfläche wandern. Nach einem starken Erdbeben bewegen sich auch andere Abschnitte der Verwerfung, daher folgen Hunderte Nachbeben, die zum Teil eine ähnliche Stärke erreichen.
Die Magnitude ist ein Maß für die im Erdbebenherd freigesetzte Energie. Sie sagt aber noch nichts über die Zerstörungskraft aus, weil die Tiefe des Erdbebenherds und die Entfernung zum Standort sich ebenso auf die Oberflächenwellen auswirken wie die Festigkeit der Gesteine an der Oberfläche. Außerdem ist nicht die Amplitude der Wellen problematisch, entscheidend für das Ausmaß der Zerstörung sind die auftretenden Beschleunigungen, die Frequenz und die Dauer der Erschütterung.
In Deutschland beruht die Risikoabschätzung für Atomkraftwerke auf dem sogenannten Bemessungsbeben. Man sucht in Katalogen das historische Beben aus einem Umkreis von 200 Kilometern, das die größten Auswirkungen am Standort gehabt hätte. Zur Sicherheit wird eine Magnitude addiert, alles Weitere fällt unter das »Restrisiko«. Das Problem ist, dass unsere Kataloge nicht sehr weit in die Vergangenheit reichen. Messinstrumente gibt es erst seit etwa 100 Jahren, für knapp 1 000 Jahre gibt es Aufzeichnungen über starke Beben, die Städte oder Burgen zerstörten. Diese Aufzeichnungen sind jedoch unvollständig und es ist schwer, daraus eine Magnitude abzuschätzen.

An einer Verwerfung können Beben in Abständen von Jahrzehnten, Jahrhunderten, aber auch einigen Jahrtausenden wiederkehren, und leider sind es gerade die stärksten Beben, die in großen Zeitabständen auftreten und daher im Katalog nicht verzeichnet sind. Auch in Japan hatte niemand mit einem so starken Beben gerechnet. »Es ist schlicht eine Illusion, zu glauben, dass man die seismische Gefährdung mit einem einzigen Szenario, durch die Betrachtung der in einem Gebiet aufgetretenen Erdbeben und unter Verwendung eines Sicherheitszuschlages, sicher abschätzen kann«, sagte Frank Scherbaum, Seismologe an der Universität Potsdam, der Jungle World.
Ein weiteres Problem ist, dass sich das Bemessungsbeben innerhalb einer genauer zu definierenden Region wiederholen kann. Daher wird das Land in viele kleine Erdbebengefahrenzonen aufgeteilt, und man nimmt dann an, dass sich das Bemessungsbeben nur innerhalb derselben Zone wiederholt. Je nachdem, wie die Geometrie der Zonen angenommen wird, ergeben sich andere Voraussagen für den Standort.
Der Oberrheingraben ist ein gutes Beispiel. Im Norden, bei Philippsburg und Biblis, finden relativ wenige Beben statt, und die Referenzbeben wie Ludwigsburg 1952 und Lorsch 1871 hatten Magnituden von etwa 5. In der Region von Basel bebt es hingegen häufiger und heftiger. Die Stadt wurde 1356 durch das stärkste historische Beben in Mitteleuropa völlig zerstört, Schweizer Forscher gehen von einer Magnitude von 6,9 aus. Bei Basel treffen die Strukturen des Oberrheingrabens auf die quer dazu verlaufenden Strukturen des Jura und des sogenannten Permokarbon-Trogs.
In deutschen und französischen Gutachten wird daher angenommen, dass starke Beben im übrigen Oberrheingraben nicht zu erwarten sind. Im Fall des französischen Atomkraftwerks Fessenheim heißt es, dass die Grenze der Baseler Risikozone 25 bis 30 Kilometer vom Reaktor entfernt verläuft. Ist diese Annahme gerechtfertigt? Die von der Schweizer Atomindustrie finanzierte Pegasos-Studie gibt eine Wahrscheinlichkeit bis 70 Prozent dafür an, dass sich ein ähnliches Ereignis nicht in Basel, sondern im übrigen Oberrheingraben ereignen könnte – auch in der unmittelbaren Umgebung von Fessenheim, und dafür ist das Kraftwerk eindeutig nicht ausgelegt. In der Region um Philippsburg und Biblis ist die Wahrscheinlichkeit vermutlich geringer.
Weil der deterministische Ansatz so problematisch ist, ging die Pegasos-Studie probabilistisch vor. Man berechnet Wahrscheinlichkeiten, mit denen bestimmte Beschleunigungen in einem Zeitraum von 10 000 Jahren zu erwarten sind. Diese Studien sind sehr aufwendig, dafür bleiben sie nicht bei einem Szenario stehen und erlauben genauere Aussagen. Man überlegt beispielsweise, mit welcher Wahrscheinlichkeit an welcher Stelle im Oberrheingraben mit einer Wiederholung des Baseler Bebens zu rechnen ist, und gibt für die Abschätzung auch noch eine Fehlerbreite an. Unterschiedliche Einschätzungen verschiedener Experten können gleichberechtigt in die Berechnung einfließen.

Man stellte fest, dass an manchen Standorten mit deutlich größeren Beschleunigungen zu rechnen ist, als man angenommen hatte. Ein überraschendes Ergebnis war, dass ein relativ kleines Beben in unmittelbarer Nähe zum Reaktor gefährlicher sein kann als ein entferntes starkes Beben. Man hatte das Risiko also stark unterschätzt, und die Schweizer Betreiber kündigten umgehend eine Nachrüstung ihrer Reaktoren an. Derzeit wird eine Folgestudie erstellt, die das Risiko genauer ermitteln soll, zum Beispiel durch Messungen der Bodenfestigkeit.
In Deutschland empfahl die Reaktor-Sicherheitskommision, die das Umweltministerium berät, bereits 2004, im Regelwerk probabilistische Studien zur Erdbebensicherheit vorzuschreiben. Nach Aussage der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) findet sich dies in der neuen Fassung, die voraussichtlich noch dieses Jahr verabschiedet wird – nach sieben Jahren. Es gebe bereits entsprechende Studien, die der GRS jedoch nicht vorliegen, und es sei denkbar, dass sich für manche Standorte höhere Beschleunigungen ergeben.
Die Befürworter der Atomkraft sprechen bereits wieder von »unseren hohen Sicherheitsstandards« und verweisen darauf, dass hierzulande keine Gefahr durch Tsunamis drohe. Die Erdbebengefährdung ist jedoch größer, als die Betreiber bislang anzunehmen bereit waren, und sie ist nur ein Sicherheitsproblem unter vielen.