Bob Dylan wird 70

Fischen nach Wörtern im Fluss der Scheiße

Am 24. Mai wird Bob Dylan 70 Jahre alt. Ist er der einflussreichste Künstler des 20. Jahrhunderts oder der Anführer einer Volksmusikbewegung, ein Betbruder und überschätzter Lagerfeuerlyriker? Handelt es sich bei Bob Dylan um Gott oder nur um einen alten Mann mit einer Gitarre in der Hand, der nicht tanzen kann? Und wann bekommt er den Literaturnobelpreis? Wir haben nachgefragt. Bei unseren Dylan-Experten Klaus Walter, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann, Magnus Klaue, Georg ­Seesslen, Felix Klopotek, Jonas Engelmann, Martin Krauss und Knud Kohr

Watching the Einfluss flow

»Ich hasse Zimmerman«, verkündet Tom Liwa von den Flowerpornoes im Rolling Stone zu Bob Dylans Siebzigstem. Er nennt ihn beim Geburtsnamen, Zimmerman. Liwa hasst den übermächtigen Songwriterkollegen »für die vielen Jahre meines Lebens, die es mich gekostet hat, ihn als Identifikationsmodell zu überwinden und zu erkennen, was hinter seinem Werk steht: nichts als Verachtung, Rachegefühle, verletzte Eitelkeit und boshafte Ignoranz.« Tom Liwa dürfte vielen aus der Seele sprechen in diesen Tagen. Vor jedem Jubiläum treiben seine meist männlichen Fans den Geniekult um Dylan weiter in den Irrsinn. Man muss den Furor Liwas nicht teilen, um ihm eine gründliche und möglicherweise schmerzhafte Auseinandersetzung mit der dominanten Vaterfigur abzunehmen. Allemal sympathischer als die grassierende Heldenverehrung. Wenn von Dylans Einfluss auf deutschsprachige Musiker die Rede ist, dann fallen meist die Namen Ambros und Niedecken. Dabei singen die Wolfgangs nicht Deutsch, sondern Mundart, und sie verhalten sich zu Dylan wie polnische Katholiken zum Papst: gutgläubig, unterwürfig, bewundernd.
Interessanter sind die Spuren Dylans dort, wo man sie nicht vermutet. Bei Christiane Rösinger zum Beispiel: »Natürlich hat Dylan der Rockmusik eine sprachliche Komplexität gegeben. Keiner kann sich jetzt mehr rausreden, der Text wäre nicht so wichtig oder man könne komplexere Themen nicht behandeln. Er bringt alles unter: Metaphern, literarische Verweise, Drogenerfahrungen, Insiderwitze, Bibelzitate, ein Sich-in-einen-Wahn-Reinsingen, der stream of consciousness. Die Worte finden sich selber, er steigert sich rein in so eine Lust. Noch’n Wort und noch’n Wort … « Sie sei kein großer Dylan-Fan, meint die Sängerin von Britta und den Lassie Singers, Neil Young und Leonard Cohen seien wichtiger. Cohen bis heute. »Songs of love and hate« ist eines seiner berühmtesten Alben. »Songs Of L. and Hate« nennt Rösinger ihr erstes Soloalbum, unter Einflussangst leidet sie nicht. Das belegt auch das Cover, eine aneignende Rekonstruktion von Dylans »Bringing it all back home«. »Das Umschlagfoto, kunstvoll arrangiert und ebenso kunstvoll fotografiert von Daniel Kramer, zeigt eine Frau und einen Mann in einem Upper-Class-Ambiente«, schreibt Klaus Theweleit, der ohne Dylan anders schriebe, als er schreibt, in »Image-Bau & Coverdesign«, einem der interessanteren Beiträge seines Dylan-Lesebuchs. Weiter: »Sally Grossman, die Frau von Dylans Manager Albert Grossman, halb hingestreckt auf einem Sofa, davor Bob Dylan, Jackett, Manschettenknöpfe. Zwischen ihnen, übereinandergeschoben, ein paar Schallplatten: ›Keep on pushing‹ von den Impressions, Robert Johnsons ›King Of The Delta Blues Singers‹, Ravi Shankars ›India’s Master Musician‹, ›Lotte Lenya Sings Berlin Theatre Songs by Kurt Weill‹ und ›The Folk Blues of Eric Von Schmidt‹. Und, angeschnitten hinter Sally Grossman sichtbar, ein Teil der Hülle von ›Another Side of Bob Dylan‹, ein Selbstzitat. Außerdem sind zu sehen: eine Nummer des Time Magazine, 1. Januar 1965, mit Präsident Lyndon B. Johnson; (toll, Robert und Lyndon B., Southern Johnsons des 20. Jahrhunderts, keine drei Jahre auseinander, jeder groß auf seine Art – K.W.) eine Mundharmonika und ein Strahlenschutz-Teil (FALLOUT SHELTER).«
