Die Zukunft der al-Qaida

Mission not accomplished

Bereits vor dem Tod Ussama bin Ladens war al-Qaida geschwächt. Das Terrornetzwerk konnte seine Ziele nicht erreichen und hat an Popularität verloren.

Wenigstens in einer Frage kann Ussama bin Laden sich auf das Vorbild des Propheten berufen. Auch Mohammed färbte sich den Bart. Wenn wir seiner Ehefrau Aisha glauben dürfen, wollte er damit allerdings nicht sein Ergrauen verbergen. Der Prophet habe Henna benutzt, obwohl sein Haar und sein Bart bis zu seinem Tod dunkel gewesen seien.
Bin Laden hingegen wollte offenbar nicht wie der Großvater des Jihad wirken. Während eines der von der US-Regierung veröffentlichten Videos ihn ergraut und in eine Decke eingemummelt zeigt, färbte er sich den Bart für seine offiziellen Auftritte dunkel. Freigegeben wurden nur die Bilder ohne Ton, doch es kam auch immer weniger darauf an, was bin Laden zu sagen hatte. Die wichtigste Botschaft war: Ich lebe noch.
Eine Auswertung des im pakistanischen Abottabad gefundenen Materials habe ergeben, dass bin Laden weiterhin »ein aktiver Führer« gewesen sei, der »strategische und taktische Anweisungen« erteilt habe, sagte ein US-Geheimdienstler, dessen Namen die Medien nicht veröffentlichen durften. Sollte das tatsächlich der Fall gewesen sein, würde es die bislang als gesichert geltende These widerlegen, dass al-Qaida ein dezentrales Netzwerk mit regionalen Führern ist.
Doch dürfte die US-Regierung eher daran interessiert sein, dem Eindruck entgegenzuwirken, man habe viel zu spät einen Terroristenführer geschnappt, der sich längst aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hatte. Wohl nur in Deutschland wird die Debatte über die moralische und juristische Rechtmäßigkeit des Einsatzes in Abbottabad mit geradezu religiöser Inbrunst geführt. Doch Kritik kommt auch von US-Menschenrechtlern, vor allem aber den Regierungen konkurrierender Großmächte wie China, die den USA nicht das Recht auf eigenmächtige Kommandoaktionen in anderen Staaten zugestehen wollen.

Die Indizien für eine Führungsrolle bin Ladens sind jedoch dürftig. Dass er sich, wie nun kolportiert wird, weiter Gedanken darüber gemacht hat, was man in den USA noch alles in die Luft sprengen könnte, verwundert nicht. Was hätte ein Mann wie er, der weder Hobbys noch geistige Interessen hat, isoliert in seinem Jihad-Brother-Container auch sonst tun sollen? Die Ermittlungen nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den USA und anderen westlichen Ländern führten in den vergangenen Jahren jedoch nach Somalia, in den Jemen oder zu den pakistanischen Taliban, nicht aber zu bin Laden.
Bleibende Bedeutung hatte er vermutlich als Finanzier. Er hatte wohl nicht den Zugriff auf die gesamten 250 Millionen Dollar, die ihm als Anteil am Vermögen des Familienkonzerns zugestanden hätten, war aber zweifellos Multimillionär. Sein legendärer Ruf dürfte ihm weiterhin einen größeren Spendenanteil eingetragen haben, als ihn die Newcomer der jihadistischen Szene erwarten können. An den Erträgen des Opiumhandels haben ihn die Taliban allerdings wohl nicht mehr teilhaben lassen. Dennoch war er wahrscheinlich in der Lage, weniger solvente Jihadisten etwa aus dem verarmten Somalia vor allem bei kostspieligen Auslandsoperationen zu unterstützen.
Einen gewissen politischen Einfluss hatte bin Laden wahrscheinlich noch, sowohl als Finanzier wie auch als Urheber des spektakulärsten islamistischen Anschlags. Doch vor allem die Tatsache, dass er nur sporadisch über Kuriere mit der Außenwelt in Kontakt treten konnte, spricht dagegen, dass er die Terrorgruppen kommandierte.
Geplant und organisiert werden Anschläge wahrscheinlich von regionalen Gruppen, die derzeit vor allem in Somalia, im Jemen und in Nord­afrika aktiv sind. Dabei gilt das Motto: Man tut, was man kann. Logistisch anspruchsvolle Ope­rationen sind al-Qaida seit den Anschlägen in Madrid (2004) und London (2005) nicht mehr gelungen. Die meisten Attentäter des globalen Jihad arbeiten nunmehr allein, und häufig haben sie Anschläge verpatzt. Umar Farouk Abdul Mutallab versuchte im Dezember 2009, ein Passagierflugzeug über den USA zu sprengen, zündete aber nur seine Unterhose an, in der er den Sprengsatz versteckt hatte. Fünf Monate später scheiterte der Anschlag Faisal Shahzads am Times Square in New York. Er deponierte eine nicht funktionsfähige Bombe in einem Auto, in dem er auch noch den Schlüssel für seinen Fluchtwagen vergaß.
Doch nicht immer geben jihadistische Stümper Anlass zu Heiterkeit. Am 28. April tötete eine Bombenexplosion in der marokkanischen Stadt Marrakesch 17 Menschen, es gilt als sicher, dass »al-Qaida im islamischen Maghreb« verantwortlich war. Der globale Jihad geht weiter und bleibt eine unkalkulierbare Gefahr für die Einwohner vor allem islamischer und westlicher Staaten. Die Zeiten, in denen al-Qaida hoffen konnte, politischen Einfluss zu nehmen, sind dennoch vorbei.

