Ein Besuch bei AKW und Erdbebenspalten in Kalifornien

Es gibt keinen Notfallplan

In Kalifornien hat die Atomkatastrophe in Fukushima nur kurz Angst ausgelöst. Doch das, was Japan derzeit erlebt, könnte auch dort passieren. Denn Kalifornien liegt in einem riesigen Erdbebengebiet und seine zwei AKW wurden in unmittelbarer Nähe seismischer Bruchlinien gebaut. Vor einem Super-Gau fürchten sich hier jedoch die wenigsten.

Der Strand von San Onofre liegt nur wenige Kilometer nördlich von San Diego und ist bei Surfern wegen der dramatischen Klippen und der hohen Wellen des Pazifik beliebt. Wen es in die freie Natur zieht, der kann hier schwimmen, surfen, grillen und campen. Nahe am Ufer stehen Pickup-Trucks und Sonnenschirme, Kinder planschen im Wasser, Hunde holen Stöckchen. Doch über dem Idyll thronen die beiden Reaktorkuppeln des örtlichen Atomkraftwerks, des »San Onofre Nuclear Power Generator« (S.O.N.G.).
Der erste Reaktor ging am 1. Januar 1968 ans Netz, weitere Reaktoren folgten in den Jahren 1974 und 1982. Der älteste noch aktive Atomreaktor ist mittlerweile 37 Jahre alt. In unmittelbarer Nähe befindet sich der Marinestützpunkt Camp Pendleton sowie ein Golfplatz und die teuren Wohnviertel von San Clemente, in denen eine Villa fast eine Million Dollar kostet. Offenbar hat die Nähe zum Kraftwerk dem Immobilienmarkt hier nicht geschadet. Im Gegenteil, man bekommt den Eindruck, die Menschen lieben ihr Kraftwerk.
Ende der sechziger Jahre war es bereits in der Fernsehserie »Batman« zu sehen. Damals musste Batman den Reaktor vor den Kräften der Finsternis schützen.
Jetzt sind es eher die Kräfte der Natur, die den Menschen zu denken geben. Das Beben in Japan löste einen gewaltigen Tsunami aus. Das Atomkraftwerk Fukushima wurde schwer beschädigt, der Tsunami überschwemmte die angeblich so sicheren Schutzwälle und zerstörte die Notgeneratoren, was zu einem Stromausfall führte. Noch immer kämpft man in Fukushima gegen eine Ausweitung der Katastrophe.

Nach der Katastrophe in Japan ordnete Präsident Barack Obama an, eine »umfassende Überprüfung« aller 104 US-amerikanischen Atomreaktoren durchzuführen. Von Abschalten ist keine Rede, denn im Grunde steht Amerika der Atomkraft aufgeschlossen gegenüber. Dennoch stellen für viele Menschen die potentiellen Gefahren dieser Form der Energiegewinnung eine diffuse, kaum greifbare Bedrohung dar. John Radtke, der Direktor des renommierten Programms für Radiologie am Los Angeles City College, teilt die Sorgen der Atomkraftgegner. »Plutonium und Uran werden immer heißer und heißer, so was kühlt sich nicht ab«, erläutert er. »Man kann Strahlung nicht einfach ein- und ausschalten. Cäsium, Strontium, all diese Elemente sind giftig und tödlich.«
Was also, wenn es hier zum Super-Gau käme? Wie ist Kalifornien auf eine eventuelle Katastrophe vorbereitet? Der US-Bundesstaat befindet sich immerhin im Mittelpunkt möglicher Erdbeben und Tsunamis. Dennoch gibt es an der Küste zwei Atomkraftwerke, die insgesamt zwölf Prozent des Stroms in Kalifornien erzeugen. Neben San Onofre, bei San Diego, gibt es in Zentralkalifornien ein zweites Kraftwerk in Diablo Canyon, in der Nähe von San Luis Obispo. Beide AKW liegen direkt am Meer und in unmittelbarer Nähe seismischer Bruchlinien, von denen einige erst vor einigen Jahren entdeckt wurden, nachdem die Anlagen bereits gebaut worden waren.
Viel Besorgnis ruft das hier jedoch nicht hervor. Anti-AKW-Demonstrationen oder Kundgebungen sucht man vergebens. Es ist eine relativ überschaubare Gruppe von Physikern, Seismologen und Politikern, die vor Gefahren warnen. Dabei sind es zwei wesentliche Faktoren, die Fachleuten zu denken geben. Einerseits die seismologische Wahrscheinlichkeit, dass eine Katastrophe eintritt, und zum anderen die Sicherheit der Anlagen und die Bereitschaft Kaliforniens, im Ernstfall angemessen zu reagieren. In beiden Aspekten sind die Ergebnisse ernüchternd.

