Stadtentwicklung und Gentrifizierung in Warschau

Der Charme vom anderen Ufer

Praga Północ ist das neue Szeneviertel der polnischen Hauptstadt Warschau. Beliebt ist dieser Stadtteil bei Künstlern, Intellektuellen und Alternativen. Dort ließen sich in den vergangenen Jahren noch bezahlbare Wohnungen und Räume für Kultur und Kunst finden. Doch nun kündigt sich die Gentrifizierung an. Das neue Nationalstadion für die Fußball-Europameisterschaft wurde hier gebaut und das Viertel wird für Investoren immer interessanter.

Der Plattenbau »Langhaus« erstreckt sich über 500 Meter entlang der Kowojska-Straße. Einige Meter entfernt wird ein neues Haus gebaut. Die Fenster bestehen bislang aus Löchern in der Wand. Hinter dem Neubau ist eine freie Fläche zu sehen. Direkt gegenüber liegt der Bahnhof Warsawa Wschdonia. Hier sollen im Juni 2012 tausende Fußballfans aus ganz Europa auf ihrem Weg zum Stadion Narodowy aussteigen, dem neuen Nationalstadion. Dort soll am 8. Juni 2012 das Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden.
Früher befand sich auf dem Gelände des neuen Nationalstadions das »Stadion des Zehnten Jahrestages«, das während des Sozialismus Sportveranstaltungen, nationale Feste und Parteifeierlichkeiten beherbergte. Nach der Wende wurde das Gelände zu einem der größten Basare Osteuropas, dem »Jarmark Europa«, auch als »Russenmarkt« bekannt. Gehandelt wird seit dem Beginn der Bauarbeiten für das neue Stadion nicht mehr.
Wir befinden uns im Stadtviertel Praga Północ, das an der östlichen Seite der Weichsel liegt. Lange besaß Praga den Ruf eines gefährlichen Stadtteils, doch in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte er sich immer mehr zum beliebten Ort für Künstler, Intellektuelle und sogenannte Kreative. Beliebt ist Praga für den Charme seiner kleinen, alten Gassen, für seine heruntergekommen Häuser und für die verfallenen Hinterhöfe, die noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erhalten sind. Während die Innenstadt von Warschau fast komplett zerstört wurde, fielen in Praga nur rund 30 Prozent der Häuser den Bomben zum Opfer. Mehr als 40 Prozent der Bewohner des Stadtteils waren Juden. Seit 2002 ist er auch in Hollywood bekannt, hier drehte der Regisseur Roman Polanski damals seinen Film »Der Pianist«.
Seitdem sind überall Cafés, Theater, Galerien und Boutiquen entstanden, und immer mehr Touristen trauen sich auf der Suche nach dem Flair des »authentischen Warschau« inzwischen nach Praga.
Doch nicht nur Künstler, Touristen und Hollywoodstars zieht es dorthin. Attraktiv ist der Bezirk auch für Investoren, die sich immer mehr für Immobilien in diesem Stadtteil interessieren. Die meist armen Einwohner von Praga fühlen sich durch die rasante Entwicklung des Viertels zu einem Szene-Bezirk bedroht, wie ein Besuch beim Komitee für die Mieterverteidigung zeigt.