Weiter schwärmt Theweleit von der »mondänen Dame«, dem »Edeltier« von Katze auf Dylans Schoß und der »Künstlichkeit der ganzen Komposition«, die er als »rabiaten Bruch mit der optischen Erscheinung von Folk und Protestsong« deutet. Die Erkenntnis, dass Folk und Protest auch eine optische Erscheinung, einen Style haben, ist 2011 keine große Sache, unter alten Dylanologen schon. 1965, als »Bringing it all back home« herauskommt, ist das »französierte Erscheinungsbild« (Theweleit) »höchst offensiv«. Es »zeigt Dylan entschlossen als Teil einer anderen Welt«. Nouvelle Vague.
45 Jahre später covert eine Frau das Cover, die vier Jahre alt ist, als »Bringing it all back home« herauskommt, mithin heute viel zu alt für ein Debüt, nach den Gesetzen des Marktes. »Songs Of L. and Hate«. Auch Rösinger trägt Katze, der Kamin ist ein Klavier, die Platten sind von Neil Young, Carambolage und John Cale. Was Frau Grossman in Rot neben Zimmerman war, ist hier ein Mann in Rot: Andreas Spechtl, Rösingers musikalischer Partner und Sänger der in einer Berliner WG lebenden Österreicher-Band Ja, Panik. Auch Spechtl hat keine Einflussangst vorm großen Meister. »Something is happening but you don’t know what it is, do you, Mr. Jones?«, fragt Dylan in »Ballad of a Thin Man«, 1965. »Irgendwas ist da im Gange, du bist nicht sicher, doch du schreibst«, heißt es in »Mr. Jones & Norma Desmond« vom neuen Album der Band Ja, Panik, »DMD KIU LIDT« (»Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.«). Norma Desmond ist der von Gloria Swanson gespielte Stummfilmstar in Billy Wilders Melodram »Boulevard der Dämmerung«. In »The Anxiety of Influence« entwickelt der Literaturwissenschaftler Harold Bloom die Theorie der Einflussangst. Danach versucht ein Schriftsteller in seinem Streben nach Originalität, sich von Vorbildern und Einflüssen zu lösen. Hallo, Ödipus! »Der Dichter versucht, seinen ›geistigen Vater‹ zu töten.« (Bloom)
Spechtl sagt über den Mann, der sein Großvater sein könnte: »Was ich sehr an Bob Dylan bewundere, ist seine Technik der Aufführung. Er versucht als Künstler, sich live nie zu reproduzieren, stets neue Versionen vermeintlich altbekannter Songs durchzuspielen. So umgeht er die Gefahr eines Stillstands. Eigentlich ist die Lehre Dylans die von der Dekonstruktion: dass man jedes Lied auf seine Idee herunterbrechen können muss. Nur dann ist ein Song fähig, sich weiterzuentwickeln, und nur dann kann man in der Aufführung oder Interpretation diesen Song mit jedem Mal weiterschreiben. An diesem Punkt, an dem man Songs als Versionen begreift, sind wir ganz nah bei Dylan. Viele Songs, auch unsere, sind starre Korsetts und Arrangements, man kann aus ihnen nicht ausbrechen. Man muss dem dann strukturell begegnen. Die Struktur wäre dann gewissermaßen, dass der Song eine Momentaufnahme ist. Die Leistung von Dylan, seine Technik, an der wir uns auch abarbeiten, besteht darin, zu akzeptieren, dass es eine Momentaufnahme ist, und sie nicht um jeden Preis perfektionieren zu wollen. Das wird jeder begreifen, der eine der unzähligen Live-Aufnahmen von ihm kennt, wo er ja ständig seine Songs neu schreibt, nicht für die Ewigkeit, sondern für den Moment.«