Nach Angaben von Richard Allen, dem stellvertretenden Direktor des seismologischen Instituts an der University of California in Berkeley, wird es innerhalb der kommenden 30 Jahre mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent zu einem Erdbeben der Stärke 6,7 oder mehr kommen. Immerhin liegt Kalifornien am Rand der Kaskaden-Subduktionszone, in einem gigantischen Erdbebengebiet, das sich über wesentliche Teile der amerikanischen Westküste erstreckt. Ein Beben in nur einer von dessen Bruchlinien könnte einen Dominoeffekt auslösen, der wiederum andere Beben erzeugen würde – genau das, was in Japan passiert ist. Man geht dabei von Werten von 8,0 oder höher aus. Sollte dieses sogenannte Megabeben eintreten, spricht das örtliche Rote Kreuz von einer »Katastrophe eines Ausmaßes, das man hier noch nie erlebt hat«. Denn im Gegensatz zu Japan haben es die USA versäumt, irgendwelche Notfallplanungen vorzunehmen. Immerhin hat die Katastrophe in Fukushima etwas bewegt. Die US-Senatorin Barbara Boxer hält derzeit Anhörungen in Washington ab, um die Sicherheit der Kraftwerke neuen Maßstäben anzupassen. Bei einem Super-Gau in San Onofre wären über sieben Millionen Menschen direkt betroffen.
»Schon 2008 wurde uns ein Bericht vorgelegt«, sagte Boxer bei der Senatsanhörung, »wonach das Kraftwerk in San Onofre heftigeren und häufigeren Erdbeben ausgesetzt sein könnte als beim Bau ursprünglich vorgesehen.« Dem Bericht der California Energy Commission (CEC) zufolge soll das Kraftwerk angeblich Erdbeben der Stärke 7,0 standhalten können. Mehr nicht. Der Schutzwall am Meer ist zehn Meter hoch und damit nur knapp halb so hoch wie die Wellen, die Fukushima trafen.
Zu denen, die deshalb schlaflose Nächte haben, zählt unter anderem State Senator Sam Blakeslee, der in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento den 15. Wahlbezirk vertritt, also die Central Coast. Hier befinden sich San Luis Obispo und die Anlage von Diablo Canyon. Blakeslee ist ein wertkonservativer Republikaner und nicht gerade einer, dem man eine dogmatische Anti-Atomkraft-Gesinnung vorwerfen kann. Aber er ist auch Wissenschaftler, und als Geophysiker hat er seine Doktorarbeit über seismische Streuungen und Bruchlinienabschwächungen geschrieben. Blakeslee hält es für seine Pflicht, »aus den Ereignissen in Japan die notwendigen Lehren zu ziehen«.
So geht er seit der Katastrophe von Fukushima gegen die Atomlobby vor. Die Laufzeiten der beiden Atomkraftwerke in Kalifornien sollen in den Jahren 2022 und 2024 enden, und Blakeslee kämpft gegen die geplante Verlängerung. Im Falle von Diablo Canyon konnte er vor wenigen Wochen einen Teilsieg erzielen. Der Betreiber der Anlage, der staatliche Stromkonzern Pacific Gas & Electric, hat sich nach längerem Hin und Her bereiterklärt, mit dem Antrag auf Verlängerung so lange zu warten, »bis eine zusätzliche seismische Kartierung abgeschlossen ist«, sagt Blakeslee.

