Die Situation der Frauen in Tunesien

Befreiung, aber nicht für alle

Tunesische Feministinnen blicken besorgt in die Zukunft ihres Landes. Sie befürchten eine Einschränkung der Frauenrechte, sollten sich nach den Wahlen islamische Kräfte durchsetzen.
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Die Wut vieler tunesischen Bürgerinnen und Bürger auf die Übergangsregierung von Béji Caïd Essebsi entlud sich am vergangenen Wochenende auf den Straßen der Hauptstadt Tunis. Vor dem mit Stacheldraht und Panzern abgeschotteten Innenministerium, dem verhassten Symbol der Diktatur von Zine El Abidine Ben Ali, riefen Hunderte Demonstranten zu einer »zweiten Revolution« auf. Die Polizei setzte Schlagstöcken und Tränengas ein, ging brutal gegen die anwesenden Reporter vor und verhängte in Tunis eine Ausgangssperre. Die Stimmung war gereizt, nachdem der ehemalige Innenminister Farhat Rajhi in einem Video auf Facebook vor einem Militärputsch gewarnt hatte, sollte die islamistische Partei Ennahda die für den 24. Juli angesetzten Wahlen gewinnen. Der Regierungschef nannte ihn »einen Lügner«, und Rajhi wurde von seinem Posten als Vorsitzender der Kommission für Menschenrechte und Fundamentale Freiheiten entlassen.

Auch in den Tagen vor den Protesten herrscht in Tunis eine gespannte Ruhe. »Dégage!« steht auf den Tonwürfeln, die Yacine Blaiech im Café des Parks Belvédère verkauft. »Tritt ab!«, diese an Ben Ali gerichtete Forderung gilt inzwischen als Schlagwort der »Jasmin-Revolution«. Die Ware, die der junge Mann verkauft, wird in einer Frauenkooperative in Sejnane hergestellt. Das Projekt bietet 50 Frauen im Nordwesten des Landes die Möglichkeit, selbständig ein wenig Geld zu verdienen, sowie die Gelegenheit, sich außerhalb des Hauses zu treffen, Erfahrungen auszutauschen und Arbeiten untereinander aufzuteilen.
Das ist eine willkommene Initiative in der tunesischen Provinz, wo die Arbeitslosigkeit, vor allem unter Frauen, sehr hoch ist. Aber auch im Rest des Landes sieht es nicht viel besser aus. Der Anteil von Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt in ganz Tunesien gerade einmal 27 Prozent.
Blaiech ist Grafiker, und schon vor dem Sturz des Regimes im Januar hat er an sozialen Initiativen mitgewirkt. »Noch im vorigen Jahr wäre es undenkbar gewesen, mit einem ausländischen Journalisten im Park über Politik zu sprechen«, sagt er. Auf den Bänken und Grünflächen des Parks küssen sich Pärchen. »Es findet eine sexuelle Befreiung statt«, meint Nadia Jendoubi, die gerade mit ihren Tonwürfeln von einer Verkaufsrunde zurückgekehrt ist. Blaiech lacht verhalten und gibt zu, dass er früher aus Furcht vor der Polizei seine Freundin in der Öffentlichkeit nicht einmal umarmte.
»Der Zuwachs an Freiheit ist enorm«, sagt Jen­doubi, die nach ihrer Tanzausbildung in Europa seit knapp einem Jahr wieder in Tunis lebt. »Früher war es hart. Ich bin es gewohnt, über alles zu sprechen. Während der Diktatur habe ich gelernt, zu schweigen. Selbst zu Hause, im Familienkreis, haben wir nicht offen miteinander gesprochen. Jetzt reden wir über unsere Wut und unsere Wünsche. Es gibt keine Hemmung mehr, den Leuten den Rücken zu kehren, die dem Regime nahe standen.«
Bis zum 14. Januar verbrachte Blaiech die Tage auf der Straße und die Nächte auf Facebook. Nach dem Sturz Ben Alis kehrte sich für ihn der Lebensrhytmus um: Am Tag saß er vor dem Bildschirm, in der Nacht war er unterwegs mit dem Komitee seines Viertels, um es gegen die Milizen der Diktatur zu verteidigen. Auf die Frage, ob Tunesien sich nun in die Richtung entwickele, die er sich vorgestellt hat, sagt er: »Im Moment ist das Ganze in der Schwebe. Wir befinden uns in einer völlig neuen Situation. Vorher hatten wir Habib Bourguiba, dann kam Ben Ali. 50 Jahre Diktatur haben auf uns gelastet. Wir haben gesagt: Jetzt reicht es.«
Im Juli werden die Tunesierinnen und Tunesier eine verfassunggebende Versammlung wählen. Wie sich die Lage für die Frauen entwickeln wird, bleibt unklar. In Bezug auf die Emanzipation der Frauen gilt Tunesien unter den arabischen Ländern als das am weitesten fortgeschrittene. Das geht auf die Zeit Bourguibas zurück, der Tunesien bis zur Machtübernahme Ben Alis regierte und heute noch als »Befreier der Frauen« gilt. Während seiner Amtszeit wurden das Wahlrecht für Frauen und das Verbot der Vielehe eingeführt. Auch haben Mädchen in Tunesien Zugang zum laizistischen Bildungssystem. Ähnlich wie in Europa wird die soziale Diskriminierung erst auf dem Arbeitsmarkt spürbar. Das tunesische Erbrecht ist heute noch vom Koran bestimmt und privilegiert Männer, denen doppelt so viel zugesprochen wird wie Frauen im selben Verwandtschaftsgrad.
Anne Emmanuèle Hassairi von der feministischen NGO Assiociation Tunisienne des Femmes Démocrates ist besorgt, was die Zukunft für tunesische Frauen bringen wird. Sie nennt als Beispiel das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, über das die Frauen in Tunesien seit 1973 verfügen, das aber derzeit untergraben werde. »Einige Kliniken haben den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch eingestellt, der im Jahr 2009 noch 55 Prozent aller registrierten Schwangerschaftsabbrüche ausmachte«, sagt Hassairi, die als Hebamme weiß, wovon sie spricht. »Die Leiter vieler öffentlicher Gesundheitsdienste schweigen dazu. Viele Ärzte und Hebammen bieten den Dienst nicht mehr an. In Tunesien wird die Sexualität außerhalb der Ehe stigmatisiert. Eine Schwangerschaft bedeutet für eine unverheiratete Frau den systematischen sozialen Ausschluss.«

