Pierre Boulez, der berühmteste Dirigent der Neuzeit, im Gespräch

»Die Klänge sterben jedes Mal anders«

Pierre Boulez ist der letzte seiner Generation: Er ist der berühmteste Dirigent, Komponist und Klangforscher der Neuzeit. Felix Klopotek begab sich nach Paris in den Tempel der Avantgarde und sprach mit dem 86jährigen Künstler, der seine Grammys als Regalstützen verwendet, über die ewige Unfertigkeit seines Werks, das Komponieren ohne Stil, seinen Wunsch, Konzerte ins Internet zu stellen, und den Konservativismus und das Elend des gegenwärtigen Konzertbetriebes.

»Die Musik ist fordernder, anspruchsvoller als andere Künste. Sie findet in der Zeit statt, damit haben viele Leute ein Problem. Bei Musik müssen Sie sich zuerst hinsetzen. Sie müssen bis zum Ende zuhören – und haben dann vielleicht immer noch nicht verstanden, worum es ging! Denn: Sie können nicht zurück. Man verliert sich schnell in Musik, man kann sich schlechter orientieren. Viele reagieren darauf mit Langweile, dann mit Zorn.«
Pierre Boulez

Direkt neben dem Centre Pompidou, im Herzen von Paris, liegt das Institut de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique, kurz: IRCAM, ein Tempel der Avantgarde und der Neuen Musik – Ausbildungsstätte und Forschungszentrum gleichermaßen. Aber man sieht nichts bzw. nur einen schmalen Turm, der erst vor ein paar Jahren errichtet wurde, das eigentliche In­stitut mit seinen Aufführungssälen, Aufnahmestudios – ausgerüstet selbstverständlich mit der neuesten Technologie –, einem schalltoten Raum und etlichen Büros ist unterirdisch untergebracht, vier Stockwerke tief reicht es.
Das IRCAM wurde 1976 eigens für Pierre Boulez eingerichtet. Es gibt wohl keinen Komponisten der Neuzeit, der eine derartige institutionelle Wertschätzung erfahren hat. Schon früh, seit den fünfziger Jahren, hat Boulez das Feld seiner eigentlichen kompositorischen Tätigkeit erweitert, zunächst als Dozent der Darmstädter Ferienkurse, dann als Dirigent. Er versteht sich als gesellschaftlicher Klangforscher, ebenso sehr als Physiker wie als Soziologe der Avantgarde, als jemand, der die Neue Musik immer auch im Kontext sozialer und pädagogischer Forderungen ansiedelt. Bis 1992 war er Direktor des IRCAM. Sein Büro liegt etwas abseits vom Trubel, man schreitet einen langen Gang entlang. Immer ruhiger wird es.
Zu Boulez zu gelangen, soll immer noch etwas Besonderes sein. Der Raum selbst ist schlicht und funktional eingerichtet. Kann es wirklich sein, dass jemand seine Grammys schlichtweg als Regalstützen verwendet?
Er ist der letzte seiner Generation. Karlheinz Stockhausen starb Ende 2008, Mauricio Kagel im September 2009. Luigi Nono, György Ligeti, John Cage – ihr Tod liegt noch einige Jahre länger zurück. Pierre Boulez, der am 26. März seinen 86. Geburtstag feierte, ist der letzte jener Nachkriegskomponisten, die – nach Schönberg und dessen Wiener Schule der Zwölftonmusik und freien Atonalität – die zweite Revolution in der ernsten Musik des 20. Jahrhunderts ausriefen.
In den fünfziger Jahren zeigte sich diese Revolution gespalten: Eine New Yorker Schule um die Komponisten John Cage und Morton Feldman experimentierte mit dem Zufall und offenen Kompositionsmodellen, denen etwa graphische Notationen zugrunde lagen. Die Kontrolle des Komponisten bestand einzig noch darin, die Grenze zum Kontrollverlust zu markieren. Dem schroff gegenüber stand in Europa ein sogenanntes Triumvirat des Serialismus: Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und Pierre Boulez – damals allesamt noch in ihren frühen Zwanzigern – radikalisierten die Zwölftonmusik Schönbergs und Weberns zu einer total determinierten Methode. Alle Elemente einer Komposition – Tonhöhen, Tondauern und -stärken – wurden vom Komponisten vorab in Reihen festgelegt. Das Stück selber entfaltete dann bloß noch logisch streng, was die Tonreihen bereits implizierten.