Der Verein existiert erst seit 2009. »Er wurde gegründet, als die Stadtverwaltung die Mieten für die Kommunalwohnungen um 100 bis 200 Prozent erhöhte«, erzählt Jakub Gawlikowski, ein Mitarbeiter des Vereins. Durch die Erhöhung sollten eigentlich die Sanierung der Häuser und eine »Aufwertung« des Viertels finanziert werden, doch sehr wenig Geld sei in die Renovierung geflossen, sagt er. »Als wir mit den Treffen und der Mieterberatung begannen, waren wir von der Zahl der Anfragen überrascht«, berichtet Gawlikowski. »Die Fälle waren sehr komplex. Jedes Mal stießen wir gegen eine Wand. Wir mussten in Sachen Mietrecht viel lernen.«
Jetzt bietet der Verein zweimal pro Woche eine Sprechstunde an. An diesem Dienstag sind viele Leute gekommen. »Es werden immer mehr«, sagt Kazimierz Dabrowski, ein weiterer Mitarbeiter des Vereins. »Manchmal kommen wir nicht vor 21 Uhr raus.« Der 75jährige wohnt selbst in einer Kommunalwohnung. Die Stadt will das Haus sanieren und die Mieter während der Bauarbeiten in eine andere Unterkunft umziehen lassen. »Wir befürchten, dass die Stadt ein Luxuswohnhaus daraus machen will. Und dann können wir nicht mehr zurückziehen.«
In dem kleinen Raum stehen drei alte Sofas und ein Dutzend Stühle. Die Mieterinnen und Mieter kommen mit ihren zahlreichen Akten und Dokumenten. Sie müssen lange warten, doch wenn sie an die Reihe kommen, hören sie aufmerksam den Erklärungen Marek Jasinskis zu. Er sitzt gemeinsam mit seiner Ehefrau Teresa und Dabrowski an einem großen Tisch. Das Paar weiß, wie schwierig die Lage für viele Mieter derzeit in Praga ist. Auch ihr Haus soll reprivatisiert werden. Die beiden kämpfen dagegen.

In Warschau sind nur rund 14 Prozent der Wohnungen in kommunalem Besitz. In Praga gehören aber noch fast 30 Prozent des Bestands der Stadt. Alle kommunalen Grundstücke könnten jedoch von einem Restitutionsanspruch betroffen werden. »Mit der Europameisterschaft wird die Reprivatisierung in Praga sicher schneller gehen«, glaubt Gawlikowski. »Da wir hier nah am neuen Stadion sind, wollen viele Privatbesitzer die Häuser in Hotels umwandeln.«
Nach dem Ende des Sozialismus fing die Stadt Warschau an, das nach 1945 verstaatlichte Gelände seinen ehemaligen Besitzern oder deren Nachkommen zurückzugeben. Der Prozess wird aber von keinem allgemeingültigen Gesetz geregelt.
»Es handelt sich um eine wilde Reprivatisierung«, sagt der Stadtsoziologe Bohdan Jałowiecki vom Forschungsinstitut Euroreg. »Mit guten Beziehungen zu den Leuten, die die Entscheidungen treffen, bekommt man leicht das Eigentum zurück. Sonst ist es schwierig. Der Zweite Weltkrieg hat die sozialen Strukturen in Warschau gründlich verändert, die Anspruchsberechtigten sind oft nicht die direkten Nachfahren der ehemaligen Besitzer«, fügt der Architekt und Kulturaktivist Grzegorz Piatek hinzu. »Warschau hat durch den Krieg rund die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Hier werden also viele Ansprüche mit dem Ziel eines Verkaufs gestellt. Sie wollen nicht in die Häuser zurückkommen, wie es in Krakow zum Beispiel oft der Fall ist.« Besitzurkunden und Erbscheine werden manchmal gekauft. »Ein Mann kam zum Beispiel zu uns, weil er einen Erbschein für 50 Zlotys verkauft hatte«, erzählt Gawlikowski. »Er wusste wohl nicht, wie viel er wert war.« Die neuen Eigentümer wollten oft so schnell wie möglich das Haus weiterverkaufen und versuchten, die Mieter loszuwerden. »Sie stellen zum Beispiel das Wasser ab«, berichtet er. Manche Mieter wehren sich, sie bezahlen die höhere Miete nicht und gehen vor Gericht.
Sind das Gelände und das Haus erst einmal privatisiert, steigen die Mieten. Für eine Kommunalwohnung beläuft sich die Miete auf rund 1,50 Euro pro Quadratmeter. »Nach der Privatisierung kann sie auf 4,25 Euro pro Quadratmeter steigen«, sagt Gawlikowski. »Dann hat der Vermieter das Recht, die Miete alle sechs Monate zu erhöhen.«

