Wollen die Polen wirklich nach Deutschland?

Überfall auf Deutschland

Drängen nun Hunderttausende Polen auf den deutschen Arbeitsmarkt, wenn Deutschland die Beschränkungen der Freizügigkeit aufhebt? Das fragen sich auch die Polen. Doch viele von ihnen sind skeptisch, ob Deutschland attraktive Arbeitsbedingungen bietet. Von der Vorstellung, alle Polen würden am liebsten sofort nach Deutschland kommen, müssen sich die Deutschen jedenfalls verabschieden.

Auf einer Landkarte werden die Truppenbewegungen der Eroberer für jedermann leicht verständlich mit großen roten Pfeilen skizziert. Immer von rechts nach links, von Polen nach Deutschland: 12 000 Köche fallen in den Norden ein, 30 000 Bauarbeiter besetzen Berlin. 25 000 Informatiker übernehmen die Mitte, und 30 000 Bauern sollen reichen, um Bayern in die Knie zu zwingen. Späte Rache für den deutschen Überfall auf Polen?
»Najazd na Niemcy«, steht über der Zeichnung geschrieben, mit der die polnische Wochenzeitung Tygodnik Zamojski (TZ) das Thema Freizügigkeit bebildert – »Überfall auf Deutschland«. Vielleicht wäre der reißerisch klingende Titel der TZ aber auch treffender mit »Einfall nach Deutschland« übersetzt. Denn der lange Artikel zum Titelblatt, mit dem die Wochenzeitung der kleinen Stadt Zamosco, tief im provinziellen Südostpolen, aufmacht, erklärt ganz sachlich: Ab dem 1. Mai darf jeder, der möchte, in Deutschland arbeiten. Die Deutschen hätten zwar Angst vor den Polen, würden auf der anderen Seite aber auch nach ihnen suchen. Konkrete Angebote seien zum Beispiel über das Arbeitsamt in Zamosco abzurufen. Freie Stellen gebe es zur Genüge. Allein in der deutschen Partnerstadt Schwäbisch Hall seien es 300. Gesucht würden alle Berufe: Frisöre, Elektriker, Lackierer, Bauarbeiter, Ingenieure. Eine Anforderung laute: Man muss Deutsch können.
Doch auch hier zeigt sich der TZ leserfreundlich. Sprachkurse seien nicht teuer. 100 bis 120 Stunden im Jahreskurs gibt es für 1 000 bis 1 200 Zloty (etwa 250 bis 300 Euro). Eine Investition, die sich auszahlen dürfte. Natürlich ist der Hauptanreiz, jetzt nach Deutschland zu gehen, das bessere Gehalt. 1 000 Euro für einen Hilfsarbeiter auf dem Bau sind verlockend, wenn man in Zamosco gerade mal 1 000 Zloty, also etwa nur ein Viertel dieses Betrags, bekommt und überhaupt froh sein kann, wenn man Arbeit findet. In der Region betrug die Arbeitslosigkeit im Februar 14,1, in Gesamtpolen 13,2 Prozent, in anderen Landesteilen des armen Ostens bei 20 Prozent. Die Arbeitslosenquote unter jungen Menschen liegen ebenfalls in diesem Bereich. Im ganzen Land.
Doch nicht alle sind davon überzeugt, dass so viele polnische Arbeitskräfte nach Deutschland wollen. »Die Menschen haben nicht mehr den Drang, sofort die neuen Möglichkeiten auszunutzen«, sagt zum Beispiel Zbigniew Zaleski, Psychologieprofessor an der Katholischen Universität Lublin (KUL). Der 60jährige war zwischen 2004 und 2009 konservativer Abgeordneter im Europa-Parlament und unterrichtet heute wieder junge Studierende in Polens größter Stadt östlich der Weichsel. »Diejenigen, die unbedingt weggehen wollten, sind längst nach Großbritannien, Irland und Norwegen gegangen«, sagt er. In Länder also, die anders als Deutschland und Österreich ihre Arbeitsmärkte für alle neuen EU-Länder bei deren Beitritt 2004 öffneten. »Die Deutschen müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass die Polen unbedingt und unter allen Umständen in Deutschland arbeiten wollen«, fügt der Professor hinzu.

Früher, vor dem Beitritt Polens zur EU, sei das vielleicht anders gewesen. Doch nur, weil man jetzt keine Visa-Prozeduren mehr auf sich nehmen und nicht jedes Mal um eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bangen muss, würden nicht alle wieder nach Deutschland wollen. »Heute fahren wohl nur die wenigsten einfach blind nach Deutschland und nehmen jede Arbeit an, die ihnen angeboten wird«, so Zaleski. Die meisten würden sich vorher informieren. Was gibt es? Wie sehen die Bedingungen aus? Ist das wirklich etwas für mich? »Und dann muss man auch bedenken, dass wir nicht mehr so arm sind wie früher. Natürlich klafft noch eine große Lücke zu den Gehältern, die in Deutschland gezahlt werden. Aber meistens kann man auch mit dem zurechtkommen, was man in Polen verdient.«
Rund 100 000 Arbeitswillige, davon die meisten aus Polen, würden die neue Freizügigkeit nach Deutschland nutzen. Diese Zahlen kursieren in der polnischen Presse. Das Nationale Statistikamt geht von 300 000 bis 400 000 Polen aus, die innerhalb der kommenden drei Jahre nach Deutschland gehen könnten. Sowohl die Regierung als auch die Deutsch-Polnische Industrie- und Handelskammer (DPIHK) haben diese Zahlen übernommen. Gerade bei der DPIHK, also von Seiten der Unternehmerschaft, spielt man jede Aufregung herunter. Für polnische Facharbeiter seien die Beschränkungen längst aufgehoben, für Saisonarbeiter gälten sie bereits seit Januar nicht mehr. Auf der Internetplattform Gazeta.pl veröffentlicht eine DPIHK-Mitarbeiterin einen Artikel, der über die Praktikums- und Fortbildungsmöglichkeiten für Polen in Deutschland informiert.
»Es wird keinen großen Zuzug von Polen nach Deutschland geben«, ist Katarzyna Mróz von der Gewerkschaft für soziale Berufe (ZZPS) in Lodz überzeugt. Grundsätzlich, so sagt auch sie, seien die Zeiten vorbei, wo Polen jede Arbeit annehmen würden, nur weil sie in Deutschland sei. »Drecksarbeit«, wie sie es wörtlich nennt, gebe es auch in Polen mehr als genug. Und Beschäftigungsmöglichkeiten im sozialen Bereich sowieso. »Wir haben so viele freie Stellen in unseren Städten und Gemeinden, und wenn sich jemand für diesen Beruf entscheidet, dann hat er nicht die Motivation, für mehr Geld ins Ausland zu gehen«, sagt die ZZPS-Vorsitzende.

