Brasilien bereitet sich auf die WM 2014 vor

Friede den Favelas, Krieg den Parkplätzen

Brasilien bereitet sich auf die WM 2014 und die Olympiade 2016 vor. Für die Baumaßnahmen sollen Tausende Menschen ihre Behausungen aufgeben – meist haben sie keine Aussicht auf angemessene Entschä­digungen.

Die Vergabe von Fußballweltmeisterschaften und Olympischen Spielen ist meist verbunden mit gigantischen Bauprojekten. Auch in Brasilien ist das so: Neue Stadien müssen errichtet, Sportstätten gebaut, die Verkehrsinfrastruktur muss erneuert und ausgebaut werden. Nicht selten geht das auf Kosten informeller Siedlungen, die man in Brasilien Favelas nennt. In den vergangenen Monaten häuften sich die Beschwerden von Favela-Bewohnern gegen die Baumaßnahmen. Ohne Aussicht auf Abfindungen werden sie zur Aufgabe ihrer Wohnungen gezwungen.
Raquel Rolnik , die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen und selbst Brasilianerin, übte deshalb harte Kritik an den Behörden von acht brasilianischen Städten. Es werde gegen Menschenrechte verstoßen, da im Zusammenhang mit der WM 2014 und Olympia 2016 Tausende Familien zwangsweise aus ihren Häusern vertrieben würden. Bei diesen Zwangsräumungen würden internationale Abkommen nicht beachtet. »Ich bin vor allem besorgt über das Fehlen von Transparenz, Beratung, Dialog, gerechten Verhandlungen und einer Beteiligung der betroffenen Gemeinden bei den bereits erfolgten oder geplanten Räumungen im Zusammenhang mit der WM und den Olympischen Spielen«, so Rolnik in ihrer am 26. April veröffentlichten Note. Die Bewohner wüssten nicht, wer enteignet wird, wann und wie das geschehen soll und welche Alternativen es für sie gibt. Die internationalen Bestimmungen verlangen jedoch, dass die Anwohner befragt und angehört werden. Sie müssen in die Planung einbezogen werden und sie haben das Recht, eigene Alternativvorschläge einzubringen. Aber nichts davon ist in Rio de Janeiro, dem Austragungsort des WM-Finales und der Olympischen Spiele, in São Paulo, Belo Horizonte, Curitiba, Porto Alegre, Recife, Natal und Fortaleza passiert.
Dort fanden Raquel Rolnik zufolge bereits Tausende Räumungen statt, ohne dass es Zeit gegeben habe, eine Alternative zu entwickeln oder zu diskutieren. »Dem Zugang zu Infrastruktur, Dienstleistungen und Arbeitsmöglichkeiten an den Orten, wohin die Betroffenen umgesiedelt wurden, wurde nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.«
Rolnik bittet die Behörden der genannten Städte deshalb, »die geplanten Räumungen zu stoppen, bis ein Dialog und Verhandlungen sichergestellt sind«. Sie sei »sehr besorgt über die geringe finanzielle Entschädigung, die den betroffenen Gemeinden angeboten worden ist«. Angesichts des zu erwartenden Wertanstiegs der Flächen, auf denen die Sportstätten gebaut werden, wiege das schwer. »Die unzureichenden Entschädigungen können zur Entstehung neuer informeller Siedlungen oder gar zur Obdachlosigkeit führen.«
Wird eine Wohnung zwangsgeräumt, darf nach international geltenden Regeln die betroffene Person zwischen einer finanziellen Entschädigung oder einer Alternativwohnung an einem anderen Ort wählen. Bei den Räumungen in Brasilien aber sind die Abfindungen oft so gering, dass die Menschen sich damit keine Unterbringung an einem anderen Ort leisten können. »Die neuen Ansiedlungen liegen nicht selten 30 oder 40 Kilometer von den ursprüng­lichen Wohnorten entfernt. Dort gibt es oft eine noch schlechtere Infrastruktur, kaum Schulen und Gesundheitsversorgung, keine Arbeit und damit keine Chance auf Verdienst. All dies stellt eine Verletzung des Rechts auf angemessenes Wohnen dar, schließlich geht es beim Wohnen nicht bloß um die vier Wände, sondern auch um das Recht der Menschen auf Arbeit und Gesundheit. Diese Rechte werden missachtet«, so Rolnik.
