gefährlich ist Cybermobbing?

Virtuell hetzen, analog angreifen

Ein Fall von Cybermobbing eskalierte in Berlin in realer Gewalt gegen einen Jugendlichen. Seitdem diskutiert die Politik über Maßnahmen gegen das virtuelle ­Pöbeln, vor allem unter Schülern. Doch wie gefährlich ist Mobbing im Internet wirklich? Der Selbstversuch eines US-amerikanischen Professors zeigte, wie Hetze im Netz enstehen und welche Folge sie haben kann.

Eine gewisse Genervtheit war der Pressemitteilung der Berliner Polizei über einen Vorfall, bei dem im März ein Jugendlicher von 20 Gleichalt­rigen krankenhausreif geprügelt worden war, durchaus anzumerken. Das dürfte am Hintergrund der Gewalttat liegen. Der Junge hatte das fortgesetzte Mobbing beenden wollen, dem seine Freundin im Internet ausgesetzt war. Einen »überwiegend einfältigen Austausch« nannte die Polizei explizit das, was auf der Website ishare­gossip.com über die junge Frau und viele weitere Jugendliche verbreitet wird – und untertrieb damit stark. Denn die persönlichen Angriffe bestehen in aller Regel aus mehr oder weniger orthographisch korrekt geschriebenen Bezeichnungen wie »Fotze«, »Nutte« oder »Schlampe« in Verbindung mit dem Namen der jeweiligen gemobbten Person sowie nicht immer leicht zu erfassenden Beschreibungen sexueller Aktivitäten. Das sind Beleidigungen, wie sie vermutlich schon vor 30, 40 Jahren an mindestens jeder zweiten Toilettentür irgendeiner deutschen Schule gefunden werden konnten. Und auch damals hätte der Versuch einer Klärung vielleicht in einer ausgedehnten Schlägerei geendet, die allerdings kaum zu Schlagzeilen in den überregionalen Medien geführt hätte.

Wäre eine Prügelei, selbst mit einem Schwerverletzten, heutzutage wirklich auch dann Gegenstand aufgeregter Diskussionen gewesen, wenn das Mobbing nicht im Internet stattgefunden hätte? Vermutlich nicht. In Kleinstädten oder Dörfern gehören Mobbing, Ausgrenzung und Rufmord nicht nur für Jugendliche zum Sozialleben – und manchmal endet solch bösartiger Tratsch sogar nicht nur im Krankenhaus, sondern mit Selbstmord, Mord und Totschlag.
Warum von Leuten, die sich nicht scheuen, im wirklichen Leben mehr oder weniger ausgedachten Dreck über andere zu verbreiten, erwartet wird, dass sie sich ausgerechnet im Internet, wo sie sich weitgehend anonym wähnen können, zu toleranten, gelassenen Wesen entwickeln sollen, ist vollkommen unklar.
Wie schnell es sogar in einer Umgebung, in der alle Beteiligten nichts weiter als ihren Spaß haben wollen, zu Ausgrenzung, Mobbing und Gewaltdrohungen kommen kann, hat David Myers, Professor für Medien an der Loyola-University, 2008 im Rahmen einer dreimonatigen Studie erforscht. Myers, der bereits 1984 als erster Wissenschaftler überhaupt Videospiele und ihre Auswirkungen analysierte, begann damit, sich bei den Online-Rollenspielen »City of Heroes« und »City of Villains«, kurz CoH/V, akribisch an die Regeln zu halten. Probleme mit den anderen Usern sollten durch dieses buchstabengetreue Vorgehen nicht entstehen – sollte man meinen. Myers’ Spielcharakter namens »Twixt«, mit dem er schon seit längerer Zeit bei dem Massively Multiplayer Online Game aktiv und zudem ein geschätztes Mitglied der Community war, hielt sich zwar an die Vorgaben des Betreibers, allerdings nicht an die selbstgemachten Verhaltens­regeln der User.
Die aktivsten unter ihnen hatten sich vor langer Zeit nach langwierigen Diskussionen im Forum des Spiels auf einen Verhaltenskodex geeinigt, nach dem bestimmte Handlungen – obwohl sie vom Unternehmen selbst ausdrücklich vorgesehen und nicht mit Strafen belegt sind – als illegal gelten. Solche inoffiziellen Regeln gibt es in jedem Spiel (und auch in jeder Community), Myers wollte wissen, was passiert, wenn fortgesetzt dagegen verstoßen wird.

