Über die Gewalt gegen Roma in Ungarn

Die Angst vor der schöneren Zukunft

Die von Rechtsextremen an Roma in Ungarn verübte Gewalt eskaliert. Der Partei Jobbik, die hinter den rechten Auftritten steht, geht es um mehr als antiziganistische Stimmungs­mache.

Seit vergangener Woche wehren sich Roma im ungarischen Dorf Gyöngyöspata, das seit März von rechtsextremen Bürgerwehren belagert wird, gegen die Attacken ungarischer Neonazis.
Anfang vergangener Woche gab es zum ersten Mal offene und heftige Auseinandersetzungen zwischen etwa 100 in Gyöngyöspata lebenden Roma und einigen Dutzend militanter Nazis. Bereits im März patrouillierten etwa 200 Rechtsextreme für drei Wochen als Bürgerwehr durch die Straßen des kleinen Dorfes (Jungle World, 14/11). Rund 2 000 Neonazis waren dabei unter dem Banner der rechtsextremen, antisemitischen Partei Jobbik durch das 2 800 Einwohner zählende Dorf marschiert. Zwischenzeitlich hatte sich ein Großteil von ihnen aus Gyöngyöspata zurück­gezogen, doch am Osterwochenende kehrten etwa 200 paramilitärisch ausstaffierte Nazis zurück und erklärten das Dorf zum Austragungsort eines »Trainingslagers«.

In Tarnuniform und mit Gummigeschossen bewaffnet postierten sie sich vor den Häusern der Roma. Die zu diesem Zeitpunkt bereits über Wochen herrschende Angst veranlasste die Vertreter des örtlichen Roma-Rats, das Rote Kreuz um Hilfe zu bitten. 277 Frauen, Jugendliche und Kinder wurden daraufhin in ein Ferienlager nach Csilleberc und in ein Kulturzentrum in der ostungarischen Stadt Szolnok evakuiert. Einheiten der ungarischen Polizei, die sich in den Wochen zuvor sehr zurückhaltend gegenüber den Nazis verhalten und zum Teil offen mit ihnen sympathisiert hatten, verstärkten ihre Präsenz in Gyöngyöspata und nahmen die Organisatoren des Trainingslagers kurzzeitig fest. Doch nicht alle Teilnehmer verließen daraufhin das Camp. Sprecher der Selbstverwaltung der Roma berichteten, dass mehrere Nazis erneut ihre Häuser mit Steinen beworfen hätten. Ihnen hätten sich etwa 50 Einwohner aus dem Dorf angeschlossen.
Als bei einem Angriff unter anderem ein 13jähriger Junge schwer verletzt wurde, entschlossen sich einige der Roma, sich selbst zu verteidigen. Vergangene Woche fanden regelrechte Straßenschlachten im Dorf statt, mit mehreren Verletzten auf beiden Seiten. Bis dahin hatten zwei Nazi-Gruppierungen das Geschehen bestimmt: Szebb Jövöert (»Schönere Zukunft«) und Vederö (»Schutzmacht«). Nachdem die Lage eskaliert war, trat László Tabi vergangene Woche von seinem Amt als Bürgermeister von Gyöngyöspata zurück. Für den Posten will nun Tamas Eszes kandidieren, der Anführer der Vederö. Am Morgen nach den Auseinandersetzungen traf zur Verstärkung der militanten Rechtsextremen eine weitere selbsternannte Bürgerwehr namens Betyarsereg (»Betyaren-Armee«) ein.