Das Ergebnis ist, zumal für ungeübte Ohren, paradox: Die perfekt geordnete, hyperdeterministische Musik klingt unübersichtlich, sprunghaft-eruptiv, chaotisch. Die Komplexität der Stücke überfordert jede spontane sinnliche Wahrnehmung, und es wundert einen nicht, dass so mancher lieber die Partituren las, als sich das entsprechende Stück tatsächlich anzuhören.
Die Annäherung der sich durchaus nicht freundlich gesonnenen Schulen setzte schon Mitte der fünfziger Jahre ein: Der Serialismus brach sich an sich selbst, den serialistischen Tonsetzern fiel das Doktrinäre, Formalistische, auch Sterile ihrer Methode selbst auf, immer häufiger kamen sie zu einem Punkt, an dem, trotz aller Determination, künstlerische Intu­ition, die freie Entscheidung der Phantasie gefragt war. Im strengen Serialismus wütete etwas Selbstzersetzendes, und es war Boulez, der das eine wie das andere zur Gänze auskostete, der auf streng serialistische Werke freie Kompositionen folgen ließ: Stücke, die nicht mehr aus sich selbst schöpften, sondern etwa aus der Lyrik René Chars oder Stéphane Mallarmés. Boulez rückte den Klang in den Vordergrund und verabschiedete sich von der Dominanz der Reihe. Seine Handschrift besteht darin, sich selbst immer durchzustreichen, um sich neu zu erfinden – für ihn gilt das bis heute.
Weltkarriere hat Boulez allerdings als Dirigent gemacht: Er leitete nacheinander das BBC Symphony Orchestra und das New York Philharmonic Orchestra, von 1976 bis 1980 dirigierte er bei den Bayreuther Festspielen Wagners Opus »Der Ring des Nibelungen«. Als Dirigent widmet er sich zum einen Kompositionen von Kollegen, um diese bekannt zu machen und zu etablieren (was ihm – natürlich – den Vorwurf eingebracht hat, ein Politiker der Neuen Musik zu sein, der seine Macht übers Dirigieren ausspielt), zum anderen untersucht er akribisch die Musik, die seiner eigenen vorausgegangen ist: Seine Einspielungen von Webern (das Gesamtwerk), Schönberg oder Strawinsky sind maßgeblich.
Es überrascht einen dann doch, dass er im Interview durchblicken lässt, dass das Dirigieren für ihn eher eine untergeordnete Rolle spielt: Es ist Mittel zum Zweck – und dieser ist die Durchsetzung der ernsten Musik des 20. Jahrhunderts, die Etablierung eines Kanons, der auf die Musik der vergangenen 100 Jahre hinführt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das Komponieren das Zentrum seines Schaffens bildet. Dieses Jahr sollte sogar ausschließlich im Zeichen des Komponierens stehen, aber weil die Kölner Musik-Triennale ihm zu Ehren ein Festival ausrichtet, kommt Pierre Boulez am 8. Mai nach Köln, um Ravel, Strawinsky und Schönberg zu dirigieren.
Pierre Boulez, der seit über 50 Jahren abwechselnd in Paris und Baden-Baden lebt, spricht perfekt Deutsch. Er ist viel kleiner, als man ihn von vielen Fotos kennt. Das liegt sicher daran, dass Dirigenten gerne von unten fotografiert werden, damit das Würdevolle und Herrschaftliche ihrer Gesten besser zur Geltung kommt. Boulez selbst hat an diesen Gesten kein Interesse. Auch mit 86 Jahren strahlt Boulez kaum Ruhe und Selbstzufriedenheit aus, sondern wirkt umtriebig und immer auf dem Sprung.

*

Herr Boulez, Sie sind bekannt als Komponist und Dirigent, gleichermaßen als Autor und als Interpret. Wie würden Sie selbst das Verhältnis zwischen diesen Polen beschreiben?
Als zwei Facetten derselben Persönlichkeit. Als Komponist habe ich den Vorteil, Partituren von innen zu kennen: Sie erschließen sich mir strukturell und emotional besser. Wer eine Kompo­sition nur strukturell interpretiert, erstarrt schnell im Formalistischen, es fehlt das Gefühl. Wer nur von seinem Herzen aus interpretiert, verliert die Übersicht. Beide Herangehensweisen sind also gleich wichtig. Es gibt Komponisten, die haben lange Stücke geschrieben, denken Sie an einen Satz aus einer Symphonie Mahlers. Den kann man als Dirigent nicht bloß gefühlsmäßig erfassen, den muss man auch mit kühlem Verstand organisieren. Je besser ich eine Partitur kenne, desto freier kann ich mich in ihr bewegen, es gibt da also eine Verbindung zwischen Planung und Spontaneität, die für mich als Komponist selbst sehr wichtig ist. Als Komponist wiederum profitiere ich von meiner Arbeit als Dirigent. Bei Proben und in Zusammenarbeit mit Orchestern lernt man sehr viel über das Stück, über Musik schlechthin. Man kann sich ganz in die Praxis versenken und zum Beispiel nur einzelne Klänge proben. Für diese Erfahrungen nehme ich in Kauf, dass das Dirigieren mir natürlich Zeit fürs Komponieren wegnimmt. Auch wenn es schwer fällt.