Ussama bin Ladens Ziele waren sehr ehrgeizig. Unter den Jihadisten hatte sich in den neunziger Jahren der Irrglaube verbreitet, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei allein eine Folge des Kampfs der Mujaheddin in Afghanistan gewesen. Nun glaubte man, mit einem weiteren Zermürbungskrieg in Afghanistan auch den Zusammenbruch der USA herbeiführen zu können. Bin Laden war optimistisch. »Unsere Schlacht mit den Vereinigten Staaten ist leicht, verglichen mit den Schlachten, die wir in Afghanistan geschlagen haben«, sagte er 1996. »Der russische Soldat ist mutiger und geduldiger als der US-Soldat.«
Die Anschläge vom 11. September 2001 dienten ideologischen Zielen, sie waren aber auch eine bewusste Provokation. Man wollte die Amerikaner nach Afghanistan locken. Westliche Geheimdienste schätzten die Zahl der Kämpfer von al-Qaida damals auf etwa 5 000, doch waren die Jihadisten nicht so größenwahnsinnig, zu glauben, sie könnten die USA allein besiegen. Symbolträchtige Gewalttaten sollten eine Eskalation herbeiführen und die Muslime zwingen, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden.
Der Urheber dieser Strategie war Ayman al-Zawahiri, der bereits vor bin Ladens Tod als der ­eigentliche Ideologe und politische Führer von al-Qaida galt und nun dessen Nachfolger werden könnte, obwohl kein Färbemittel den dröge wirkenden 59jährigen in einen charismatischen Kämpfer verwandeln würde. Zawahiri gehörte der Jihad-Organisation an, deren Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat im Oktober 1981 mit Guerillaaktionen verbunden war, die einen Aufstand auslösen sollten. Doch das Unternehmen scheiterte kläglich.
Statt die naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen, dass auch reaktionäre, mit dem Islamismus sympathisierende Muslime sich nicht durch exemplarische Attentate zum Jihad motivieren lassen, wollten Zawahiri und seine Mitkämpfer ihre Strategie in globalem Maßstab noch einmal erproben. Mit bin Laden gewannen sie in Afghanistan einen finanzkräftigen Sponsor und eine telegene Symbolfigur.
Doch auch nach dem 11. September 2001 scheiterten die Jihadisten, nicht nur in Afghanistan, wo das Regime der Taliban schneller als erwartet zerfiel und al-Qaida sich geschwächt nach Pakistan zurückziehen musste. Wo immer ihre Kämpfer auftraten, merkten auch anfänglich Sympathisierende schnell, dass der Jihad sich gegen alle richtete, die al-Qaida nicht in jeder Hinsicht zu folgen bereit waren. Vor allem die extreme Brutalität gegenüber muslimischen und nichtmuslimischen Zivilisten sorgte dafür, dass die in den ersten Jahren nach 2001 noch recht große Popu­larität mehr und mehr schwand.
Überdies begann al-Qaida den globalen Jihad, als die Anziehungskraft des Islamismus bereits abnahm. Die von Islamisten im algerischen Bürgerkrieg begangenen Massaker sorgten für Ernüchterung, die Verhältnisse im Iran zeigten, dass die »islamische Revolution« weder ein Ende der Tyrannei noch soziale Gerechtigkeit brachte. Viele Klassen und soziale Schichten, unter anderem Industriearbeiter und Bauern, hatten die Islamisten ohnehin nie für sich gewinnen können. Im neuen Jahrtausend verloren sie die Vorherrschaft über die Mittelschicht, auf die Generation Jihad folgte die Generation Facebook.
Sich als konsequenten Gegner der Despoten darzustellen, verschaffte al-Qaida Sympathie. Doch mit den arabischen Revolten ist offensichtlich geworden, dass die meisten Oppositionellen nun für Demokratie und soziale Reformen kämpfen. Die in Ländern wie Ägypten weiterhin sehr zahlreichen Reaktionäre bestehen auf »islamischen Werten« und der Anwendung der Sharia im Familienrecht, aber selbst die Muslimbruderschaft gelobt, sich an die demokratischen Regeln zu halten.

