Die Dada-Texte von Hugo Ball

Der Bischof mit dem Zauberhut

Im Rahmen der Werkausgabe von Hugo Ball sind seine sämtlichen Dada-Texte erschienen.

Unter den widersprüchlichen Gestalten, die sich in den deutschen Avantgardebewegungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts tummelten, war Hugo Ball eine der obskursten. In seinen frühen expressionistischen Jahren fanatischer Kriegsfreiwilliger, emigrierte er schon 1915, nachdem er für untauglich erklärt worden war, nach Zürich und wandelte sich zum pazifistischen Agitator. Das Cabaret Voltaire, das er dort mit seiner Partnerin Emmy Hennings gründete, wurde in der kurzen Zeit seines Bestehens nicht nur zur Geburtsstätte des Dadaismus, sondern auch zu einem wichtigen Treffpunkt europäischer Emigranten und Deserteure. Als Anarchist und Übersetzer Bakunins wurde Ball in seinen späten Lebensjahren zum Bewunderer Carl Schmitts, als unerbittlicher Sprachzertrümmerer schloss er Freundschaft mit dem Pennäler-Literaten Hermann Hesse, über dessen Leben und Werk er sogar eine Monographie geschrieben hat. Und wie um sein Œuvre in einem letzten dadaistischen Streich ad absurdum zu führen, konvertierte er Anfang der zwanziger Jahre zum Katholizismus und erklärte seine frühen Lautgedichte zu ernsthaften mystischen Exerzitien.
Kein Wunder, dass auch die gegenwärtige Ball-Forschung großteils von spintisierenden Nerds bestimmt wird, deren Publikations- und Kommunikationsverhalten sich vom gängigen »wissenschaftlichen Diskurs« wohltuend abhebt. Eckhard Faul, einem der freundlichsten und klügsten unter ihnen, ist maßgeblich zu verdanken, dass nun die ersten sieben Bände der Hugo-Ball-Werkausgabe bei Wallstein vorliegen. Als deren Seitenstück versammelt der Band »Zinnoberzack, Zeter und Mordio« erstmals Balls sämtliche Dada-Texte, darunter die meist erst posthum veröffentlichten Gedichte. Seine Lektüre kann bei der Antwort auf die Frage helfen, was den Unsinnsdichter zum Katholizismus und den Anarchisten zum deutschnationalen Staatstheoretiker gezogen haben mag. Dabei erschließen sich nicht nur Verbindungen zwischen dem vermeintlich so metaphysikfeindlichen Dadaismus und mystischen Traditionen, sondern auch gewisse reaktionäre Gehalte des Dadaismus selbst, die von dessen Anhängern gern übersehen werden.
Von Beginn an spielen christliche Motive in Balls dadaistischen Texten eine wichtige Rolle, und sie werden keineswegs einfach blasphemisch behandelt. Besonders deutlich wird dies an seinem bruitistischen »Krippenspiel«, das Christi Geburt als szenische Lautdichtung nachstellt und mit der Vorwegnahme der Kreuzigung endet. Abgesehen von den Regieanweisungen, gibt es kaum Spuren diskursiver Sprache. Wie beim Drehbuch zu einer Kindergartenaufführung macht der Wind »f f f f f f f f f fff f ffff t t«, das Schaf »bäh, bäh, bäh«, Maria und Josef beten »ramba ramba ramba«, der Engel kündigt sich mit einem »Propellergeräusch« an, und das »Kacken der Kameele« wird durch »Klatschen der Hände mit sehr hohler Fläche« dargestellt. Plötzlich aber kündigen »Hammerschläge«, »Rattern«, »Klappern« und das »Johlen« der »Volksmenge« die Kreuzigung wie ein Pogrom an, und das Stück endet mit den Zeilen »Und da ward er gekreuziget/da floss viel warmes Blut«, die den Vorgang als Regression auf die Ordnung des gemeinschaftsstiftenden Menschenopfers deuten.