Feministische Demonstrationen für die Gleichstellung der Gechlechter und für die Trennung von Staat und Religion, die es in Tunis seit Januar mehrfach gegeben hat, finden aus Angst vor Angriffen der Islamisten derzeit nicht mehr statt. Bei den Wahlen könnte die Ennahda zu einem Sammelbecken für islamistische Strömungen werden.
Die Bilder von den nordafrikanischen Aufständen in Tunesien und Ägypten sind von Frauen geprägt. In politischen Ämtern sind in Tunesien jedoch kaum Frauen vertreten. Der Übergangsregierung gehören nur zwei Ministerinnen an. Keine Frau ist mit der Leitung eines der 24 Gouvernements des Landes beauftragt. Für die Wahlen sollen die rund 60 bisher anerkannten Parteien ebenso viele Frauen wie Männer in die Listen eintragen. Die vom vorbereitenden Rat vorgeschlagene Parität wurde zunächst vom Premierminister der Übergangsregierung kritisiert, der die Quote auf 30 Prozent senken wollte. Dass Essebsi sich auch für die Zulassung von ehemaligen Verantwortlichen der Einheitspartei der Diktatur, des Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), aussprach, ließ jedoch die rückständigen Ansichten des 84jährigen deutlich werden. Das Prinzip der paritätischen Listen, ein historisches Novum im Maghreb, wurde angenommen.
Die Auseinandersetzung um die Frauenquote ist bezeichnend für die Widersprüche in der tunesischen Gesellschaft. Während die Islamisten und die alte Machtriege sich dem Wandel entgegenstemmen, werden im ganzen Land in den neu gegründeten Sektionen von Frauenorganisationen linker Parteien egalitäre Ideen diskutiert. Die Auswirkungen des politischen Wandels, bei dem Tunesien im arabischen Raum weiterhin eine wichtige Rolle spielt, wird daran zu messen sein, ob und inwiefern sich die Lage der Frauen tatsächlich verbessert.

»Wenn RCD oder die Ennahda nach den Wahlen die Macht an sich reißen, würde ich wieder auf die Straße gehen und dagegen protestieren«, sagt Blaiech. »Die Ennahda verfügt über finanzielle Mittel und ist in den Armenvierteln populär. Aber ich bin optimistisch.«
Jendoubi teilt diese Meinung. »In den westlichen Medien wird viel vom Aufstieg der Islamisten gesprochen. In Wirklichkeit hindern sie uns nicht daran, unser Leben zu leben«, sagt die Tänzerin. Seit Januar sei auch das Interesse an Kunst gestiegen. »Mein Beruf wird jetzt als vollwertig anerkannt«, sagt sie. Jendoubi bleibt allerdings eine Ausnahme, denn für die meisten Frauen in Tunesien hat der politische Umschwung noch keine Verbesserung der sozialen Lage gebracht. Die Touristen bleiben wegen der Angst vor Unruhen und dem Krieg im benachbarten Libyen aus, viele Jobs in dieser Branche fallen weg. Junge Menschen in Tunis und den Vororten beklagen ihre Arbeitslosigkeit, viele wollen auswandern. Andere versuchen, Zigaretten oder andere Waren auf der Straße loszuschlagen. Selbst bei einer derart prekären Betätigung zur Existenzerhaltung sind Frauen eher eine Ausnahme.