Obama besuchte Ground Zero. Die große Party blieb aus

Same Old …

Nach dem Tod von Ussama bin Laden besuchte Barack Obama Ground Zero. Die große Party in Manhattan blieb aus. Die Jungle World war trotzdem dabei.

1. Mai, 22:20 Uhr
Sitze in meinem Büro (Bett); entscheide mich für einen letzten Blick auf die Welt, bevor ich den Tag beende. Melde mich auf der Homepage der New York Times an; klicke mich durch zu einer seltsamen, drei Sätze langen Story über eine bevorstehende geheimnisvolle spätabendliche präsidiale Ankündigung. Bleibe länger auf als geplant und warte auf den Video-Stream. Unglaubliche Nachrichten! Ziehe heiseres Feiern in Betracht, entscheide mich aber für Screenshots, Facebook und das, was von einem ausgiebigen Nachtschlaf noch übrig ist.

2. Mai
Nehme im örtlichen Café eine Zeitung als Souvenir mit (»Verrotte in der Hölle!«)
Die Welt wird nie mehr die gleiche sein. Aber: Es ist, wie ein Kollege darlegt, nun zwar ein guter Anlass für einen Drink und eine Zigarre, aber danach muss man doch damit weitermachen, was man gerade gemacht hat, weil es sonst derselbe alte Mist ist. Mache damit weiter, was ich gerade gemacht habe.

5. Mai
Obama kommt zum Ground Zero. Ich habe keine VIP-Referenzen, aber das ist wirklich eine große Story. Lasse das mit dem Video-Stream und mache mich auf den Weg zu heiligem Grund. In den Nachrichten wird wegen der Straßensperrungen ständig davon abgeraten, das Auto zu nehmen, was natürlich gut für Autofahrer ist. Springe ins Auto, rausche über freie Straßen.
Manhattan sieht eigentlich aus wie immer; Sightseeing-Busse; Autoaufkleber (»Meine Kinder halten mich für einen Geldautomaten«). Fahre an Yogo’s vorbei, einem Schlosser und Schuhreparaturladen. Mir wird klar, dass ich der Sache näher komme, als eine Frau mit einer Krone der Freiheitsstatue aus Schaumstoff vorübergeht. Ich höre, wie jemand sagt, Obama sei schon wieder weg, was seltsam wäre, da er erst in einer halben Stunde hier sein soll, aber wer weiß? Man sieht fast nichts von der Straße aus, also gibt jemand seine Kamera einem anderen, der auf einem Mauervorsprung steht, und bittet ihn, ein Foto von dem zu machen, was immer er sehen kann. Aber es scheint, dass auch er nicht viel sehen kann, also gehe ich weiter.
Ein Typ fragt mich, ob ich Jude bin, und bietet mir an, den Terror mit Gebetsriemen zu bekämpfen. Ich würde wirklich gerne, aber gerade jetzt ist es schlecht. Rede mit einem australischen Reporter, der soeben aus L.A. angekommen ist. Er scheint auch nicht zu wissen, wo Obama ist, aber er ist glücklich, eine Entschuldigung dafür zu haben, hier zu sein. Er gestikuliert herum und sagt mir, was für eine tolle Stadt dies ist. Ich hätte nichts gegen einen kurzen Besuch in L.A. einzuwenden, aber ich behalte es für mich.
Autos fahren vorbei. Obamas Konvoi? Mache Fotos von Zuschauern und Journalisten (# 3), gehe dann an einer Ehrenflagge zum 10. Jahrestag™ vorbei (# 1) und zur anderen Seite des Geländes. Ein CNN-Reporter sagt, sie glauben, dass Obama noch hier ist, denn ihnen habe niemand etwas anderes gesagt, und dabei würden sie auch bei ihrem nächsten Live-Bericht bleiben.
Ich bin immer noch auf der Suche nach Menschenmengen und gehe in der Lobby des World Financial Center am Palmenhain vorbei und über die Treppe wieder auf die Straße (verbraucht Kalorien, nicht Elektrizität!)
Doch leider muss Obama inzwischen gegangen sein, denn Bauarbeiter checken wieder durch das High-Tech-Sicherheitssystem ein. Nun gut. Mache Fotos von einem sicheren Abfalleimer (# 9). Schade, dass ich alles verpasst habe, aber ich finde einen vorbeikommenden Feuerwehrmann, der live dabei war und mit Obama gesprochen hat. Bringe ihn dazu, für ein schnelles Foto zu posieren; gehe dann weiter auf Spurensuche (# 4).
Studiere verschiedene handschriftliche Notizen auf einem Banner außerhalb des Geländes: »Lieber Osama, wir haben dich! In Liebe, Amanda!« (# 7) und »Lieber Präsident Obama, Sie haben das Unmögliche vollbracht«. Auch Danksagungen gibt es viele: an Obama, die Navy Seals, George W. Bush und Gott.
Inzwischen ist hier alles mehr oder weniger wie immer, außer kleinen Gruppen von Journalisten, die sich um ein paar Familienangehörige versammeln, die gewillt sind, ihre Geschichten wieder und immer wieder zu erzählen. Aber auch die Großzügigsten haben ihre Grenzen, denn irgendwann muss man sich wieder bei Facebook anmelden. Ich lasse einen bärtigen, mit einer Bibel winkenden Mann an einer Straßenecke stehen. Auch für ihn ist hier zu wenig los. Er packt sein heiliges Buch und Schildchen und geht (# 6).
Am längsten halten es die Journalisten aus, die »live« vor dem historischen Church of St. Peter berichten (# 5). Mittlerweile ist die Schlange am »Preview Site« des 9/11-Memorials zusammengeschrumpft (# 8). Gehe hinein, und für einen Augenblick bringen die großen Bilder der Katastrophe an den Wänden den Horror zurück. Seltsam, wie weit weg das alles heute erscheint. Ich will bleiben, aber ich habe Hunger, und meine Familie wartet auf mich. Mache noch ein paar Fotos – Tische und Stühle, die von denen benutzt wurden, die Obama getroffen haben, und eine Freiheitsstatue, die nach den Angriffen vom 11. eptember eine stattliche Menge an Mementos erhalten hat (# 2).
Zurück auf der Straße finde ich endlich die Menschenmengen, die ich gesucht habe. Es ist Feierabend und die Bürgersteige sind voll.
Vielleicht liegt es an mir, aber ich kann nicht viel von der trauervollen Stimmung einer Zeremonie erkennen, oder von der Erleichterung angesichts eines abschließenden Ereignisses. Der gleiche alte … Schon jetzt? Fotografiere historischen Abfall; mache mich auf den Weg zurück zum Auto, und dann nach Hause.

Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Schuster