»Wenn Deutschland jetzt Sorgen wegen der Arbeitsmarktöffnung hat, ist das nicht unser Problem.« Häme schwingt in den Worten von Bogdan Grzybowski mit, Spezialist für Arbeitsmarktfragen beim polnischen Gewerkschaftsverbund OPZZ in Warschau. »Deutschland wird jetzt die weniger gut qualifizierten Polen abbekommen, denn unsere besten Leute sind längst nach Irland, Großbritannien oder Norwegen gegangen.« Diese Staaten hätten es richtig gemacht und ihre Märkte beim EU-Beitritt Polens von Anfang an geöffnet. Dass sich Deutschland 2004 anders entschied, hat viele Polen verärgert. Viel Wirbel habe es damals in der Presse gegeben, sagt Grzybowski. Viel mehr als heute, wo sich das erfüllt, was man schon vor sieben Jahren gefordert hatte.
Dass die mögliche Abwanderung vieler Polen nach Deutschland Nachteile für den polnischen Arbeitsmarkt mit sich bringen könnte, glaubt Grzybowski nicht. »Wissen Sie, das Problem, das Deutschland mit Polen angeblich hat, haben wir mit den Arbeitskräften aus unseren östlichen Nachbarstaaten, aus der Ukraine, aus Weißrussland zum Beispiel«, sagt er. Dort seien die Löhne noch deutlich niedriger als in Polen. Arbeitskräfte von dort würden polnische Löhne unterminieren, Arbeitgeber würden die Ausländer dazu benutzen, um Gewerkschaftsforderungen zu unterbinden. »Deshalb fordern wir eine gemeinsame europäische Migrationspolitik, damit nach einheitlichen Standards Leute aufgenommen werden und die Probleme nicht bei uns in Polen hängen bleiben, sondern von allen Mitgliedsländern gemeinsam gelöst werden.«

»Aus meinem weiteren Bekanntenkreis haben etwa zehn bis 15 Leute vor, bald nach Deutschland zu fahren, um dort zu arbeiten.« Joanna Broniec arbeitet an der gleichen Universität wie Zaleski, sie bringt Ausländern an der KUL Polnisch bei. Einer ihrer Bekannten habe in Deutschland als LKW-Fahrer gearbeitet, bevor er während der Wirtschaftskrise entlassen wurde. Ein anderer war Trainer einer Ringermannschaft, immer mit Zeitverträgen für eine Saison. »Jetzt hofft er, langfristigere Engagements zu bekommen«, sagt die junge Lehrerin. »Ich habe schon den Eindruck, dass viele Leute darüber nachdenken, nach Deutschland zu gehen. Im Radio und Fernsehen hört man immer wieder davon.«
Attraktiv sei auch, dass viele Berufe gesucht würden: Ingenieure, Krankenhauspersonal, Bauarbeiter, Köche. »In Polen gibt es wenig Arbeit für solche Berufe.« Zudem seien in den vergangenen zwei Jahren viele Polen aus Irland, Großbritannien und Norwegen zurückgekommen, weil sie entlassen wurden. Für diese Leute sei Deutschland jetzt attraktiver, weil es näher an der Heimat liegt. »Auch, wenn es von Ostpolen dann doch eine ganz schöne Strecke ist«, so Broniec. Sie selbst hingegen denkt nicht über einen Umzug nach. Das höhere Gehalt, das sie in Deutschland bekommen könnte, reizt sie nicht. »Ich habe hier eine Arbeit, die mir Spaß macht, und ich möchte gerne hier bleiben, um bei uns die Dinge mitzugestalten.«
Im Internet ist von solchem Idealismus wenig zu spüren. Aber auch hier gehen die Meinungen auseinander. Den paradiesisch anmutenden Statistiken, wie viel Geld man in Deutschland verdienen kann und wie viele offene Stellen es gibt, stehen warnende Worte gegenüber – geschrieben von Polen, die seit Jahren in Deutschland leben und ihre Situation gar nicht so rosig finden. Andere Kommentare weisen auf die Arbeitslosigkeit hin, die es auch in Deutschland gebe. Gerade auch unter jungen Leuten.
Klare Fronten zeigt dagegen die Boulevardpresse auf. »Würden Sie sich für eine Arbeit in Deutschland entscheiden?«, fragte das Massenblatt Fakt seine Internet-Leser Anfang April. Das Ergebnis verwundert kaum, nachdem zuvor eine ausführliche Tabelle mit den Monatsgehältern verschiedener Berufe in Deutschland zu lesen war. 70 Prozent der Leser stimmten mit Ja. Wie groß der Unterschied zwischen Mausklick und Realität ist, werden die nächsten Monate zeigen.