Die brasilianische Atompolitik. Teil 8 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Reaktor auf faulem Stein

Die brasilianischen Atomkraftwerke stehen in einem der wenigen erdbebengefährdeten Gebiete des Landes. Jetzt soll dort noch ein Reaktor gebaut werden. Teil 8 einer Serie über die internationalen Atomdebatten.

Naturkatastrophen waren dieses Jahr ein wichtiges Thema für die brasilianische Öffentlichkeit. Zunächst gab es die Erdrutsche, die im Januar vor allem im Bundesstaat Rio de Janeiro heftige Verwüstungen mit fast 1 000 Toten verursachten. Zwei Monate später lösten das Erdbeben, der Tsunami und die Atomkatastrophe in Japan in der brasilianischen Bevölkerung neue Ängste aus, was die Sicherheit des staatlichen Atomprogramms betrifft.
Auf einer von der Kommission für Umwelt und nachhaltige Entwicklung einberufenen öffentlichen Anhörung am 12. April wurde auf das Fehlen eines Strahlenschutzsystems im Falle eines schweren Störfalls hingewiesen. Ein ähnlicher Unfall wie in Japan könne in Brasilien kaum passieren, sagte Rogério dos Santos Gomes, Präsident des Aufsichtsrats für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit der Nationalen Kommission für Nuklearenergie. Er mahnte dennoch, dass verschiedene Naturereignisse ähnliche Folgen wie das Erdbeben in Japan haben könnten, etwa große Stromausfälle, Brände oder Erdrutsche. Für die brasilianische Atompolitik bedeute dies, dass die Sicherheit der eigenen Reaktoren überprüft werden müsse. Von einem Ausstieg aus der Atomenergie ist aber nicht die Rede. Der in Bau befindliche Reaktor »Angra III« soll bis 2015 fertiggestellt werden.
Der Anteil der Atomkraft an der Elektrizitätserzeugung ist in Brasilien mit 3,3 Prozent bisher sehr gering. Das Atomprogramm wurde in den sechziger Jahren während der Militärdiktatur aufgenommen und war damals mit Großmacht­ansprüchen verbunden, sowie mit der Hoffnung, mittels der Atomkraft die Industrialisierung zu beschleunigen und die westlichen Industriestaaten einzuholen.
Brasiliens erster Reaktor, »Angra I«, war ein Druckwasserreaktor, der im Jahr 1985 den Betrieb aufnahm. Zehn Jahre zuvor hatten die brasilianischen Militärs einen Atomvertrag mit Deutschland abgeschlossen, der den Bau von acht Atomkraftwerken und den Erwerb von Anreicherungstechnologie vorsah. Seitdem ist nur ein weiteres Kraftwerk ans Netz gegangen: »Angra II«, ein Druckwasserreaktor, der nach einer Bauzeit von 25 Jahren im Jahr 2000 von der Siemens-Kraftwerk Union (Siemens-KWU) fertiggestellt wurde.
Die Siemens-KWU wurde auch mit dem Bau des Reaktors »Angra III« beauftragt. Nach der Fusion mit den französischen Atomkonzernen Framatome und Areva NP hat Siemens seinen Anteil kürzlich an Areva abgegeben. Der Technologie-Export wurde jedoch noch durch eine Hermesbürgschaft der deutschen Regierung abgesichert.

Die Reaktoren wurden nach dem Ort benannt, an dem sie gebaut wurden, der Bucht Angra dos Reis. Das zwischen den Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo gelegene touristische Erholungsgebiet an der Costa Verde ist eine der wenigen erdbebengefährdeten Gegenden Brasiliens, die von den einst dort ansässigen Indigenen als Itaorna (fauler Stein) bezeichnet wurde. Es ist zwar nur mit leichten Beben zu rechnen, doch die enge Küstenstraße, die nach Angra dos Reis führt, muss vor allem während der heftigen Regenzeit immer wieder wegen Erdrutschen und Schlammlawinen gesperrt werden. Eine Evakuierung der von einem Störfall direkt betroffenen 150 000 Einwohner wäre dann kaum möglich. Die Nähe zum Meer führt außerdem dazu, dass die Generatoren wegen des Salzwassers schneller rosten. Der Betreiber Eletronuclear hat nach dem Unfall in Japan Maßnahmen angekündigt, um die Sicherheit zu erhöhen und den Notfallplan zu verbessern. So sollen Piere für die Evakuierung über das Meer und ein kleines Wasserkraftwerk zur Notfallstromversorgung gebaut werden. Neben unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen gibt es keine konkreten Pläne zur Endlagerung des gebrauchten Brennmaterials. Bisher lagert es in Wasserbecken neben »Angra I«. Die Kapazitäten dieses Notlagers erreichten aber bereits 2004 ihre Grenzen.

Das kritisiert auch die Umweltorganisation Greenpeace. Am 25. April, einen Tag vor dem 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, demon­strierte Greenpeace vor der Brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) in Rio de Janeiro, die einen Teil der Finanzierung von Angra III übernehmen soll. »Die BNDES soll darüber nachdenken, ob öffentliches Geld in eine unsichere, höchst gefährliche, teure und unnötige Technologie investiert werden soll«, sagt Ricardo Baitelo, der Verantwortliche für die Energiekampagne von Greenpeace. Eine Woche zuvor hatte Greenpeace vor dem Sitz der Präsidentin Dilma Rousseff in Brasília protestiert und die Einstellung des Atomprogramms gefordert. Stattdessen solle das Land auf seine zahlreichen erneuerbaren Ressourcen setzen. Der Widerstand gegen die Atomkraft in Brasilien ist nicht mit der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland zu vergleichen. Außer Aktionen von Greenpeace gab es bisher kaum wahrnehmbare Proteste oder Demonstrationen.
»Die Diskussion um das Atomprogramm darf den Bau von Angra III nicht beeinträchtigen«, sagte Maurício Tolmasquim, Präsident des Energieforschungsunternehmens des Energieministeriums, während des World Economic Forum Ende April in Rio. Zwar betonte auch er die Wichtigkeit von erneuerbaren Ressourcen, warnte jedoch, dass das Potential für den Bau weiterer Wasserkraftwerke, die 85 Prozent der Energieversorgung ausmachen, bald ausgeschöpft sei. Hinzu kämen starke Proteste gegen große Staudammprojekte und schärfere Umweltauflagen, die den Ausbau erschwerten. Die Diskussion um die negativen sozialen und ökologischen Konsequenzen großer Staudämme und die Organisation des Widerstands gegen Bauprojekte sind in Brasilien tatsächlich viel weiter als die Auseinandersetzung mit den Gefahren der Atomkraft.