Sie haben nicht seit jeher Ihre Zeit aufteilen müssen: Ihre Karriere als Dirigent begann erst Ende der fünfziger Jahre, mit ihren ersten Stück sind Sie bereits zehn Jahre früher in Erscheinung getreten.
Ich wollte überhaupt kein Dirigent werden, das entstand aus einem praktischen Zwang: Es gab damals kaum Dirigenten, die sich an die Stücke heranwagten, die wir geschrieben hatten. Man musste es selber machen! Es gab Michael Gielen, Bruno Maderna – und dann mich. Es hat sehr viel Zeit gekostet, sich mit der Struktur, der inneren Funktionsweise der Neuen Musik vertraut zu machen, die meisten Dirigenten haben sich nicht dieser Anstrengung unterzogen. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Bei mir kam es sehr plötzlich. 1959 beim Festival in Donau­eschingen ist der Dirigent des Südwestfunk-Orchesters plötzlich erkrankt. Jemand musste einspringen, ich habe es dann gemacht – ohne Erfahrung, ohne besondere Kenntnis der Stücke. Als Dirigent habe ich eigentlich alles durch die Praxis gelernt, durch die Erfahrungen mit den Stücken von Stockhausen, Lucio Berio und natürlich auch meinen eigenen. Ich habe mich nie zum Dirigieren berufen gefühlt, aber nachdem ich eingesprungen war, wusste ich sofort, dass ich es kann.
Als Dirigent hat man die Möglichkeit, an einem Kanon zu arbeiten: Man konzentriert sich in der Stückauswahl zum Beispiel auf diejenigen, die auf die Musik der Moderne hinweisen, der Dirigent kann also historische Grundlagen bestimmen, musikalische Traditionslinien freilegen. Ist das eine Motivation für Ihre Arbeit als Dirigent?
Wenn ich Konzerte gebe und Stücke dirigiere, steht eigentlich immer die Musik des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass diese Musik vernachlässigt wird, man spielt ab und an Stücke, vereinzelt, ohne Hingabe, ohne Leidenschaft. Und diese Leidenschaft wollte und will ich immer noch vermitteln, ich will auch das Wissen, darüber, was in den letzten 100 Jahren musikalisch passiert ist, vergrößern. Man darf auch eines nicht vergessen: Die ersten Interpreten unserer Musik, waren nicht besonders begabt. Das waren die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, da dachte sowieso kaum einer daran, sich ausgerechnet um Neue Musik intensiver zu kümmern. Dementsprechend dilettantisch waren die ersten Aufführungen. Ich kann Partituren lesen, ich kann mich von ihnen begeistern lassen – aber wenn ich damals die Aufführung gehört habe, war alle Begeisterung verflogen. Das musste sich ändern. Schönberg hat einmal gesagt: Meine Musik ist nicht modern, meine Musik ist schlecht gespielt. Da hatte er Recht.
Sie würden im Zweifelsfall das Lesen einer Partitur einer Aufführung vorziehen?
Ich lese sehr gerne Partituren, weil ich die ideale Aufführung im Kopf habe. Ich weiß sofort: So müsste es klingen. Eine Partitur kann man wie einen Roman oder ein Gedicht lesen, man kann einzelne Stimmen isolieren, vor- und zurückblättern, sich einzelne Passagen anstreichen, um später noch einmal darauf zurückzukommen. Das alles ist nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, wenn man sich nur eine Platte anhört. Musik funktioniert nicht viel anders als Literatur, aber in einem Roman können Sie Abschnitte, die Sie nicht verstanden haben, immer wieder lesen. Das ist in einem Konzert unmöglich. Vielleicht ändert sich das, wenn man die Musik mit Hilfe moderner Computer-Programme hört.
