Margret Steffen im Gespräch über Fachkräftemangel, Lohndumping und Arbeit im Pflegebereich

»Ich spreche vom neuen Dienstmädchenwesen«

In Krankenhäusern und Heimen arbeiten jetzt schon viele Menschen aus osteuropäischen EU-Staaten – vor allem Frauen. Auch viele Familien lassen ihre Angehö­rigen privat von Pflegerinnen aus Polen betreuen. Die Jungle World sprach mit Margret Steffens, die bei Verdi für den Gesundheitsbereich zuständig ist.

Wenn jetzt die Beschränkungen der Freizügigkeit aufgehoben werden, die für die Bürger der osteuropäischen EU-Staaten hierzulande galten – was bedeutet das für den Pflegebereich?
In den Krankenhäusern und den Alteneinrichtungen klagen viele über einen Fachkräftemangel in der Pflege. Die Freizügigkeit könnte diese Situation ein wenig entspannen. Wenn qualifizierte Leute kommen, können die hier ab dem 1. Mai beschäftigt werden.
Insofern geben Sie hier ja offenbar Arbeitsministerin Ursula von der Leyen recht, die ständig von »Fachkräftemangel« spricht.
In der Pflege zumindest gibt es einen Fachkräftemangel. In den Krankenhäusern ist ja über viele Jahre hinweg ein Rationalisierungsprogramm gelaufen, bei dem vor allem am Personal gespart wurde. Für die Beschäftigten bedeutete das vor allem weniger Personal und eine Intensivierung der Arbeit. Zugleich verdankt sich der jetzige Fachkräftemangel auch der Tatsache, dass lange zu wenig ausgebildet wurde, ja sogar Ausbildungsstätten geschlossen wurden.
Aus gewerkschaftlicher Sicht könnte man doch davon ausgehen, dass der Fachkräftemangel einfach zu beheben ist: durch höhere Löhne.
Natürlich ist der Pflegeberuf wenig attraktiv, da das meist Schichtarbeit ist. Und der Beruf ist, wenn man sich die hohen Anforderungen ansieht, ganz klar unterbezahlt. Wir brauchen mehr Lohn, aber auch bessere Arbeitsbedingungen.
Warum ist die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in der Pflege so schwach, obwohl es einen Fachkräftemangel gibt?
Die durchschnittliche Organisierungsquote in den Betrieben der Altenpflege liegt etwa zwischen fünf und zehn Pozent – wenn Sie mit einem so geringen Organisationsgrad Tarifverhandlungen führen wollen, kommt nichts Großartiges dabei heraus. Unsere Erfahrung ist, dass wir scheitern, wenn wir in Tarifverhandlungen ohne Verhandlungsmacht gehen. Das sieht in den Krankenhäusern besser aus, da erzielen wir auch bessere Ergebnisse.
Die Gewerkschaften warnen angesichts der Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen vor Lohndumping und fordern daher einen branchenübergreifenden Mindestlohn. In der Pflegebranche gibt es ja zumindest seit einiger Zeit einen Mindestlohn von 7,50 Euro im Osten und 8,50 Euro im Westen. Ist die angeb­liche Gefahr von Lohndumping »aus dem Osten« in dieser Branche damit gebannt? Oder droht der Mindestlohn durch die Freizügigkeit unterlaufen zu werden?
Das passiert leider sowieso schon – besonders gravierend ist die Ausbeutung in der 24-Stunden-Pflege. Dabei kommen jetzt schon häufig zwei EU-Regelungen zum Zug: die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit. Dienstleistungsfreiheit heißt, dass jemand seine Dienste überall in Europa anbieten kann, wenn er dafür qualifiziert ist. Er gründet etwa ein Unternehmen in Polen, bietet seine Dienste in Deutschland an und beschäftigt die Menschen zu polnischen Arbeitsbedingungen und nutzt damit das soziale Gefälle: Die Zahlungen zu den Sozialversicherungen sind in Polen viel niedriger als hier. Deshalb kann er seine Dienste hier zu einem niedrigeren Preis anbieten. Bei der Niederlassungsfreiheit treten die Pflegekräfte quasi als Selbständige auf und müssen nachweisen, dass sie als Unternehmer mindestens zwei Kunden betreuen, damit sie nicht als scheinselbständig gelten.