Außerdem sei es während der Räumungen zu Gewalt gekommen, sowohl seitens der Polizei als auch seitens der städtischen Behörden. Zudem seien zum Teil private Sicherheitsleute eingesetzt worden, die die Menschen einschüchterten und zwangen, die Abfindungen und die Umsiedlung zu akzeptieren und rasch ihre Häuser zu räumen.
Die meisten Gemeinden, die von Umsiedlung und Räumung betroffen sind, liegen in Rio de Janeiro, wo angesichts von Fußball-WM und Olympischen Spielen die Veränderung der städtischen Infrastruktur besonders rigoros vorangetrieben wird. Die Favela do Metrô rund um das Maracanã-Stadion, wo das Finale der WM ausgetragen wird, gleicht heute einer Geisterstadt. Seit Februar wurden fast alle Häuser der Favela abgerissen – auf dem geräumten Gelände soll ein Parkplatz entstehen.
Vor allem in Rio ist der Umbau der Stadt im Hinblick auf Olympia ein Milliardengeschäft, und das heizt auch die Immobilienspekulation an. Nicht selten wurden die Favelas auf bestem Bauland errichtet – mit spektakulärer Sicht aufs Meer und kurzen Wegen in das Stadtzentrum. Ehrgeizige Pläne der Stadtregierung sehen vor, die mehr als 1 000 Favelas der Stadt in normale Stadtviertel umzuwandeln. Bei der Präsentation Rios vor dem IOC zur Vergabe der Olympischen Spiele kamen Favelas gar nicht mehr vor.
Wenn die Favelas schon nicht komplett verschwinden, sollen sie zumindest »militärisch befriedet« werden. So stürmten Ende November 2010 Polizisten und Soldaten einige der Favelas von Rio, die als die gewalttätigsten gelten. 37 Menschen wurden dabei getötet, vorwiegend Mitglieder von Drogenbanden, und mehr als 130 verhaftet. Auf Bitte des Gouverneurs von Rio, Sérgio Cabral, soll die Zusammenarbeit der Streitkräfte mit der Polizei zunächst bis Oktober fortgesetzt werden. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat aber bereits angekündigt, das Militär bis zur Fußball-WM 2014 zur Bekämpfung der Drogenbanden in den Favelas bereitstellen zu wollen. Bis dahin sollen an den kritischen Punkten in den Favelas Einheiten der sogenannten Befriedungspolizei (UPP) fest stationiert werden. Diese Dauerpräsenz der Polizei in den Favelas soll die Sicherheit bei den Sportgroßereignissen in der Stadt garantieren. Der Einsatz der UPP ist ein Projekt zur militärischen Rückeroberung von Gebieten, die für die Stadt von zentraler Bedeutung sind. Rousseff zufolge gehe es nicht in erster Linie darum, den Drogenhandel zu beenden, sondern um die militärische Kontrolle von Vierteln, die wichtig für die Olympischen Spiele sind.
Doch sogar als besonders ruhig und friedlich geltende Favelas wie Vila Autódromo sollen komplett abgerissen werden, da sie offenbar den Bauplänen für das Olympische Dorf im Weg stehen. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass bis zur WM 2014 rund 1,5 Millionen Familien im gesamten Land umgesiedelt oder von Zwangsräumungen betroffen sein werden.
»Wir bitten die Behörden auf allen Ebenen, dass diese Entwicklung nicht auf Kosten von Menschenrechten stattfindet«, sagt Patrick Wilson von Amnesty International. Die NGO hatte einen Tag vor der UN-Note in einem Bericht gewarnt, dass die Räumungen im Zusammenhang mit der WM und den Olympischen Spielen die Menschenrechte der Bewohner von Favelas in Rio de Janeiro verletzen könnten. Wilson erklärte, man wisse von Favela-Bewohnern, dass sie von den Behörden durch die teilweise Zerstörung der Infrastruktur – etwa von Wasserrohren und Elektroleitungen – faktisch zum Umzug gezwungen wurden.
Bisher gab es noch keine offizielle Stellungnahme der Regierung, lediglich Erklärungen vom Sportminister und der Ministerin für Menschenrechte. Beide haben allerdings bestritten, dass es zum Einsatz von Gewalt gekommen sei – sie sagten, Fälle solcher Art seien ihnen nicht bekannt.