Gibt es für Sie Komponisten oder Werke, die sich für Sie erschöpft haben? Wo Sie zu dem Punkt gekommen sind, an dem Sie sagen: Wagner – um einen Komponisten zu nennen, an dem Sie sich häufig abgearbeitet haben –, Wagner ist für mich ausgespielt?
Ja, den Punkt gibt es. Aber ich bin sehr vorsichtig, das in die Welt hinauszuposaunen. Ich denke mir, vielleicht ist das ja mein Fehler. Sie haben Wagner erwähnt – der Beziehungsreichtum in seinen Opern scheint unerschöpflich. Würde ich also sagen, ich sei mit Wagner fertig, läge das Problem ganz auf meiner Seite. Andererseits nehme ich keinem ab, der nach seiner x-ten Interpretation einer Beethoven-Sonate immer noch davon spricht, er würde Neues entdecken. Vielleicht Details. Ich denke, man muss sich auf sich besinnen und offen sagen: Ich beende hiermit die Auseinandersetzung mit einem Komponisten. Aber man sollte dann auch den Mut haben, nach, sagen wir, zehn Jahren wieder zurückzublicken, um festzustellen, dass der Komponist einem vielleicht doch noch was zu sagen hat. Es ist wie mit einer Landschaft: Die bleibt immer dieselbe, aber die Jahreszeiten ändern sich – und somit ändert sich auch die Landschaft. Zudem geht es nicht immer darum, Neues zu entdecken. Wenn ich heute Webern dirigiere, dann entdecke ich in seinen Werken vielleicht nichts Neues mehr – aber ich bin ein besserer Dirigent geworden. Ich bin flexibler geworden, gelassener, verstehe den inneren Zusammenhang von Weberns Kompositionen gründlicher. Das alles hat nichts mit Webern selbst zu tun.
Ein entscheidendes Merkmal Ihrer Stücke ist, dass sie unabgeschlossen sind. Sie revidieren häufig, überarbeiten immer wieder – manchmal dauern diese Prozesse mehrere Jahrzehnte. Warum sagen Sie nicht: Hier mache ich einen Schritt und gehe zu etwas anderem über?
Weil ich meine Stücke auch als Interpret lese. Weil ich mit einigem Abstand höre, was ich damals nicht präzise genug formuliert habe. Und das brennt sich mir ein – ich bekomme regelrecht ein schlechtes Gewissen. Ich muss das korrigieren, reduzieren, weiterentwickeln. Man muss die Konsequenzen aus den eigenen Stücken ziehen, das ist es, was ich Werktreue nenne. Ich weiß, dass das viele Kollegen anders sehen, Stockhausen war da besonders radikal. Natürlich wusste er um das Ungenügende in früheren Stücken – aber diese waren für ihn Geschichte, er wollte dahin nicht wieder zurück. Ich kann das nicht. Ich muss erst das Problem lösen. Manchmal brauche ich dafür 50 Jahre.
Wäre es nicht folgerichtig, die unterschied­lichen Entwicklungsstufen, die verschiedenen Fassungen auch für die Hörer zugänglich zu machen, um den Prozess nachzuvollziehen?
Nein, das ist nur für Musikwissenschaftler von Interesse, es geht doch nicht darum, dass man Fehler und ihre Überwindung dokumentiert, sondern dass man an einem Kunstwerk arbeitet.
Gibt es für Sie eine generelle Methode, eine zentrale Idee, die ihre Stücke durchdringt?
Die Methode hängt von jedem Stück selbst ab. »Eclat/Multiples« geht von einem Klang aus, die klanglichen Besonderheiten, die sich ergeben, wenn man bestimmte Resonanzinstrumente anschlägt – also ein Klavier oder ein Glockenspiel. Mich interessiert in diesem Stück, was die Zeit mit Klängen macht, wie die Klänge nach einer gewissen Dauer sterben. Diese Klangentwicklung wollte und konnte ich auch nicht in einem Taktschema fixieren. Die Ansage für den Dirigenten ist: Warten Sie, bis ein Klang gestorben ist. Aber die Klänge sterben jedes Mal anders, das hängt vom Raum ab, vom Anschlag. Man muss das Stück sehr frei interpretieren und sich vom Metrum emanzipieren. Das alles rührt aus der ersten Idee her, einzelne Klänge in ihrer zeitlichen Entwicklung zu verfolgen. Andere Stücke leben dadurch, dass ich die Zentralperspketive aufbrechen wollte, verschiedene Klangrichtungen kombiniert habe, um so zu dem Eindruck einer Vielschichtigkeit, einer Mehrdimensionalität zu kommen. Dem lag die Idee zugrunde, dass wir Orchesterwerke häufig sehr flach erleben: Vor uns steht ein Dirigent, dahinter das Orchester. Aber wie wäre es, wenn wir um das Orchester gewissermaßen herumwandern könnten? Wie setze ich verschiedene räumliche Eindrücke in klangliche Ereignisse um? Aus diesen Fragen erwächst dann ein neues Stück. Aber Sie sehen, die erste Frage, die erste Idee ist meistens sehr einfach, sehr roh, aber aus dieser Einfachheit lässt sich viel herausholen.