Jugendliche Abenteurer und Männer, die sich von der Gewaltpornographie der jihadistischen Videos angezogen fühlen, werden wohl weiterhin die Trainingscamps in Pakistan aufsuchen. Doch in den meisten islamischen Staaten ist al-Qaida nur noch für wenige eine politische Alternative. Eine Ausnahme sind die failed states, Länder wie Somalia, in denen islamistische Warlords große Territorien beherrschen. Gesellschaftliche Zerrüttung und Perspektivlosigkeit verschaffen den Jihadisten einen Zustrom an Rekruten, von denen die meisten eher am Sold als an der Ideologie interessiert sind. Doch sie werden von einem harten Kern ideologisch geschulter Kader straff geführt.
In der somalischen Hauptstadt Mogadishu fragte niemand, ob er sich über den Tod bin Ladens freuen darf. »Sein Tod ist ein Meilenstein für den Weltfrieden«, sagte Mohammed Said, einer der Demonstranten, die am Mittwoch vergangener Woche gegen al-Qaida protestierten. Doch gerade für die Bewohner der failed states könnte das Verschwinden des al-Qaida-Führers auch negative Folgen haben. Denn je geringer die Bedrohung der westlichen Staaten durch den islamistischen Terror ist, desto geringer ist auch das Interesse an dem, was in den Rückzugsgebieten der Jihadisten geschieht. So wollen viele US-Kongressabgeordnete nun den Truppenabzug aus Afghanistan beschleunigen. Der Tod bin Ladens könnte eine Einigung mit den Taliban erleichtern, die sich derzeit gemäßigt geben und darauf verzichten, Schulen anzuzünden.
Im Jemen könnte ein Sieg der Demokratiebewegung auch den Zerfall des Staates stoppen und al-Qaida die Rückzugsgebiete nehmen. Doch die Revolte hat Südasien und Bürgerkriegsstaaten wie Somalia noch nicht erfasst. Es besteht die Gefahr, dass sich in den Regierungen und der Öffentlichkeit des Westens die Ansicht durchsetzt, man könne solche Gebiete sich selbst überlassen, soferm die Jihadisten nur noch andere Muslime terrorisieren.