Der Umschlag der Handlung von derber Burleske in plötzlichen Ernst und der Stilwechsel vom Infantilismus zur Rhetorik der Predigt ist charakteristisch für Balls Auffassung von Lautpoesie. Ball hat den Dadaismus nie allein als Versuch begriffen, auf die gesellschaftlichen Versehrungen der Gegenwart mit einer versehrten Sprache zu antworten oder die Phrasenhaftigkeit von Journalismus und Politik parodistisch zu übertreiben. Wichtiger als solche satirischen Motive war für ihn die Beschäftigung mit der Kindersprache, deren linguistische Erforschung damals gerade ihren Anfang genommen hatte, sowie der Rückgriff auf die frühchristliche Glossolalie, das »Zungenreden«, bei dem im Zustand mystischer Ekstase unverständliche Lautfolgen hervorgebracht werden, die als absurder Ausdruck des Gotteswortes angesehen wurden. Tatsächlich erinnern Balls Lautgedichte wie die berühmte »Karawane«, die ursprünglich »Zug der Elefanten« hieß, oder »Gadji beri bimba« weniger an onomatopoetische Nachbildungen realer Gegenstände oder Handlungen als an die rudimentären Sprachbildungsversuche von Kindern oder ekstatische Klangrituale. Auch der kultische Zusammenhang ist nicht nur durch die Titel vieler Texte (»Krippenspiel«, »Totenklage«), sondern durch deren rituelle Form präsent, die im Gegensatz zu expressionistischer Lyrik keinen unmittelbaren Ausdruck kennt.
Dass der Unsinn nicht einfach Gegenspieler des Sinns und der Glaube an den Nonsens mit dem Glauben an den Wahrheitsgehalt des Gotteswortes durchaus vereinbar ist, gehört zu den Einsichten jener als »gottlose Mystik« bekannten anarchistischen Sprachkritik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Sprachphilosophen Fritz Mauthner und dessen Freund Gustav Landauer ausgearbeitet und von Ball rezipiert worden ist. Sie bezieht sich ebenso auf kabbalistische wie frühchristliche Motive und antwortet auf die schlechte Immanenz der gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem sie die »Sprachzerstückelung«, die Demontage der pragmatischen Kommunikation, zur Voraussetzung jeglicher Erkenntnis und die Blasphemie zur einzig möglichen Form erklärt, den Wahrheitsgehalt der Theologie gegen ihre Korruption durch die Kirchen zu retten. Auf diesen paradoxen Charakter der Blasphemie scheint Ball anzuspielen, wenn er in seinen Aufzeichnungen »Die Flucht aus der Zeit« beschreibt, wie er seine Lautgedichte im Cabaret Voltaire verkleidet mit einem »zylinderartigen … Schamanenhut« vorgetragen habe: »Ich begann meine Vokalzeilen rezitativartig im Kirchenstile zu singen … Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt. Da erlosch … das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.«
Hier wird deutlich, dass Ball den Dadaismus weder als Regression auf Infantilismus und schamanische Zauberei noch als épater le bourgeois begriffen hat. Vielmehr verstand er ihn als Versuch, die unabgegoltene Sehnsucht der Kindheit ebenso wie das unabgegoltene Versprechen des Glaubens im Modus absurder Verkehrung gegen ihre falschen Apologeten geltend zu machen, die verraten, was sie predigen. Erkennbar ist aber auch, dass der Anarchismus, der an den Dadaisten oft unbedacht gelobt wird, bereits in sich selbst ein tiefes Bedürfnis nach Ordnung, Ernst und Pathos trägt, das fatal werden kann, sobald es in politische Praxis umschlägt. Auch Carl Schmitt war entgegen gängigen Vorurteilen nicht einfach ein fanatischer Ordnungsdenker, sondern vor allem ein Theoretiker des Ordnungszerfalls, des Partisanentums und des Ausnahmezustands, mithin ein autoritärer Anarchist. Dass Ball den Frontenwechsel nie ganz vollzogen hat, sondern beide Tendenzen in seinem Werk unversöhnt nebeneinander bestehen, zeugt von einer Integrität, die vielen seiner Kollegen und Nachfolger abgeht.

Hugo Ball: Zinnoberzack, Zeter und Mordio. Alle Dada-Texte. Herausgegeben von Eckhard Faul. Wallstein-Verlag, ­Göttingen 2011. 144 Seiten