Einige Ihrer Kompositionen lassen sich stark auf Literatur ein, etwa auf die Gedichte von René Char. Der Grundimpuls war demnach eine starke Lektüreerfahrung, der Wunsch, eine bestimmte Lyrik in Musik zu übersetzen?
Die Poesie half mir, aus bestimmten kompo­sitorischen Problemen einen Ausweg zu finden. Indem ich mich an etwas orientiert habe, was keine Musik ist, habe ich Lösungen für meine Musik gefunden. Das kann auch auf sehr indirekte Weise stattfinden, etwa wenn ich bei Marcel Proust lese, wie er sich mit Wagner auseinandergesetzt hat. Direkt hat das mit meiner Arbeit nichts zu tun, ich habe weder nach Proust noch nach Wagner komponiert. Trotzdem hat mir die Lektüre geholfen. Sie werden viele strukturelle Parallelen zwischen »Ulysses« von James Joyce und der Oper »Wozzeck« von Alban Berg entdecken, die Anstrengung etwa, für jede neue Szene eine eigene Sprache zu entwickeln, das ganze Repertoire der zur Verfügung stehenden ästhetischen Mittel heranzuziehen. Mir hat das verdeutlicht, dass es vermeintlich unüberwindbare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt.
Man zählt Sie zu der Generation der Serialisten, zu jenen Komponisten also, die nach einer sehr strengen Methode arbeiteten, die alle Parameter einer Komposition vorab determinierte. Gleichzeitig gehörten Sie Anfang der fünfziger Jahre in Europa zu den ersten, die den Serialismus überwunden haben. War das die Konsequenz daraus, dass Sie sich so stark auf einzelne Ideen, poetische Inspirationen eingelassen haben?
Was hat mich an der Zwölfton-Kompositionsweise gestört? Sie neigt dazu, die Stücke auf einzelne Punkte, meinetwegen auch: unendlich viele Punkte zu reduzieren. Ich hatte herausgefunden, dass man einen Akkord wie ein Bild beschreiben kann, dass man ihn als Klangplastik wahrnehmen kann und dass man, um etwas Neues zu schaffen, ihn nicht in seine Einzelbestandteile – eben in einzelne Klangpunkte, wie das im Serialismus der Fall war – auflösen muss. In »Structures I« von 1952 habe ich den Serialismus so streng gefasst, so konsequent verwirklicht, dass das Ergebnis absurd ist. Und schon ein Jahr später habe ich frei komponiert, habe mich bewusst ganz von jedem Methodenfetischismus gelöst. Diese Spannung zwischen strengen Regeln und freier Gestaltung habe ich auch in früheren Epochen entdeckt, denken Sie an die Barockmusik, in der das freie Präludium der doch häufig recht steifen Fuge gegenübersteht. Diese Spannung war schon damals sehr produktiv. In gewisser Hinsicht denke und komponiere ich ohne Stil – ich habe keinen, ich gehe von keinem Stil aus. Bei mir steht die Frage nach dem Warum im Vordergrund. Warum haben Komponisten in anderen Epochen so und nicht anders geschrieben, warum wählen sie diese Kontraste? Die Frage nach C-Dur oder fis-Moll ist doch völlig uninteressant, interessant ist, was sich aus einer Idee oder einer Spannung heraus entwickelt.
Das kann man als dialektischen Prozess beschreiben: Sie arbeiten nach strikten Vorgaben, halten sich sklavisch daran, bis sich die Regeln als absurd erweisen, und gelangen darüber ins Freie, Offene, das sich aber nicht verliert, sondern auf den schon erarbeiteten Resultaten basiert. Sie loten die Extreme aus.
