Über das Comic-Festival Fumetto in der Schweiz

Comics, die aus dem Automaten kommen

Das Comic-Festival Fumetto im Schweizerischen Luzern feiert sein 20jähriges Jubiläum und zeigt dabei, dass surreale Wunschmaschinen- und realistische Narrativ-Comics gar nicht so weit auseinander liegen.

Am Mühlenplatz in Luzern, pittoresk und friedlich wie der Rest des Postkartenidyllen-Städtchens am Vierwaldstätter See, steht für die Dauer des sogenannten Comix-Festivals ein orangefarbener Bauwagen: der Illumat. An seiner Rückseite weht die rote Fumetto-Fahne, an der Seite sind drei kleine beschriftete Schlitze angebracht. Ganz oben wirft man eine Münze ein, in der Mitte einen Zettel, auf den man geschrieben hat, was man gezeichnet sehen möchte, ganz unten kommt – nach einem verhaltenen »Bing!« – die fertige Zeichnung heraus. »Der Illustrationsautomat«, heißt es auf den pinken Erklärungszettelchen, die vor dem Bauwagen angebracht sind, »wandelt die Wünsche und Ideen seines Publikums in Bilder um, die überraschen und glücklich machen.« Nachdem man seinen »ganz persönlichen Bilderwunsch« aufgeschrieben hat, wie z.B. »Ideen, persönliche Katastrophen, Porträts, Tagträume und Theorien«, wird prompt geliefert – dabei ist der Automat weder wählerisch in Hinblick auf die Anzahl der eingeworfenen Münzen, noch behandelt er seine Kundinnen und Kunden mit der kalten Indifferenz herkömmlicher Roboter. Denn die Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar, die ihn betreiben und ungesehen in seinem Inneren werken, sind immer mal wieder dumpf als menschliche Stimmen zu hören, und der kleine Junge, der sich in rasender Folge an die zehn Bilder von Piranhas und anderen Ungetümen wünscht, wird anhaltend freundlich bedient. Die Ergebnisse der anonymen Aufträge sind witzige bis träumerische Interpretationen, liebevoll gezeichnet und meist sogar mit bunten Wasserfarben versehen.
Comics als Wunschmaschine – diese Interpretation lässt sich als ein konzeptueller Strang in vielen Arbeiten des Schweizer Festivals ausmachen, das dieses Jahr sein 20jähriges Jubiläum feiert. Die andere große Tendenz, die zu sehen ist und seit einigen Jahren auch in der gutbürgerlichen Kritik positiv aufgenommen wird, ist das realistisch bis autobiographisch erzählende oder gar reportagehafte Zeichnen. Die beiden Ansätze, die sich auch in der Wahl der Medien unterscheiden – narrative Comics bleiben meist dem schwarzen Strich auf weißem Papier verhaftet, Wunschmaschinen-Comics können bis ins Pappmaché, ins Gehäkelte oder in ausufernde, multimaterielle Installationen ausfransen –, sind nur scheinbar disparat. Denn die erzählenden Comics, die meistens dem Genre der »Graphic Novel« zugeschlagen werden können, bedienen sich häufig surrealer Elemente, die den Rahmen des Realismus mit phantastisch-abgründigen Einlassungen sprengen. Und die Wunschmaschinen-Interpretation, die nach wie vor oft mit klischeehaften Vorstellungen vom Comic als »kindischem« Medium in Verbindung gebracht wird, ist in ihrer zeitgenössischen Ausprägung, trotz ihres populären Vokabulars wie knalligen Farben und naiven Kommentaren, weit davon entfernt, nur das Harmlose abzubilden.
So sagt der belgische Comic-Künstler Brecht Vandenbroucke, dessen Werk in der ehemaligen Fabrik Frigorex außerhalb der malerischen Altstadt ausgestellt ist, über seine Arbeiten, es seien lustige Bilder mit traurigem Inhalt, die unter anderem von seinen Panikattacken inspiriert worden seien. In einer Serie von kleinen bunten Acryl-Malereien, die an einen naiven Surrealismus denken lassen, helfen zwei muskelbepackte rosa Riesenwürmer einem Schwarzen, aus dem Gefängnis auszubrechen, nur um ihn dann doch allein zu lassen – und damit auch die Betrachterinnen und Betrachter, die nach dem verwirrenden Fortgang der kafkaesken Story nicht wissen, ob alles imaginiert war oder dem Mann doch schreiendes Unrecht angetan wurde. Auch die