Die deutsche Moraldebatte

Wir sind die Guten

Statt über den Tod Ussama bin Ladens freut sich die deutsche Öffentlichkeit darüber, dass sie sich einmal wieder moralisch überlegen wähnen darf.

Lange sahen die Deutschen keinen Anlass mehr, an die Menschenwürde zu appellieren. Denn für sie war die Erde längst ein Planet der Menschenrechte und des Friedens. Dass so etwas wie Menschenrechtsverletzungen möglich sind, hatten sie schon fast vergessen.
Wohl deshalb war hierzulande die Empörung so groß, als ein US-amerikanisches Militärkommando in den souveränen Staat Pakistan eindrang und dort Ussama bin Laden tötete. Einfach so! Gegen das Völkerrecht! Dabei war, wie Jakob Augstein auf Spiegel Online und im Freitag schrieb, bin Laden »ein unbewaffneter alter Mann, der von Frauen und Kindern umgeben war«, ein, wie die Taz schreibt, »gebrechlich wirkender Mann«, der ein jämmerliches Dasein fristete. Die Entrüstung war noch größer, als Kanzlerin Angela Merkel sagte, sie freue sich über die Tötung dieses Mannes. Fast ganz Deutschland fragte sich: Wie kann man sich angesichts der Erschießung eines Menschen bloß freuen?
Der katholische Militärbischof Franz Josef Overbeck mahnte die Achtung der Würde des Menschen an. Die Bundestagsvizepräsidentin und Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands, Katrin Göring-Eckardt (Grüne), sagte, als Christin könne sie sich niemals über die gezielte Tötung eines Menschen freuen. Siegfried Kauder (CDU), Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags, befand: »Das sind Rachegedanken, die man nicht hegen sollte. Das ist Mittelalter.« Und die deutsche Sektion von Amnesty International forderte, dass die Umstände der Tötung aufgeklärt werden müssten – nicht etwa, dass der Fall bin Laden, wie so viele andere Fälle, einfach in Vergessenheit gerät.
Nun könnte man einwenden, dass sich, genauer besehen, doch etwa in Libyen, auf italienischen Inseln oder sogar hier jüngst ein paar Anlässe gefunden hätten, um sich über Menschenrechtsverletzungen zu empören – oder gar dafür, etwas gegen diese zu tun. Aber offenbar war der Tod dieses einen alten Mannes in Pakistan für viele Deutsche ein viel gewichtigerer Anlass, ihrer Empörung ob einer Menschenrechtsverletzung Ausdruck zu verleihen. Warum?

Das deutsche Volk hat ein großes Herz, und das ist voller Gnade. Und was fordert die Gnade mehr heraus als die unendlich große Sünde? Was wäre aus ihren tiefen moralphilosophischen Einsichten geworden, entdeckten die Deutschen nicht gerade angesichts der Ermordung eines Massenmörders die Würde des Menschen?
Sonst zeigte sich Deutschland womöglich genauso verroht wie die USA. »Die Tausenden jungen Menschen vor dem Weißen Haus und in New York, die die Tötung von Ussama bin Laden bejubelt haben, sind nur eines von vielen Zeichen dafür, wie der ›Krieg gegen den Terror‹ die USA verroht hat«, schreibt die Taz. WDR-Fernseh-Chefredakteur Jörg Schönenborn stellt im ARD-Kommentar fest: »Was ist das für ein Land, das eine Hinrichtung derart bejubelt?« »Zivilisierte Nationen haben einst das Völkerrecht geschaffen. Sie verständigten sich darauf, dass Verbrecher vor Gericht gestellt und nicht einfach getötet werden.« Der der ARD-Deutschlandtrend-Analyst schreibt: »Wie schon in früheren Jahren ist es eine Frage von Leben und Tod, von Krieg und Frieden, in der die deutsche und die amerikanische Öffentlichkeit erkennbar unterschiedlich ticken.«

Nur warum bloß sind die US-Amerikaner derart verroht? »Klar, Ussama bin Laden war verantwortlich für Tausende Tote – aber reicht das als Erklärung?« fragt Schöneborn. Seine Antwort ist klar: Nein. »Die Amerikaner haben jahrelang auf Rache gesonnen, jetzt spüren sie Genugtuung«, sagt der ARD-Kommentator. »Die USA sind ein Land, dass sich heute nicht mehr aus eigener Stärke definiert, sondern aus Tod und Niederlage anderer«. Deutschland dagegen, so viel wird an Schönenborns Kommentar schon deutlich, definiert sich »aus eigener Stärke« – aus der, moralisch überlegen zu sein.
Nun hätte man ja diskutieren können, ob eine Verhaftung Ussama bin Ladens wünschenswerter, ja ethisch unproblematischer gewesen wäre, wenn es dazu denn eine Chance gegeben haben sollte. Doch die deutsche Gnade geht weiter: »Heißt das, man hätte Ussama bin Laden einfach laufen lassen sollen? Keine leichte Frage«, sagt Schöneborn. Ja, gute Frage, warum ließen die Amerikaner den Massenmörder nicht einfach laufen? Wem nützt der Tod Bin Ladens? Schönenborn weiß es: »Obama steht im Wahlkampf.« Nur um die Wiederwahl Obamas geht es! Darum musste der arme Mann sterben! Manchen Deutschen ist diese Erklärung noch zu oberflächlich. Jakob Augstein bemüht den Dichter Botho Strauss, der wie kaum ein anderer die Tiefe der deutschen Seele kennt. Strauss habe schon Ende 2001 geschrieben, jetzt breche der »Kampf der Bösen gegen die Bösen« an, denn »die Blindheit der Glaubenskrieger und die metaphysische Blindheit der westlichen Intelligenz« würden einander bedingen. Damit nicht der Eindruck entsteht, Augstein zitiere allein deutschtümelnde Dichter, steht im selben Absatz ein Zitat der Globalisierungsgegnerin Arundhati Roy von 2001: Ussama bin Laden sei »der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten«, ein »Zwilling« von George W. Bush.
Auch wenn Strauss’ wie Arundhatis Worte nach dem Anschlag auf das World Trade Center »schwer erträglich gewesen« seien, meint Augstein: »Es war die Wahrheit.« Heute, zehn Jahre nach dem 11. September, wisse man, wie es sei, wenn »das Böse das Böse« bekämpfe. Wenn das Böse der Islamisten und das Böse Amerikas im Wettstreit liegen, ist eines klar: Die Deutschen sind wieder einmal die Guten. Denn in Deutschland freut man sich nicht über den Tod eines Menschen. Noch nicht mal über den Tod Ussama bin Ladens. Ganz im Gegensatz zu den verrohten USA.