Man muss sich von bestimmten Sachen abstoßen, um ihren Wert zu erkennen. Für das vorletzte Stück, das ich geschrieben habe, »Sur Incises« (1996/98), hatte ich die Idee, ein Klavierkonzert zu schreiben. Woran denkt man da? Ans 19. Jahrhundert, an Brahms, es ist zum Vergessen! Aber ich wusste natürlich, dass Strawinsky oder Bartok das Klavierkonzert für das 20. Jahrhundert bewahrt haben, an sie wollte ich anknüpfen – ohne aber in irgendeiner Weise ihren Klang zu kopieren oder aufzugreifen. Also habe ich Stimmen für Vibrafon und Marimba und für drei Harfen komponiert, der Klang wird dadurch radikal anders. Statt einem Klavier setzte ich drei ein. Dadurch entsteht eine Symmetrie – drei Klaviere, drei Harfen, drei Schlag­instrumente, eine Ordnung, innerhalb der ich die Harfen noch einmal besonders isoliere. Beim Komponieren habe ich schon ganz klare physisch-räumliche Vorstellungen, wie sich der Klang entwickeln soll. Aus der ersten Idee, ein Klavierkonzert zu schreiben, ist also etwas anderes geworden.
In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Komponisten aus Ihrer Generation verstorben: György Ligeti starb 2006, Karlheinz Stockhausen 2007, Mauricio Kagel 2008. Mit dem Tod endet auch das Werk, es liegt jetzt geschlossen vor, wird zu einem Objekt der historischen Betrachtung. Könnten Sie dem zustimmen, dass die Nachkriegsgeneration der Avantgarde-Komponisten zur neuen Klassik wird – zur Klassik des späten 20. Jahrhunderts?
Ohne Zweifel, es gibt Kompositionen von Stockhausen, die haben eine Epoche geprägt, das sind Klassiker.
Würden Sie Ihr Werk in diese Tradition, in diese neue Klassik einordnen?
Einige Stücke, ja. Aber das soll die Musikwissenschaft entscheiden.
Wie schätzen Sie die Situation der modernen Musik ein?
Schon die Musik, die wir für gewöhnlich als Klassik bezeichnen, spielt ja im öffentlichen und intellektuellen Leben keine allzu große Rolle. Die Neue Musik hat es da noch schwerer. Es gibt gerade unter Intellektuellen keine breite Debatte über unsere Tradition. In Frankreich sieht es ganz schlecht aus, in Deutschland ist es etwas besser. Schon der Ausdruck »ernste Musik« wird belächelt. Das stört mich. Die Intellektuellen akzeptieren in der Rockmusik ein künstlerisches Niveau, das sie in der Literatur, in der Poesie, der philosophischen Debatte oder der Bildenden Kunst niemals akzeptieren würden. Diese Niveau-Unterschiede werden noch nicht einmal reflektiert.
Wir sitzen hier quasi unter dem Centre Pompidou, vor dem täglich sehr viele Menschen warten, die sich radikal moderne Kunst anschauen wollen. Es gibt Hollywood-Regisseure, die wie selbstverständlich Methoden von Avantgardisten wie Jean-Luc Godard adap­tie­ren und kommerziell erfolgreiche Filme drehen. Es ist nur ein wenig übertrieben, zu behaupten, die Avantgarde habe gesiegt. Aber für die Musik gilt das nicht.
Das ist ein Problem unserer Erziehung. Das muss man ganz klar festhalten. Es hat aber auch etwas mit der Musik selbst zu tun, sie ist vielleicht fordernder, anspruchsvoller als andere Künste. Sie findet in der Zeit statt, damit haben viele Leute ein Problem. Gehen Sie ins Centre Pompidou und schauen sich eine Ausstellung an. Gefällt Ihnen ein Bild oder eine Installation nicht, ist es für Sie überhaupt kein Problem, zum nächsten zu wechseln. Sie gehen durch die Ausstellung nach Ihrem eigenen Rhythmus, Sie erleben die Bilder und Objekte in Ihrer Zeit. Das ist völlig zwanglos – Sie sind frei. Und bei der Musik? Da müssen Sie sich zuerst hinsetzen. Sie müssen bis zum Ende zuhören – und haben dann vielleicht immer noch nicht verstanden, worum es ging! Denn: Sie können nicht zurück. Man verliert sich schnell in Musik, man kann sich schlechter orientieren. Viele reagieren darauf mit Langweile, dann mit Zorn, und am Ende werden Dirigent und Komponist ausgebuht. Es ist schier unglaublich, aber nach über 60 Jahren erlebe ich das immer noch.
