Manfred Sing im Gespräch über die arabische Linke und die Proteste im arabischen Raum

»Auch die arabische Linke ist verwirrt«

Was machen die linken Organisationen in den Revolutionen Tunesiens, Ägyptens und der anderen arabischen Länder? Schließen sie sich den Revolten an? Halten sie zum jeweiligen Regime? Wie halten sie es mit den Islamisten? Manfred Sing ist Islamwissenschaftler und forscht über die Transformation kommunistischer Akteure im Nahen Osten.

Während die einen die Proteste im arabischen Raum als »säkular« bezeichnen, warnen andere vor den Islamisten, wieder andere erwarten eine Renaissance der Linken. Wie kommt es zu diesen widersprüchlichen Einschätzungen?
Der Widerspruch kommt nicht allein durch die Lage zustande, sondern auch durch die Beobachter. Ob jemand Arbeitslose, Arbeiter, die bürgerliche Mittelklasse, linke Studenten, Antiimperialisten oder Islamisten als revolutionäres Subjekt ausmacht, rechtfertigt mehr den eigenen Standpunkt, als dass es die Vorgänge erklärt. Wer pro-israelisch ist, schaut skeptischer darauf als jemand, der sozialen Protest sieht. Diese Wahrnehmungsfilter sind ein ernstes Problem. Es wäre jetzt Gelegenheit dazu, darüber nachzudenken, anstatt die eigenen Befindlichkeiten in Fremdbeschreibungen zu verstecken.
Wie beurteilt die arabische Linke die Proteste?
Auch in der arabischen Linken herrscht Verwirrung. Sie wurde – wie die Regime, der Westen und die Islamisten – von der Dynamik der Massenproteste überrollt. Die sind ja nicht originär links, sondern gehen von diversen Aktivisten der jüngeren Generation aus. In der »Bewegung 6. April« findet sich fast alles, von ganz links über liberal und nationalistisch bis islamistisch. Die alte Linkspartei al-Tajammu lehnte die Proteste anfangs ab und nahm das Dialogangebot des Regimes an. Eine Reflexion über den linken Anteil an den Einparteien- und Entwicklungsdiktaturen ist weitgehend ausgeblieben, man tut so, als sei man schon immer dagegen gewesen. Dabei wurden die Staatsparteien Tunesiens und Ägyptens erst im Zuge der Proteste aus der Sozialistischen Internationalen ausgeschlossen.
Stehen die linken Gruppierungen mittlerweile hinter den Protesten?
Nicht ganz, ein Teil steht den Protesten auch skeptisch gegenüber. Wer primär gegen pro-westliche Regime ist, kann ein eher taktisches Verhältnis zur Diktatur in Syrien haben: Syrien-Kritiker lassen sich am ehesten als Linksliberale klassifizieren, während viele Alt- und Neomarxisten sich vornehm zurückhalten oder den syrischen Regimediskurs reproduzieren, wonach entweder der Westen den Widerstand gegen Israel schwächen will oder die Muslimbrüder dahinterstecken. Der Chef der libanesischen Kommunisten, Khaled Haddadeh, meinte, der Facebook-Hype sei kapitalistische Propaganda, denn Computer würden zuvorderst von Geheimdiensten gegen das Volk eingesetzt. Diese Verkennung spricht Bände: Man darf getrost davon ausgehen, dass sich auch Haddadeh über die Proteste nicht im Staatsfernsehen, sondern via al-Jazeera und al-Arabiya informiert. Das Material aus dem Netz, das dort gesendet wird, konterkariert die Zensur und Propaganda der Regime.
Wie sieht es in Ägypten oder auch Tunesien mit den Protestallianzen aus, nachdem dort der gemeinsame Feind vertrieben ist?
Es wird nicht so harmonisch bleiben. In Tunesien wird es Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung geben, die Chancen auf einen institutionell abgesicherten Übergang sind derzeit also besser als in Ägypten, wo die Transformationsschwierigkeiten unübersehbar sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich linke und säkulare Kräfte dort vor den Wahlen neu gruppieren. Einige Linke führen diese Schwierigkeiten in Ägypten auf Defizite der Massenbewegung zurück und mäkeln an dem allerorts skandierten Slogan herum, wonach das Volk das System stürzen wolle. Erstens gebe es »das Volk« nicht, zweitens arbeite »das System« gegen den »Willen des Volkes« längst an der Konterrevolution. Andere meinen, jetzt räche sich der Mangel an Ideologie, speziell, dass der Befreiungskampf für Palästina völlig aus dem Blick geraten sei. Demgegenüber betrachten Linke, die sich für Demokratie engagieren, die ideologische Offenheit als Vorteil. Sie handelten bisher nach dem Motto: »Im Zweifel mit den Islamisten, aber nie mit dem Regime«. Ihnen dämmert nun, dass die Rechnung nach dem Etappensieg nicht mehr aufgeht. Die ägyptischen Islamisten werden versuchen, sich mit Teilen des Ancien régime abzustimmen und das Palästina-Problem in den Vordergrund zu stellen – auch mit Zustimmung aus der Linken.
Wie kam die Zusammenarbeit zwischen Linken und Islamisten zustande?