Sein Fazit, so viel sei vorweggenommen, fiel eindeutig aus: Selbst im »digitalen Fantasyland des 21. Jahrhunderts« zeige sich die »hässliche Seite des menschlichen Charakters aus dem wirklichen Leben«, nämlich eine hemmungslose Bereitschaft, fremde Menschen nur deswegen zu unterdrücken, weil sie sich anders verhalten, als es der Durchschnitt tut.
Als Myers sich nicht mehr an die Regeln der Community hielt, dauerte es nicht lange, bis er vom geachteten Mitspieler zum Außenseiter wurde. Im Forum war man sich schnell einig, dass Twixt nichts im Spiel zu suchen habe, auch wenn man zugab, dass seine Spielweise »legal« sei. Nachdem zahllose Eingaben an die Spielefirma, ihn auszuschließen, erfolglos geblieben waren, lautete das Motto: »Kill him« – man versuchte, den missliebigen User aus dem Game zu vertreiben. Dazu wurden zunächst die Mittel des Spiels benutzt. Myers erwies sich jedoch aufgrund seiner langjährigen Daddel-Praxis als äußerst starker Gegner, so dass rasch feststand: Twixt das Leben durch ständige Angriffe und die daraus für ihn folgenden Niederlagen so dermaßen zur Hölle zu machen, dass er ganz einfach die Lust verlöre, würde nicht funktionieren.
Anstatt nun auf die üblichen Mittel der Konfliktlösung zu setzen, also Gespräche, Diskussionen und zum Schluss vielleicht umfassendes gegenseitiges Ignorieren, verlegte man sich auf die zweite Stufe: Myers wurde im Forum und im Game-Chat verbal attackiert. Da das Beharren auf Regeln, die es offiziell nicht gibt, nur wenig taugt, um jemanden fertigzumachen, griff man ihn persönlich an – oder versuchte es jedenfalls, denn wer Twixt im wirklichen Leben war, wusste die Community natürlich nicht.
Feierte Myers einen Erfolg, folgten Beleidigungen und auf ihn zielende Angriffe, außerdem wünschte man seinen Angehörigen tödliche Krankheiten, in der klaren Absicht, ihm den Aufenthalt im Spiel möglichst unangenehm zu machen. War die Spielweise von Twixt am Anfang noch anderen Usern attraktiv genug erschienen, um sie zumindest gelegentlich zu kopieren, wurden nun auch alle anderen, die auf diese regelkonforme Art versuchten, Erfolge zu erzielen, aus­gegrenzt und angegriffen. Mit eindeutigem Resultat, wie Professor Myers rasch feststellte: Man spielte entweder wieder so, wie es von der Community erwünscht war – oder verließ das Spiel, um woanders weiterzudaddeln. Nur einer wagte es weiterhin, sich der Mehrheitsmeinung zu widersetzen. Twixt aka Myers hatte überdies zwischenzeitlich analysiert, dass die freiwillige Beschränkung auf die allgemein akzeptierten Handlungsweisen für das Spiel durchaus negative Folgen hatte, denn sie führten zu einer drastischen Beschneidung der den Spielern zur Verfügung stehenden Strategien sowie zu gleichförmigeren In-Game-Charakteren. Was objektiv betrachtet eigentlich nichts sein konnte, was sich User wünschen, schließlich leben Rollenspiele wie CoH/V davon, eine möglichst abwechslungsreiche Welt zu bieten.

Für Myers wurde die Situation gleichwohl immer problematischer. Seine Mitspieler beschränkten sich nicht mehr nur darauf, im Forum gegen Twixt zu hetzen, sondern gingen zudem dazu über, ihn im Game-Chat vollzuspammen – und ihn zu bedrohen. Von Computer-Sabotage über die Ankündigung von körperlicher Gewalt sei praktisch alles nur Denkbare vorgekommen, bis hin zum Satz »Wenn du mich noch einmal killlst, dann werde ich kommen und dich in echt umbringen, und das ist kein Scherz«. Um weiterspielen zu können, sei er gezwungen gewesen, den Chat abzuschalten, sagte Myers, wodurch alles noch schwieriger wurde. Denn wäre Twixt kein Experiment, sondern ein wirklicher Spieler gewesen, hätte er dadurch keine Möglichkeit mehr gehabt, am Sozialleben des Spiels teilzunehmen und seine Aktionen zu erklären.
Myers beobachtete, wie seine Figur im Forum nach und nach zum Inbegriff des Bösen wurde – selbst dass er keine offiziellen Regeln verletzte, wurde nicht mehr als Tatsache anerkannt, stattdessen spekulierte man darüber, dass er womöglich »geisteskrank sei, er schreibt genau wie mein schizophrener Onkel«. Und dann fuhr Myers ein paar Tage mit seiner Familie in den Urlaub. Das Fehlen des Hassobjekts Nummer Eins fiel natürlich sofort auf. Ein User startete einen Thread im Forum, in dem es hieß, Twixt sei nach rassis­tischen Ausfällen im Forum aus dem Game entfernt worden. Das sei nicht wahr, erklärte wenig später ein anderer, der verhasste Mitspieler sei in Wirklichkeit ein Pädophiler und verhaftet worden, woraufhin sich eine Gruppe zusammentat, um Name und Adresse des Spielers »Twixt« herauszufinden.
Nachdem klar war, dass sich ein regelrechter Mob gebildet hatte, bat Myers die Betreiberfirma des Games, NC Soft, um Hilfe. Ob und wie das Unternehmen reagierte, ist nicht bekannt, vermutlich wurden einige der User, die besonders ­bedrohliche Postings veröffentlicht hatten, spielintern bestraft. Myers sagte später, als er seine Arbeit »Play and Punishment: The Sad and Curious Case of Twixt« auf einer Games-Konferenz in Kopenhagen vorstellte, dass die Verleumdungen gegen ihn derart weite Kreise gezogen hätten, dass sie schon längst auch auf Foren, die nichts mit City of Heroes/Villains zu tun hatten, übergegriffen hatten.
Während Myers seine Erfahrungen mit denen von Studenten verglich, die sich nicht dem Mainstream anpassen, versuchten einige seiner ehemaligen Mitspieler, das Geschehen zu relativieren. Es sei nicht wahr, dass Kreativität und Originalität in Spielecommunitys wie der von City of Heroes nicht erwünscht seien, erklärte einer. Im Gegenteil: Die Betreiber ermöglichten es den Usern schließlich, phantasievolle Kostüme für ihre Fi­guren zu kreiieren und würden außerdem komplexe Spielgeschichten erfinden. Und außerdem habe niemand den Menschen, der hinter Twixt steckte, angreifen und verletzen wollen.
Was aber vielleicht nur einen Grund hatte: Im Gegensatz zum wirklichen Leben hatte der schließlich keinen Namen und keine Adresse, bei der ein Mob vorbeischauen konnte.