Wie viele Beschäftigte als Pflegekräfte in den Haushalten arbeiten, liegt im Dunkeln. Wir schätzen, dass es rund 100 000 Menschen sind und dass ein Drittel von ihnen qualifiziert ist. Der Rest sind Frauen, die keine pflegerische Ausbildung haben – das läuft dann unter dem Begriff »Haushaltshilfe«. Die Bundesregierung hat das 2010 so ausgelegt, das Haushaltshilfen grundpflegerische Tätigkeiten wie Waschen übernehmen dürfen, aber sie dürfen keine Medikamente verabreichen.
Und die pflegenden »Haushaltshilfen« sowie die entsendeten Arbeitskräfte bekommen natürlich nicht den Mindestlohn.
Das ist der Punkt. Solange wir dieses soziale Gefälle haben, denke ich, dass die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit genutzt werden können, weil das für die Unternehmen attraktiv ist – und auch für die polnischen Beschäftigten.
Wie hoch sind die Durchschnittslöhne solcher Pflegekräfte bei der 24-Stunden-Pflege?
Die Löhne, die hier bezahlt werden, wenn die Beschäftigung über einigermaßen seriöse Leihagenturen organisiert wird, liegen zwischen 800 und 1 000 Euro plus Kost und Logis. Wenn Sie jetzt aber die 1 000 Euro mit der 24-Stunden-Pflege in Beziehung setzen, liegt der Lohn unter dem Sozialhilfesatz. In den Haushalten sind die Pflegekräfte rund um die Uhr gefordert. Außerdem sind sie ja oft nur in der einen Familie – und damit auch von ihr abhängig. Sie sind aufgrund der hohen Anforderungen, die etwa die Pflege von demen­ziell erkrankten Menschen mit sich bringt, auch oft überfordert. Ich spreche immer vom »neuen Dienstmädchenwesen«.
Aber für die Frauen ist das allemal attraktiver, als 300 Euro in ihrem eigenen Land zu verdienen. Und rund 1 000 Euro für die Pflege ist für Fami­lien mit etwas besserem Einkommen bezahlbar. Das soziale Gefälle sorgt dafür, dass es in Deutschland so aussieht, als würden wir bezahlbare Pflege hinbekommen.
Wie will Verdi das Problem angehen? Migrantische Arbeitskräfte zu organisieren, ist nicht gerade die Stärke deutscher Gewerkschaften.
In diesem Bereich können wir so gut wie überhaupt nicht organisieren. Wir können die Ausbeutungsverhältnisse skandalisieren und politisch Druck machen. Ein Ziel wäre, genauer abzugrenzen, was als Pflege und was als Haushaltshilfe gilt. Wir müssen dafür sorgen, dass der Bereich stärker professionalisiert wird, und damit die Ausbeutungsverhältnisse mit den dabei ins Spiel kommenden persönlichen Abhängigkeiten aus der Welt schaffen.
Wenn das soziale Gefälle schon jetzt ausgenutzt werden kann – heißt das, dass die Freizügigkeit gar nichts ändert in der Branche?
Doch. Die Beschäftigten aus den anderen Ländern können sich jetzt ohne große Probleme direkt bei den deutschen Arbeitgebern bewerben oder über das deutsche Arbeitamt nach Stellen suchen. Die deutschen Unternehmen können jetzt auch ins Ausland fahren, wie wir es von englischen Unternehmen kennen, und in Polen Personal rekrutieren.
Das heißt, dass die Freizügigkeit die Bedingungen der polnischen Arbeitskräfte in Deutschland verbessern könnte.
Für einige gewiss. Es gilt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das auch Realität wird.