Und dann müssen Sie noch zwei Sachen bedenken: Zum einen ist ein Konzert immer ein einmaliges, nicht wiederholbares Erlebnis. Das ist grundsätzlich so. Zum anderen sind viele Konzert-Programme so konservativ, starr und auch langwierig, dass Sie kaum die Chance haben, mit einem von Ihnen als kontrovers erlebten Stück noch einmal in Berührung zu kommen. Sie sind von einer Komposition irritiert, aber das nächste Mal, dass Sie Gelegenheit hätten, dieses Stück ein zweites Mal zu hören, wird in drei Jahren sein! Unmöglich, sich dann noch an die erste Aufführung zu erinnern!
Was wäre das Ideal?
Dass man die Konzerte aufnimmt und die Aufnahme sofort allen Interessierten zugänglich macht. Das ist in Zeiten der Digitalisierung und des Internets problemlos möglich. Man kann im Internet das Stück auch viel besser kommentieren. Programmtexte, die man vor einem Konzert in die Hand gedrückt bekommt, sind doch häufig oberflächlich. Außerdem, wer hat die Zeit, sie noch schnell zu lesen? Das Ideal wäre also, dass man Konzerte oder Musikaufführungen wie eine Malerei-Ausstellung konzipiert, in der die Leute zwischen den Stücken, den Texten, den Interpretationen oder innerhalb eines Stückes zwischen seinen Abschnitten hin und her wandeln können.
Wenn ich mir daran gemessen den aktuellen Konzertbetrieb anschaue …
… dann müsste sich immer noch sehr viel ändern. Eigentlich alles.
Ehe man den Konzertbetrieb umstürzt, müsste man nicht noch grundsätzlicher zielen?
Das stimmt, die Zuhörer haben sehr unterschiedliche Vorstellungen, das muss man akzeptieren, damit muss man umgehen. Wir haben einmal ein Experiment gemacht und einen musikalisch gänzlich Ungebildeteten, einen musikalisch Interessierten und einen musikwissenschaftlich ausgebildeten Hörer eingeladen, ein Stück von Mozart zu hören und danach eines von Stockhausen. Der Ungebildete hatte bei Mozart immerhin eine grundlegende Wiederholung entdeckt. Der Interessierte konnte schon wesentlich mehr Strukturelemente benennen, und der Musikwissenschaftler hat das Stück perfekt beschrieben. Dann kam Stockhausen: Der Ungebildete hat einfach die lauteste Stelle als den Höhepunkt des Stücks beschrieben, ging also völlig unstrukturiert vor. Der Interessierte konnte – wie schon bei Mozart – einige Verbindungen und Übergänge erkennen. Der Musikwissenschaftler war sich wiederum ganz sicher, die Form des Stücks erfasst zu haben, lieferte auch eine detaillierte Beschreibung. Aber die hatte nichts mit dem zu tun, wie Stockhausen das Stück tatsächlich angelegt hat! Es hatte seine Form erfunden, nicht die von Stockhausen verstanden.
In Köln und auch in anderen deutschen Großstädten finden derzeit viele Projekte statt, mit denen versucht wird, Neue Musik Kindern und Schülern nahe zu bringen. Das Wichtigste scheint mir dabei zu sein, dass die Komponisten und Pädagogen den Jugendlichen vermitteln, dass es eben kein Chaos ist …
… sondern das Gegenteil, eine ästhetische Gesetzmäßigkeit. Es kommt sehr darauf an, dass man dieses Formprinzip versteht!
… und dass aus diesem Gesetz, dieser Form erst eine bestimmte ästhetische Freiheit und Kreativität entspringt.
Man muss die jungen Leute provozieren, damit sie sich in diese spezifische Kreativität hineinversetzen. Man kann Neue Musik nicht so lehren, wie man Mathematik unterrichtet. Tut man es, verliert man sie.
Sie kommen von der Mathematik.
Das ist mein Lieblingsgerücht über mich! Mathematik war mein Abiturfach, weit gekommen bin ich also nicht. Aber ich lese immer noch hier und da, ich hätte Mathematik studiert.
Arbeiten Sie ständig oder gönnen Sie sich auch längere Auszeiten?
Ich bin immer mit Musik beschäftigt, nur stehe ich mir manchmal selbst im Weg: Wenn ich viel dirigiere, kann ich nicht komponieren – und umgekehrt. Letztes Jahr, rund um meinen 85. Geburtstag, habe ich viel dirigiert. Dieses Jahr soll ganz im Zeichen des Schreibens stehen. Mein Auftritt in Köln ist die Ausnahme.
Kommen viele junge Kollegen zu Ihnen, um mit Ihnen über Ihre Stücke zu reden?
