Der Prozess gegen Demjanjuk

Dienst in der Mordmaschinerie

Der Prozess gegen den mutmaßlichen SS-Helfer John Demjanjuk nähert sich seinem Ende. Die Nebenkläger, Überlebende des Vernichtungslagers Sobibor sowie Angehörige von Ermordeten, haben ihre Plädoyers gehalten.

Der Angeklagte beschwert sich: Die Stimmen der Nebenkläger erklängen zu laut aus den Lautsprechern und dröhnten geradezu in seinen Ohren. Daraufhin wird der 91jährige Mann, der in einem Spezialbett liegt, vor das Podium des Richters geschoben. Mit Schirmmütze und Sonnenbrille bekleidet, verzieht er dort keine Miene, wie an den meisten der bisher 90 Prozesstage.

John Demjanjuk hat mit seiner Beschwerde die Berichte der Nebenkläger unterbrochen, deren Geschwister, Mütter, Väter oder Ehepartner im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurden. Demjanjuk soll dort als Aufseher von Ende März bis Ende September 1943 Dienst verrichtet haben und wird der Beihilfe zum Mord an 27 900 Menschen beschuldigt. Hier im Münchener Justizpalast sprechen die Nebenklägerinnen und Nebenkläger aus Holland, Polen, Deutschland und den USA und ihre Anwälte nach 18 Prozessmonaten nun ihre Schlussworte. In früheren Verfahren gegen NS-Verbrecher erhielten Angehörige der Ermordeten nur selten die Gelegenheit, ein umfassendes moralisches, rechtliches und historisches Zeugnis abzulegen. Deshalb haben die Plädoyers im Prozess gegen Demjanjuk eine besondere Bedeutung in der deutschen Rechtsprechung.
Ein Nebenkläger ist der 90jährige Jules Schelvis aus den Niederlanden. Er sei von seinen Eltern humanistisch erzogen worden, habe sein Abitur gemacht, sich zum Drucker ausbilden lassen und habe dann seine Frau Rachel kennen gelernt, sagt er. Am 26. Mai 1943 wurden die beiden von Amsterdam nach Westerbork verschleppt und von dort aus mit ihren Eltern nach Sobibor deportiert. Dort angekommen und »schon mit einem Bein im Grab«, schaffte es Schelvis, die Aufmerksamkeit eines SS-Mannes auf sich zu lenken, der ihn in das Arbeitslager Dorohucza abkommandierte. Seine Frau Rachel und seine Schwiegereltern wurden in der Gaskammer Sobibors ermordet. Für Schelvis steht fest: Demjanjuk ist mitverantwortlich für den Mord an seiner Frau Rachel, der im Alter von 20 Jahren ihr »blühendes Leben« genommen wurde.
Nach Schelvis treten 14 weitere Nebenkläger für ihre Schlussworte vor das Gericht. Max Degen etwa wurde in Amsterdam geboren und als Baby von seiner Mutter aus Sorge um sein Leben zu Bekannten gegeben, eine Gruppe von Pädagogikstudenten rettete ihm das Leben. Degens gesamte Familie wurde in Sobibor ermordet. Marianne Leijden van Amsel wurde als Kind vor den Nazis versteckt, ihre Eltern wurden 1943 in Sobibor ermordet, als sie gerade einmal drei Jahre alt war. Nun äußert sie vor Gericht die Hoffnung, dass »alle die Täter, die an den Grausamkeiten und dem Genozid beteiligt waren, der in den Jahren 1940 bis 1945 stattgefunden hat, für schuldig befunden werden«. Robert Cohn überlebte 27 Monate lang in Konzentrations- und Vernichtungslagern und sah, wie grausam »unter anderem die Ukrainer vorgegangen sind«. Auch Demjanjuk kommt aus der Ukraine und soll ein »Trawniki« gewesen sein, wie die ukrainischen SS-Helfer genannt wurden. Aus einem »Gespür für Gerechtigkeit« heraus fordert Cohn die Höchststrafe.