drei Künstler, deren Werke in einer unterirdischen Passage am Luzerner Hauptbahnhof in einem endlos langen Betonschlauch zu sehen sind, nutzen die Offenheit des Mediums Comic zwischen Mimesis und Phantastik, zwischen Zweidimensionalität und 3D, um groteske Szenarien zu erstellen. Der Finne Tommi Musturi zeigt gemalte explodierende LSD-Trips, die gegen alle Deutungsversuche undurchdringlich bleiben; Laurent Impeduglia aus Belgien erforscht in seiner popkulturellen Version von Outsider Art die Ikonen des Katholizismus wie des Konsums und gibt dabei absurde Slogans aus wie »Jesus did not wear socks«; und der Schweizer Beni Bischof suhlt sich in einer Meese-artigen Messie-Spaßkunst-Installation zwischen Autowrack und verwüstetem Wohnzimmer, in der es vor zerfetzten Zeitschriften und lustigen gezeichneten und bewegten Bildern nur so wimmelt.
Die in New York lebende Japanerin Misaki Kawai, die vor einigen Jahren mit ihren raumgreifenden Fantasiepopwelten aus Pfeifenputzerfigürchen auf sich aufmerksam machte, verwandelt Räume der Kunsthochschule mit knal­ligen Farben und großen Pappmachéobjekten in einen freundlichen Kindergarten, bei dem irgendetwas nicht stimmt. Ihre Devise »Let’s make things cute, funny and weird« führt dazu, dass in all der buntstiftkrakeligen Niedlichkeit die Realität aus dem Gleichgewicht rutscht: Eigenschaftslose Mangos tauchen immer wieder auf, zwei Mandeln verlieben sich als amorphe »Almond Love«, und ein Mann reitet wacklig auf einem Krokodil.
Dass annähernd naturalistisch gezeichnete Comics das Terrain des Vorstellbaren verlassen (können), dafür ist Daniel Clowes, dem das Fumetto als dem wahrscheinlich wichtigsten zeitgenössischen Independent-Zeichner die diesjährige Stargast-Rolle zugedacht hat, das beste Beispiel. Immer wieder durchbrechen skurrile Wesen und Begebenheiten den Realismus der im Stil der fünfziger Jahre gehaltenen Zeichnungen seiner berühmten Heftreihe »Eightball«, und in metatextuellen Vermischungen treten der Autor oder die Figuren aus dem Comic heraus. Clowes gibt dabei einen Einblick in das weitere Schicksal der Heldinnen der auch verfilmten Female-Coming-of-Age-Serie »Ghost World«: In zwei gegensätzlichen Szenarien fabuliert Clowes über die Schicksale der High-School-Freundinnen Enid und Becky, bis diese ihm mit einer wütenden Reaktion aus einem Panel entgegentreten: »Well, it makes us look like total assholes, so stop it!«
Für weiblich-realistische (Coming-of-Age-)Stories aus der Narrativ-Fraktion ist das Fumetto dieses Jahr aber auch über den Klassiker »Ghost World« hinaus wieder ein lohnendes Pflaster. Die ebenfalls im Frigorex ausgestellte Französin Nine Antico, die gerade mit ihrem Sexindustrie-Comic »Coney Island Baby« Furore macht, ist durch ihre Liebe zur Popkultur geprägt und machte ihre ersten Versuche als Konzertzeichnerin auf Indie-Konzerten, immer mit Stift und Block in der ersten Reihe. In ihrem elegant-farbigen Retrostil interessiert sie sich vor allem für die Erlebniswelten junger Frauen, deren adoleszente Selbstinszenierungen sie mit liebevoller Schärfe begleitet. Kati Rickenbach aus Zürich, deren Werke in einer der zahlreichen Nebenausstellungen in Cafés und Geschäftslokalen zu sehen sind, zeigt Seiten aus ihrem soeben veröffentlichten autobiographischen Comic »Jetzt kommt später«, der ihr Leben als junge Comic­zeichnerin, unter anderem beim Studium in Hamburg, humorvoll erzählt. Ebenfalls in einer der begleitenden Ausstellungen sind Bilder der großartigen Neuentdeckung Aisha Franz aus Kassel untergebracht, die in ihrem gerade erschienenen Erstling »Alien« mit sparsamen Bleistiftstrichen das dröge Leben einer Mutter mit zwei Töchtern in der deutschen Provinz erzählt und dabei Ausflüge in seltsame Traumländer macht, die wieder beweisen, dass Wunschmaschinen- und Erzählcomics an einer Stelle wieder zusammenwachsen: Das (Alb-)Traumhafte generieren können beide.