»In Warschau mangelt es immer an Wohnungen. Auf der anderen Seite stehen viele Wohnungen leer, weil sie zu teuer sind«, sagt Jałowiecki. 2010 wurden zwar mehr als 10 000 neue Wohnungen gebaut. 90 Prozent davon wurden aber von privaten Baufirmen errichtet. Weniger als 30 Prozent der Warschauer können sich solche Wohnungen leisten. Die Anzahl der Genossenschaftswohnungen geht immer stärker zurück. Die Zahl der neuen Kommunalwohnungen erreicht in ganz Polen nicht einmal 2000. Zwischen 1995 und 2007 hat die Stadt Warschau insgesamt nur 1150 neue Kommunalwohnungen errichtet.
In einem Hof in der Nähe des großen Einkaufszentrums Pragas weist ein Gebäude einen so schlechten baulichen Zustand auf, dass viele Fenster verrammelt sind. Direkt daneben sind aber andere Fenster mit Blumen dekoriert. Ein paar Schritte weiter, auf der Inzynierska-Straße, steht ein neues Haus neben einem verfallenen Gebäude. In Praga stößt man oft auf solche Kontraste. Vor sechs Jahren haben die Stadt Warschau und das Bezirksamt ein »Revitalisierungsprogramm« entworfen. Die Zabkowska-Straße steht im Mittelpunkt des Projekts. Hier haben schon einige Cafés und neue kleine Boutiquen eröffnet. An der Nummer 27/31 taucht ein kleiner Turm aus roten Steinen auf.
Dahinter erstreckt sich ein fast 48 000 Quadratmeter großes Gelände. Bis vor drei Jahren wurde hier noch Wodka produziert. Jetzt stehen die meisten Gebäude in dem riesigen Komplex leer. In einem kleinen Haus hat Janucz Owsiany sein Büro. Er wurde vor zehn Jahren von dem staatlichen Fabrikbetreiber Koneser als Designer eingestellt. Ursprünglich sollte er neue Luxusflaschen für polnische Wodkamarken wie »Belvedere« und »Chopin« entwerfen. Danach bekam er aber den Auftrag, ein »Nachnutzungsprogramm« für das schon zu 80 Prozent leerstehende Gelände der ehemaligen Wodkafabrik zu planen. »Der Betreiber wollte ursprünglich so etwas wie ein Wodka-Museum auf dem Gelände errichten«, erzählt Owsiany. »Nach einem Besuch in Berlin hatte ich die Vorstellung, dass hier auch eine Art Kulturbrauerei wie in Prenzlauer Berg entstehen könnte.« Die ersten Galerien wurden eröffnet, als die Wodkaproduktion noch nicht eingestellt worden war. Als die Geschäfte aber zu schlecht liefen, wurde kein Wodka mehr hergestellt. Owsiany blieb da, »wie ein Stück Geschichte«, wie er lächelnd sagt. Heute leitet der Designer den Kulturverein Monopol, der sich für die »Aufwertung« Pragas einsetzt.
Von dem Projekt einer Kulturbrauerei nach dem Berliner Vorbild ist nicht viel übrig geblieben. Die Investoren Juvenes und BBI Development kauften im Jahr 2006 das Gelände und planen dort den Bau eines multifunktionalen Komplexes mit Wohnungen, Hotels, Büros, Geschäften, Restaurants und Kultureinrichtungen. Ein Raum, der über die Geschichte der Wodkafabrik informieren soll, ist auch geplant. Der von Owsiany geleitete Kulturverein darf auf dem Gelände bleiben. »Die Investoren erlaubten uns, hier auch ein Theater zu errichten.« Dieses Jahr hat sich Owsiany dazu entschlossen, aus finanziellen Gründen sein Projekt auf dem Gelände aufzugeben. Die Galerien, die bereits dort eröffnet haben, dürfen auch bleiben, weil sie in den historischen Gebäuden des Geländes untergebraucht sind und keine so hohe Miete zahlen müssen. Der Designer Stefan Kornatowski zahlt für seine Galerie zum Beispiel rund 150 Euro pro Monat. »Aber ohne Heizung wird es im Winter schwierig«, sagt Owsiany.
Mit seinem Team versucht er auch, ein touristisches Programm für Praga vorzubereiten. »Das Wodka-Museum wäre nur ein kleiner Teil davon«, sagt er. »Vor dem Krieg wohnten in Praga viele Juden. Es blieben hier noch viele Spuren von dieser Vergangenheit und von ihrem früheren alltäglichen Leben. Nach 1945 ließen sich hier die Ärmsten nieder. Alles ist zu Bruch gegangen, weil sich niemand, weder die Einwohner noch der Staat, um die Gebäude kümmerte.« Ein Museum über Praga ist schon in Bau in der Tagowa-Straße, genau vor der Tramhaltestelle. 2012 soll es fertig sein, bislang sind jedoch nur vier Mauern zu sehen. »Es wird das erste Museum auf dieser Seite der Weichsel sein«, sagt Owsiany. Er weiß aber, dass Touristen, Künstler und Galeriebesucher die soziale Lage der Einwohner Pragas allein nicht verbessern können. Sein Verein führt auch Ausbildungsprogramme durch, mit der Europameisterschaft als Perspektive: zum Beispiel einen Workshop für Frauen, um »Bed and Breakfast« für die Besucher anzubieten, oder um traditionelles Handwerk wie Keramik zu produzieren.
»Diese EM stellt wirklich eine Chance für den Bezirk dar«, meint Owsiany. »Wenn der Staat hier Millionen abpumpt, wird er sich danach mehr um Praga kümmern, einfach weil er die Kosten rentabel machen muss. Die EM wird zwar schnell vorüber sein. Aber danach müssen der Staat und die Stadtverwaltung etwas für die Zukunft des Bezirks machen, sonst wird das Stadion selbst auch bald zu einer Ruine werden.«

