Über die Hartz-IV-Reform

Selbständigkeit unerwünscht

Wer noch immer glaubt, es gehe in der deutschen Arbeitsmarktpolitik um die Förderung von »Eigeninitiative«, wird durch die jüngste Hartz-IV-Reform eines Besseren belehrt.

Einen »Frühjahrsputz« nannte der Berliner Tagesspiegel die im April in Kraft getretene Reform der Hartz-IV-Gesetze, mit der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen der seit der Finanzkrise verschlechterten Haushaltslage gerecht werden will. Bei einem Frühjahrsputz wird bekanntlich diverses Gerümpel, das sich im Laufe des Jahres angesammelt hat, auf den Sperrmüll befördert, um für die anschließende Säuberung und Verschönerung des Heims Platz zu schaffen. Hinterher sind dann alle Beteiligten glücklich erschöpft, und die eigenen vier Wände erstrahlen in neuem Glanz.
Nimmt man das Bild beim Wort, erweist sich schnell seine Unangemessenheit. Nicht nur interessiert sich von der Leyen mittlerweile nicht einmal mehr für die glänzende Fassade des Sozialstaats, sie unternimmt auch nichts, um überflüssige oder praxisferne Instrumente der Arbeitsmarktpolitik abzuschaffen. Im Gegenteil, um ihre Sparziele zu erreichen, tilgt die Ministerin aus ihrem Katalog die wenigen Angebote, die hin und wieder vielleicht tatsächlich zur Arbeitsbeschaffung beitragen, und möchte künftig fast nur noch solche Maßnahmen finanzieren, mit denen die betreffenden »Zielpersonen« ihr Leben lang auf den Status von Erwerbslosen und staatlich Alimentierten festgelegt werden. Damit verabschiedet sie sich endgültig von der stets nur halb geglaubten Ideologie der »Eigeninitiative«, die den Menschen mit Schlagworten wie »Fordern und Fördern« einreden sollte, ihr Ein-Euro-Job oder ihr Dahinvegetieren als »Aufstocker« sei in Wahrheit der unscheinbare Beginn einer Traumkarriere.

Die Gelder zur Finanzierung der Ein-Euro-Jobs, mit denen sich derzeit ein Drittel der Empfänger von Hartz IV über Wasser hält, werden drastisch gekürzt. Die Pauschalen zur Unterstützung von Arbeitgebern, die Ein-Euro-Jobber beschäftigen, sollen deutlich geringer als früher ausfallen. Bisher betrugen sie im Schnitt jeweils 263 Euro, von nun an sollen nur noch rund 150 Euro gezahlt werden, so dass immer weniger Unternehmen und soziale Einrichtungen sich für diese Beschäftigungsmöglichkeit entscheiden dürften. Der Grund dafür ist, dass Ein-Euro-Jobs, wie der Bundesrechnungshof immer wieder gefordert hat, »wettbewerbsneutral« sein müssen, also keine Beschäftigungsverhältnisse auf dem ersten Arbeitsmarkt verdrängen dürfen. Damit gesteht die Bundesregierung ein, dass diese Jobs nie die Funktion hatten, die Betroffenen langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sondern lediglich ein Heer von Handlangern bereitstellen, die faktisch aus der bürgerlichen Wettbewerbsgesellschaft ausgeschlossen und beliebig einsetzbar sind. Dazu passt die geplante Stärkung der »Bürgerarbeit«, die künftig auch in Form von Zeitarbeit, also weitgehend abgekoppelt von Tarifverträgen, organisiert werden darf. Den kurz vor der Pleite stehenden Kommunen wird damit die Möglichkeit gegeben, Dienste wie die Reinigung der öffentlichen Parks und den Unterhalt der Stadtbibliotheken oder Seniorenheime von über die Arbeitsagenturen angeheuerten Hilfsarbeitern erledigen zu lassen, die meist schlechter qualifiziert und weniger motiviert sein dürften als die seit Abschaffung der Wehrpflicht im Verschwinden begriffenen Zivildienstleistenden.

Der vielleicht drastischste Einschnitt betrifft aber den sogenannten Gründungszuschuss, der Empfängern von Arbeitslosengeld zwecks Aufbaus einer freiberuflichen Tätigkeit gewährt wird. Die Bewilligung dieses Zuschusses, der bislang jedem nahezu sicher gewesen ist, sofern er höchstens ein halbes Jahr arbeitslos war und einen Geschäftsplan sowie ein positives Gutachten eines Unternehmensberaters vorlegen konnte, soll künftig der Entscheidung des jeweiligen Sachbearbeiters anheimgestellt werden. Außerdem muss der Zuschuss spätestens nach einem Vierteljahr Arbeitslosigkeit beantragt werden und soll deutlich knapper ausfallen als bisher; gegenwärtig setzt er sich aus der Höhe des vorigen Arbeitslosengeldes inklusive einer monatlichen Pauschale von 300 Euro zusammen. In der Zukunft dürfte diese Maßnahme, die einer nicht geringen Zahl von Menschen auf bescheidenem Niveau ein Leben ohne Abhängigkeit von direkter staatlicher Alimentierung ermöglicht, zum reinen Erpressungsmittel werden, um möglichst viele Arbeitslose aus der Statistik zu drängen, in der sie dann spätestens nach einem Jahr wieder auftauchen.
Weiter in gleicher Höhe gefördert und teilweise sogar ausgebaut werden dagegen die diversen Trainings-, Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen, die schon immer kaum etwas anderes als eine verordnete Hirnwäsche gewesen sind und um deren arbeitspolitische Nutzlosigkeit die Agenturmitarbeiter selbst am besten wissen.

Da die Förderung der bloßen Verwaltung und Disziplinierung des Arbeitslosenheers mit dem fast vollständigen Verzicht auf Förderung beruflicher Selbständigkeit gut harmoniert, ist nicht davon auszugehen, dass ihr einfach nur ein Denkfehler zugrunde liegt. Vielmehr ist »Eigeninitiative« von nun an auch offiziell überhaupt nicht mehr das Ziel der Maßnahmen. Sie wird ausdrücklich zu dem, was sie implizit schon immer war: zu einer reinen Psychotechnik, um jeden Einzelnen zu überzeugen, dass seine Erwerbslosigkeit selbstverschuldet sei und diejenigen, die nichts zur volkswirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft beitragen, sich am besten so schnell wie möglich selber abschaffen sollten. Bis dahin stellen »Coaches« und »Teammanager« die Verfügbarkeit aller »Arbeitswilligen« sicher, die unter dem Druck von Disziplinierung, Angst und Neid zu ebenso ohnmächtigen wie aggressiven Zwangscharakteren werden, von denen nichts Gutes zu erwarten ist – schon gar nicht die Abschaffung ihrer eigenen Misere. So wird Arbeitslosigkeit durch staatliches Handeln erst zu jener Existenzbedrohung, als die jeder Staatsbürger sie fürchten lernt.