Nicht alle Nebenkläger richten sich mit ihren Ausführungen nur an das Gericht. Martin Hass aus den USA spricht den Angeklagten direkt an: »Wir hatten erwartet, dass Sie sich bei den vielen Opfern und ihren nächsten Angehörigen hier im Gerichtssaal entschuldigen würden.« Hass sagt, er hoffe, dass Demjanjuk »nach einem Leben der Lügen die heroische Entscheidung treffen und Zeugnis ablegen« würde. Die Nebenkläger Philipp Bialowitz und Thomas Blatt beteiligten sich am 14. Oktober 1943 am Aufstand der Häftlinge in Sobibor. Von den 300 Gefangenen, denen es gelang, die Wachmannschaft kurzzeitig außer Gefecht zu setzen und zu fliehen, überlebten 47.
Martin Mendelssohn, der Anwalt der Nebenkläger, schildert in seinem Plädoyer noch einmal die Rolle der »Trawnikis«. Diese, so sagt Mendelssohn, seien nicht nur in den Vernichtungslagern Sobibor, Treblinka, Majdanek und Belzec, sondern auch in den polnischen Ghettos eingesetzt worden, wie beispielsweise in Lublin oder dem kleinen Ort Izbica, in dem Thomas Blatt aufwuchs. »Fremdländische Wachmänner« halfen auch dabei, das Warschauer Ghetto nach dem dortigen Aufstand im April 1943 zu zerstören.
Auch die Staatsanwaltschaft hält Demjanjuks Schuld angesichts der Beweislage und Zeugenaussagen für erwiesen. Den Anklagepunkt der Beihilfe zum Mord nach Paragraph 27 des Strafgesetzbuchs bewertet der Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz in diesem Prozess zum ersten Mal anders, als es in früheren NS-Prozessen in Deutschland der Fall war. Der Dienst in einer »routinierten Mordmaschinerie« sei allein schon der Nachweis für die Beihilfe, sagt Lutz. Die Höchststrafe für das Delikt liegt bei 15 Jahren Haft. Lutz fordert eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren, wobei er, »gedanklich, nicht rechtlich«, von der Höchststrafe schon die achteinhalb Jahre Haft abgezogen habe, die Demjanjuk in Israel im Gefängnis zubrachte. Der Staatsanwalt begründet seine Forderung folgendermaßen: Demjanjuk habe aus ideologischen Gründen und aus niederen Motiven gehandelt, er sei der Beihilfe zum Mord in insgesamt 15 Fällen schuldig zu sprechen – gemeint sind 15 Transportzüge, in denen Juden aus Polen, den Niederlanden und Deutschland 1943 nach Sobibor gebracht wurden.
Dass Demjanjuk freiwillig und aus Überzeugung gehandelt habe, steht auch für die Anwälte der Nebenkläger fest. Er sei nicht zum Dienst gezwungen worden, sagt Hardy Langer. Als Ukrainer sei es Demjanjuk durchaus möglich gewesen, in sein nicht allzu weit von Sobibor entferntes Geburtsdorf zurückzukehren. Darüber hinaus hätte er im Lauf des Prozesses Reue für seine Taten zeigen können, was sicher strafmildernd berücksichtigt worden wäre, sagt Rolf Kleidermann, ein weiterer Anwalt der Nebenkläger.

Die Anwälte von Demjanjuk verfolgen weiterhin eine offensive Strategie, wie man sie schon aus dem bisherigen Verlauf des Prozesses kennt (Jungle World 3/10). So beantragte der Verteidiger Ulrich Busch während der laufenden Plädoyers der Nebenklage, das Verfahren zu unterbrechen und den Haftbefehl gegen seinen Mandanten aufzuheben. Anlass hierzu lieferte ihm ein kürzlich aufgetauchtes FBI-Dokument, in dem die Echtheit von Demjanjuks Dienstausweis in Sobibor bezweifelt und die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass der KGB den Ausweis gefälscht habe. Arno Laurent, ein weiterer Anwalt der Nebenklage, brachte jedoch Einwände gegen das neue Beweismittel vor: Es sei dem KGB wegen der Vielzahl der Kollaborateure unmöglich gewesen, alle Dokumente über Helfer der Nazis zu fälschen. Warum hätte der Geheimdienst ausgerechnet Demjanjuks Dienstausweis fälschen sollen? Schließlich habe niemand ahnen können, dass der nach dem Krieg über Deutschland in die USA ausgewanderte Mann noch einmal die Aufmerksamkeit der Justiz auf sich ziehen würde, sagte der Anwalt.
Nun muss sich zeigen, ob die Münchner Richter den Plädoyers der Anklage folgen werden. In der nächsten Woche werden die Plädoyers der Verteidigung angehört. Kurz darauf soll das Urteil ergehen.