Einiges ist bereits geplant. Die zweite U-Bahnlinie soll zum Beispiel hier ankommen. Allerdings voraussichtlich erst ab 2013. »Wir brauchen hier In­frastrukturen«, setzt Owsiany fort. »Es gibt in Praga keine einzige öffentliche Toilette. Und der Bahnhof befindet sich in einem erbärmlichen Zustand.« Was der Ort aber vor allem braucht, sind Arbeitsplätze. Die Einwohner müssen zweimal pro Tag die Weichsel überqueren, um arbeiten zu gehen oder Arbeit zu finden. »Es geht nicht nur darum, die Gebäude zu renovieren. Wir wollen auch eine soziale Revitalisierung«, sagt Owsiany.
Auch Stefan Kornatowski teilt diese Meinung. Er ist vor fünf Jahren auf das Gelände der Fabrik gekommen, als noch Wodka produziert wurde. »Damals gab es nur zwei Galerien hier. Die Künstler und die Intellektuellen kommen jetzt langsam«, sagt er. »Deutsche Besucher sind neulich zu mir gekommen und waren überrascht. Sie rechneten in Praga mit einer Art alternativem und kreativem Kiez wie etwa Berlin-Kreuzberg. Das ist hier noch nicht so. Es wird lange dauern, bis es so weit ist.«
Am Rózycki Bazaar in der Tagowa-Straße stellen große, farbige Plakate das Projekt zur »Revitalisierung« des Marktes vor: Die Fotos zeigen schöne Caféterrassen und adrette Marktstände. »Naschmarkt« steht auf dem Plakat. Das Vorbild ist also der berühmte Wiener Markt. Die Marktverkäufer betrachten die Bilder eher uninteressiert. Alte Frauen mit ihren Stoffwaren in großen Einkaufstaschen warten auf Kunden. Jüngere Frauen verkaufen Brautkleider. Am Anfang der Tagowa-Straße betreibt ein alter Mann mit krummem Rücken ein kleines Modegeschäft. Er verkauft Kleider und Gegenstände verschiedener Art. Auf dem alten Schild steht »Sex Shop«. Das X wurde aber überdeckt.