Denn schon bei den ersten geologischen Prüfungen vor dem Bau des Kraftwerks wurde geschlampt, und das war keineswegs Zufall. David Weisman, Sprecher der Bürgerinitiative »Alliance for Nuclear Responsibility«, ließ der Jungle World Aktenprotokolle aus dem Jahre 1967 zukommen, in denen pikante Fakten zu lesen sind. So wurde in einer Besprechung mit Vertretern von Pacific Gas & Electric, der Bundeskommission für Atomenergie (AEC) und dem privaten Energiekonzern Westinghouse am 18. Mai 1967 die Meinung geäußert, dass »weitere geologische Untersuchungen zu Spekulationen führen und das Projekt verzögern« könnten und dass »zu viele Informationen dieser Art die ohnehin schon schwierigen Genehmigungen nur unnötig komplizierter gestalten würden«. Dabei wären einige zusätzliche geologische Informationen nicht uninteressant gewesen. So kam es, dass erst im Jahr 2008 eine neue Bruchlinie in der Nähe von Diablo Canyon entdeckt wurde, »Shoreline Fault« wurde sie genannt. Der Graben ist nur einen Kilometer vom Reaktor entfernt, und bis heute weiß kein Mensch, was hier im Falle eines Erdbebens passieren könnte. »Detaillierte seismische Untersuchungen wurden noch nicht durchgeführt«, sagt Blakeslee.
Lloyd Cluff, Leiter der Abteilung Risiko-Management bei Pacific Gas & Electric, versteht die Aufregung nicht. Er zeigt sich gelassen. »Natürlich kann man sich nie ganz sicher sein, wenn es um Erdbeben geht«, sagte Cluff bei einer Senatsanhörung in Sacramento im April. »Aber wir machen uns keine Sorgen.« Cluffs sonnige Einstellung wird von amtlicher Seite geteilt. Das Thema Erdbeben taucht in den Richtlinien der bundesstaatlichen Aufsichtsbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC) gar nicht auf. Auch die Vorschriften zur Notfallplanung kommen zu kurz. Die Los Angeles Times berichtete, dass die Hälfte der Sensoren, die einen eventuellen Anstieg von Radioaktivität in der Nähe der Kraftwerke messen und weiterleiten sollen, schlicht und einfach kaputt ist. Ob und wann sie repariert werden, weiß niemand.
Auch die Sirenen, die die Bevölkerung warnen sollen, sind nur bedingt funktionsfähig. Sie sind an das örtliche Stromnetz angeschlossen und hätten im Ernstfall keinen Strom mehr, denn Notaggregate sind von den Aufsichtsbehörden nicht vorgeschrieben. Trotz dieser Mängel hat das Frühwarnsystem in Kalifornien Weisman zufolge »von den Behörden die beste Note erhalten«. Die Rechnung ist einfach: Die Funktionsfähigkeit des Frühwarnsystems wird mit der Gesamtstundenanzahl eines Quartals verrechnet. Wenn also beispielsweise die Sirenen bei einem Super-Gau ein paar Stunden oder Tage keinen Ton von sich geben, würde das nur einen Bruchteil der Gesamtzeit ausmachen. Im Schnitt ist also alles prima.
Möglicherweise gehört eine gesunde Prise Optimismus beim Atomgeschäft einfach dazu. In den USA gab es nur einen einzigen Reaktorunfall mit unmittelbar tödlichen Folgen. Er ereignete sich am 3. Januar 1961, außerhalb der Kleinstadt Idaho Falls. Als Army-Spezialist John A. Byrnes bei einer Routineabschaltung des experimentellen Kernreaktors SL-1 den nuklearen Kontrollstab zu weit aus dem Reaktorkern zog, wurden innerhalb einer Millisekunde 20 000 Megawatt Energie freigesetzt. Es kam zu einer Wasserdampfexplosion, einem sogenannten Wasserhammer. Drei Menschen kamen ums Leben. Der Elektriker Richard C. Legg wurde an die Decke des Reaktors geschleudert und dort an einem Stahlbolzen aufgespießt. Seine radioaktiv verseuchte Leiche konnte erst sechs Tage später mit einem Kran geborgen werden. Die Opfer des Unfalls wurden in speziell angefertigten Bleisärgen unter dicken Betonplatten beerdigt, einer von ihnen auf dem Soldatenfriedhof Arlington in Washington. Sie gelten als »Helden der Nation«. In den Akten ist zu lesen, dass die Gräber niemals geöffnet werden dürfen. Die Leichen strahlen noch immer.
Ein Großteil der Bevölkerung in Kalifornien ist offenbar unbesorgt. Ein halbes Jahrhundert ist seit der Tragödie in Idaho Falls vergangen, und auch Fukushima liegt scheinbar wieder in weiter Ferne. Unmittelbar nach dem Unglück in Japan reagierten auch hier die Bürgerinnen und Bürger panisch, deckten sich etwa mit Jodtabletten ein und kauften massenweise Notfallausrüstungen für Erdbeben. Nach zwei Wochen kehrte man jedoch wieder zum Alltag zurück.
Obwohl der Ausbau von Alternativenergie in Kalifornien durchaus möglich wäre, können Solar- und Windenergie die Atomkraft noch nicht ersetzen. Es mangelt an politischem Willen. Noch gibt es keine Alternative zum Atomstrom.
Aber Sorgen macht sich hier keiner. Sarah Borman, die vor dem Atomkraftwerk von San Onofre in der Sonne liegt, während sich ihre zwei Töchter und ihr Hund im Wasser tummeln, gibt sich bei der Frage nach einer Notfallplanung überrascht: »Es ist witzig, dass Sie mich das fragen«, meint sie. »Nein. Wir haben keinen Notfallplan.« Sie und ihr Mann lieben den Strand und das Meer. Sie würden hier nie im Leben wegziehen. »Auch nicht wegen Radioaktivität.«
Das Leben in Kalifornien geht weiter wie immer. »Ich lebe seit 40 Jahren hier«, sagt auch Mike Riley, ein Bauunternehmer, »wir fühlen uns völlig sicher. Wir denken nicht zu viel darüber nach. Wir hatten nie Probleme. Man hat uns versichert, dass nichts passieren kann.«
Trina Saba, die Besitzerin eines Wein- und Spirituosengeschäfts in San Clemente, sagt: »Wenn wir Angst hätten, würden wir nicht hier wohnen.« Am Strand von San Onofre strahlt weiterhin die Sonne.
Nur wenige Meter neben dem Atomkraftwerk gehen die Surfer ins Wasser und warten auf die nächste große Welle, die da noch kommen mag.