Die drei rechtsextremen Gruppierungen waren in den vergangenen Wochen auch in den Orten Hajdúhadház, Teglas und Bocskaikert bei ähnlichen Szenarien wie in Gyöngyöspata in Erscheinung getreten. Sie gelten als Nachfolgeorganisationen der im Herbst 2009 offiziell verbotenen Ungarischen Garde, der paramilitärischen Organisation von Jobbik. Die martialischen Aufzüge der Unga­rischen Garde mit mehreren Tausend Mitgliedern begleiteten den Erfolg der rechten Politik in Ungarn in den vergangenen zehn Jahren. Jahr für Jahr griffen die Gardisten brutal die Budapest-Pride-Parade an, verfolgten Linke und attackierten Juden. Immer wieder kam es zu Aufmärschen in Dörfern und Siedlungen, in denen Roma leben. Es gab ungezählte Brandanschläge oder von Nazis durchgeführte »Umsiedlungen«. In der Regel berufen sich die Wortführer der Nazihorden dabei auf angebliche »Hilferufe der örtlichen Bevölkerung« angesichts der »zunehmenden Zigeunerkriminalität«.
Diese Propaganda findet große Zustimmung in Ungarn. Der gesellschaftliche Antiziganismus wird mit der Behauptung begründet, Roma seien eine »Ungarn feindlich gesinnte Minderheit« . Begünstigt wird Antiziganismus durch die Ghettoisierung der in Ungarn lebenden Roma. Viele Roma leben räumlich und ökonomisch isoliert in heruntergekommenen Vierteln oder am Rand der Städte. Sie sind deshalb ein leicht zu treffendes Ziel für Nazis. Als zwischen Juli 2008 und August 2009 bei mehreren Anschlägen sechs Roma brutal ermordet wurden, tat das der Zustimmung für die menschenfeindliche Ideologie von Jobbik keinen Abbruch. Diese befeuert die antiziganistische Stimmungsmache in den Medien und in der Politik und macht keinen Hehl daraus, dass sie bei den Aktionen der Bürgerwehren den Tod von Menschen offen mit einkalkuliert.
Die jüngsten Entwicklungen lassen dennoch eine neue Strategie der Rechtsextremen erkennen. Ihre Propaganda in den ländlichen Gebieten wird begleitet von einem »Aufklärungsprogramm« über die angeblich von den Roma ausgehenden Gefahren. Ein Beispiel dafür sind die »Selbstverteidigungstrainings«, die für die »unterdrückte ungarische Bevölkerung« in den Dörfern organisiert werden. Der Versuch der Rechtsextremen, lokalpolitisch an Einfluss zu gewinnen, ist eine Kampfansage an die nationalkonservative Regierungspartei Fidesz.
Lange hat Ungarns Regierung die paramilitärischen Aktivitäten lediglich verbal verurteilt und letztlich toleriert. Erst nach den jüngsten Ereignissen in Gyöngyöspata hat Innenminister Sandór Pinter die Aufmärsche verboten und bei Übertretung des Verbots Haftstrafen angedroht. Gergely Rubi, Abgeordneter von Jobbik in Hajdúhadház, kündigte trotzdem an, die Bürgerwehr Szebb Jövöert werde weiter im Dorf patrouillieren. Diese Provokationen gehören auch zur Strategie der Partei Jobbik, die sich häufig über Verbote hinwegsetzt und sich damit als »volksnahe Alternative« zur Fidesz präsentieren will.
Mit dem umstrittenen Mediengesetz und der jüngsten Verfassungsreform verfolgt verfolgt der ungarische Ministerpräsident Orbán das Ziel, seine innenpolitische Macht auszubauen. Weil Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft innehat, gerät seine Regierung jedoch immer mehr unter internationalen Druck. Die Evakuierung der Frauen und Kinder aus Gyöngyöspata wurde von Regierungssprechern als lang geplanter »Osterausflug« bezeichnet, was in Europa für Empörung sorgte. Dass Orbán in der Roma-Politik möglichst viel an die EU delegieren will, erklärt unter anderem, warum die Jobbik mit ihrer antiziganistischen Propaganda triumphiert. Fast zehn Jahre lang waren die Fidesz und Jobbik politisch verbündet. Jetzt präsentiert sich Jobbik als die Partei, die dafür sorgt, dass sich niemand in ungarische Angelegenheiten einmischt.
Lange waren die Stimmen, die sich gegen Rechtsextremismus äußern, im Land kaum zu hören. In den vergangenen Wochen demons­trierten in Budapest immerhin 30 000 Menschen anlässlich der Verfassungsreform für Menschenrechte und mehr bürgerliche Freiheiten. Doch solange die Nationalkonservativen und die Rechts­extremen die ungarische Politik bestimmen, wird der Machtkampf weiter auf den Rücken der Roma und anderer als »nicht-ungarisch« geltender Minderheiten ausgetragen. Die dabei drohende politische Isolation Ungarns auf europäischer Ebene kann den Ultranationalisten nur recht sein.