Ich bin nicht der schlecht gelaunte Großvater, den man bloß in Ruhe lassen soll. Ich habe jahrelang als Professor gelehrt und habe auch heute noch einige Lehraufträge, im Rahmen dieser Tätigkeit ist es mir sehr wichtig, mit jungen Komponisten in Austausch zu treten und mich mit ihnen über ihre Stücke zu unterhalten, wobei es mir nicht darum geht, ihnen einen Stil aufzudrücken. In der Auseinandersetzung mit den jüngeren steht für mich weniger das einzelne Stück im Mittelpunkt, ich möchte vielmehr generell über ihren Zugang zur Musik reflektieren.
Hören Sie zu Hause Musik?
Zu Hause?
Naja, privat.
Privat, hm. Sie meinen, ob ich Klavier spiele?
Ich dachte eher an eine schöne Aufnahme, die Sie sich abends auf CD anhören.
Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe. Das ist mir wichtig. Ich weiß, man kann ganze Wochen nur mit CDs und DVDs verbringen, aber dazu ist mir meine Zeit zu wertvoll. Auch die eigenen Einspielungen höre ich maximal einmal. Ich bin kein Bibliotheksmensch, unser Jahrhundert erinnert mich an eine Bibliothek, und das stört mich. Wir sind begraben unter Tonnen von Büchern und Tondokumenten. Das ist grausam. Irgendjemand findet in einem Archiv noch das Fragment einer Barockkomposition und es wird ein Riesenaufstand darum gemacht. Alles muss archiviert und dokumentiert werden. Nein, ich finde, man muss die Kraft aufbringen, sich am Ausdruck der Gegenwart zu orientieren, sich mit dem Heute auseinanderzusetzen und nicht irgendwelche Meisterwerke zu entdecken, die gar keine sind. Die Meisterwerke sind alle schon bekannt. Ich will nicht gegen einzelne Epochen, etwa gegen den Barock, sprechen. Nur – wenn man sich in der Musik spezialisiert, dann birgt das auch eine Gefahr. Ich habe einmal gesagt, und ich wiederhole mich gern, Spezialisten etwa in der Medizin sind mir lieb. Es muss Ärzte geben, die sich nur mit der Leber und solche, die sich nur mit Knochen auskennen. Aber in der Musik wäre das eine schreckliche Beschränkung: Jemand, der sich nur im 19., aber nicht im 18. oder 20. Jahrhundert auskennt – wie kann man da zu einem angemes­senen Musikverständnis kommen?
Weil die musikalische Entwicklung sich nicht auf eine Epoche beschränken lässt, der Prozess zeitlich übergreifend ist?
Genau. Es gibt in der Musik zahlreiche Beispiele, wie Komponisten späterer Epochen mit vorangegangenen Klassikern spielen, sie parodieren und aggressiv verzerren. Da rücken die Epochen, die zeitlich ein paar hundert Jahre auseinanderliegen, künstlerisch ganz nah zusammen. Es stört mich zutiefst, wenn sich die Leute von der Last der Vergangenheit begraben lassen und nicht mehr das spielerische Element in der Konfrontation der Epochen entdecken.

Pierre Boulez in Köln:
Vom 8. bis zum 15. Mai findet in Köln das Festival »Acht Brücken« statt, dessen erste Ausgabe Pierre Boulez – vor allem seinem kompositorischen Werk – gewidmet ist. Er selbst wird das Festival am 8. Mai eröffnen: Er dirigiert das Mahler Chamber Orchestra, gespielt werden Werke von Maurice Ravel, Arnold Schönberg und Igor Strawinsky (Philharmonie, 20 Uhr). Weitere Höhepunkte folgen: Der Violinist Michael Barenboim konfrontiert am 9. Mai in der »Lagerstätte für die mobilen Hochwasserschutzelemente« (in der Köln-Rodenkirchener Brücke) Boulez’ »Anthèmes I« und »Anthèmes II« mit Johann Sebastian Bachs »Partita für Violine solo Nr. 2 d-Moll BWV 1004«. Am 10. Mai führt das einst von Pierre Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain »Le Marteau sans maître« und »Sur Incises« auf (Funkhaus Wallrafplatz, 20 Uhr). Zwei Tage später, am 12. Mai, spielt das Nieuw Ensemble u.a. die Boulez-Klassiker »Éclat« und »Mémoriale (… explosante fixe … Originel)«. Abgerundet wird das Festival durch ein umfangreiches, didaktisch ausgerichtetes Rahmenprogramm, das ganz dem pädagogischen Ethos des Komponisten entspricht. Das komplette Programm ist zu finden unter: www.achtbruecken.de