Das begann verstärkt nach der Revolution im Iran, als einige Linke dem Islamismus große Sympathien entgegenbrachten und etliche konvertierten. Die Schnittmenge waren der Antiimperialismus und der Kampf gegen Israel. Dazu kam die gemeinsame Verfolgung, oft saßen Kommunisten und Islamisten Zelle an Zelle im Gefängnis. Tariq al-Bishri, der jetzt als Konsenskandidat die Kommission zur Überarbeitung der ägyptischen Verfassung leitete, wandelte sich in den siebziger Jahren vom Marxisten zum Islamisten. Er begründete dies damit, dass die Araber neben politischer und ökonomischer auch kulturelle Selbstbestimmung bräuchten. Mancher, der Islamist wurde, war vorher Maoist. Wer sich als »asiatischer« Marxist verstand, für den lag es nach 1979 nahe, die Massen nicht mehr für eine »arabische«, sondern eine »islamische« Kulturrevolution begeistern zu wollen. Der Islam sollte ein Mittel zur Mobilisierung sein, aber auch als Bollwerk gegen den westlichen Kulturimperialismus dienen, wozu der westliche Marxismus und der »Sowjetimperialismus« gerechnet wurden. Solche pro-islamistischen Linken kombinierten Fanon, Guevara und Shariati*.
Haben Linke durch Bündnisse mit islamistischen Gruppierungen die Stärkung des politischen Islam befördert?
Wenn sie Bündnisse eingehen, dann deshalb, weil sie die Islamisten als stark einschätzen; Realpolitik also. Der Dialog mit Nationalisten und Islamisten seit dem Kalten Krieg – etwa bei den gesamtarabischen Konferenzen in Beirut– soll das Gemeinsame betonen, etwa das Recht auf Widerstand, und wendet sich gegen das »Teile und Herrsche« der Regime. Die Rhetorik vom »demokratischen Wandel« kam erst im Laufe der neunziger Jahre hinzu, die Unterschiede bei den Sichtweisen wurden ausgeklammert. In Ägypten organisierten die »Revolutionären Sozialisten« im Jahr 2000 pro-palästinensische Demonstrationen und 2003 Anti-Kriegs-Kundgebungen, um die Regierungspolitik bloßzustellen. Weil sie dabei das Schweigen der Islamisten anprangerten, konnten sie auch jüngere Muslimbrüder gewinnen. Das gelang zeitweise auch der Kifaya-Bewegung, die 2004 gegen die Wiederwahl Mubaraks protestierte. So entstand eine gewisse Vertrauensbasis. Im Gegenzug erklärten junge Muslimbrüder, sie hätten nichts gegen einen Kopten oder eine Frau im Präsidentenamt – konträr zur Position der Mutterbewegung. In Syrien verabschiedete die Opposition 2005 die »Damaszener Erklärung für demokratischen Wandel«. Der Wortlaut war so gewählt, dass auch die Muslimbrüder im Exil zustimmen konnten. Im Jemen wird der Protest inzwischen durch die Kräfte des »Gemeinsamen Treffens« koordiniert: Dazu zählen die früher im Südjemen regierenden Sozialisten, die islamische Islah-Partei aus dem Norden und Stammesvertreter. In Bahrain agieren säkulare und religiöse Kräfte gemeinsam mit der einzigen Arbeiterbewegung der Golfregion.
Gibt es neben der strategischen auch eine ideelle Grundlage dieser Zusammenarbeit – und inwiefern spielt dabei die von Ihnen angesprochene Rhetorik vom »demokratischen Wandel« eine Rolle?
Ich denke nicht, dass es eine ideelle Grundlage für die Zusammenarbeit aller Linken mit Islamisten gibt. Die Linken, die mit den Islamisten vorwiegend wegen Israel zusammenarbeiten, sind in der Regel nicht dieselben, die sich aus menschenrechtlicher Sicht für inhaftierte und gefolterte Islamisten einsetzen. Linke Bündnisse mit Islamisten richten sich gegen die Regime, die aber ihrerseits versuchen, die Islamisten oder die Linken zu kooptieren. In Ägypten etwa betrachten Nasseristen und Altkommunisten die Islamisten zumeist als Faschisten, während die Revolutionären Sozialisten für eine Zusammenarbeit sind, wobei aber erstere eine Nähe zum Regime haben, letztere nicht.
Was unterscheidet die jetzige Situation von der im Iran in den Jahren 1978 und 1979? Ist ein ähnlicher Verlauf der Ereignisse, ein Aufstieg des politischen Islam denkbar?
Die jetzige Situation ist eine Mischung aus drei Faktoren: Erstens erleben wir ein arabisches 1989. Dieser Aufbruch bringt mit sich, dass Islamisten freier als bisher agieren können. Daher wird es zweitens zu einem »1979 light« kommen. Der Islamismus stellt aber keine Systemalternative mehr dar. Zum einen kam die jüngste Repressionswelle im Iran beim arabischen Publikum nicht gut an, sie erinnerte zu sehr an die Praktiken daheim. Zum anderen fehlt eine charismatische Figur wie Khomeini. Die Azhar-Gelehrten in Ägypten schwiegen mehrheitlich oder positionierten sich erst spät auf Seiten der Demonstranten, und den Muslimbrüdern gelang es in keiner Phase, die Meinungsführerschaft über die Proteste zu gewinnen. Den dritten Faktor stellt das in den USA geschulte Militär dar. Es arbeitet auf eine Restauration der Verhältnisse hin und soll, als Rückversicherung für den Westen, dafür sorgen, dass die Dinge nicht aus dem Ruder laufen. Diese Rollenverteilung erinnert an die früheren Verhältnisse in der Türkei. In Kairo und Tunis wacht das Militär bereits, im Jemen steht es nach einem Regimewechsel bereit, in Bahrain intervenierten die Saudis, von Libyen ganz zu schweigen.

*Der Soziologe Ali Shariati gilt als Begründer einer schiitischen Befreiungstheologie, die eine wichtige Rolle für die Iranische Revolution spielte.