Der Moment. Die Angst vor dem Einfluss der Alten wenden Ja, Panik ins Enthusiastische: Der Titelsong ihres Albums »DMD KIU LIDT« sei »eine Kreuzung von Falcos ›Jeannie‹ und Bob Dylans ›Sad Eyed Lady of the Lowlands‹«, sagt Spechtl. »All die Sänger in dir lärmen, es ist ein wahrlich großes Fest«, heißt es an anderer Stelle. Ein Fest, wie Ja, Panik dem nahe liegenden Vorwurf begegnen, sich wie Blumfeld einem Dylan-Song anzuverwandeln: Für »Jenseits von Jedem« hatte Jochen Distelmeyer den Zirkus von »Desolation Row« wiederbelebt. Bei Dylan treten auf: Dr. Filth und seine sexless patients, Einstein verkleidet als Robin Hood, Noah und Ophelia, Ezra Pound und T.S. Eliot, Casanova und das Phantom der Oper, Quasimodo und der blinde Polizeichef. Für »Desolation Row« erfand der liebe Gott Amphetamine. Nicht nur vom Umfang und Personal her kann es »Jenseits von Jedem« mit »Desolation row« aufnehmen: Zu einem orgelnden Folkrockgroove, wie ihn Dylans Bands Mitte der Sechziger perfektionierten, begegnen wir Pinocchio und Ahab, Cleopatra und Lancelot, Parsifal und Madame Butterfly, »Napoleon B. spielt Für Elise Klavier«. Wer da »Plagiat« schreit, hat nichts kapiert.
Wenn Ja, Panik jetzt Mr. Jones und die Lady mit den traurigen Augen antreten lassen, dann stellen sie sich (selbst)bewusst in die Ahnenreihe der einflussangstfreien Wortklau(b)er Dylan und Distelmeyer. Indem sie deren Techniken des Zitierens und Rekontextualisierens variieren. Distelmeyer ist wenig begeistert, wenn man ihn auf die offenkundigen Parallelen zwischen Dylans »Desolation row« und Blumfelds »Jenseits von Jedem« anspricht:
»Das war Zufall. Da haben mir wahrscheinlich irgendwelche frühkindlichen Jugendprägungen ein Schnippchen geschlagen. Natürlich war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich ein Stück über eine Gegend mit so archetypischen Figuren machen wollte. Und dann dachte ich, das kenn’ ich doch irgendwoher! Wer hat das denn schon mal? … und dann, ach nee! Also Dylan schon wieder. Und dann stand ich vor der Wahl, eine Einflussangst gelten zu lassen oder nicht.«
Distelmeyer kennt Blooms Theorie von der Einflussangst: »Davon bin ich immer frei gewesen, ich habe kein Problem damit, wenn Leute sagen, das klingt ja wie so und so und das kommt von da und da.«
Bei Dylan kommt vieles von da und da. Das Stream-of-Consciousness-Schreiben hat er nicht erfunden, aber er hat es Massen (nicht nur Männern) zugänglich gemacht. Der Stream of Consciousness nach Dylan ist ein anderer als vor Dylan. Vielleicht meinte Stephen Malkmus von Pavement das, als er sagte: »Dylan fischt Wörter aus dem Fluss der Scheiße.«
Produktiv wenden, was scheiße war, als man Punk war. So fischen die Goldenen Zitronen aus dem flow of the Dylanriver, watching & watching & watching …
»Am Tag, als Thomas Anders starb« spült die Zitronen dank Funpunk-Alarm und Bravo für ein paar Tage in die Tote-Hosen-Liga. Ein Vierteljahrhundert ist das her. Plötzlich kommen jede Menge falsche Freunde zu den Konzerten. Ted Gaier meint: »Dylans Einfluss auf die Goldenen Zitronen hat mit dem Zeitpunkt zu tun, an dem wir unser Konzept neu überdenken mussten. Wie wir umgehen mit unserer Popularität, die anscheinend bei den falschen Leuten ankommt. Wir wollten Schluss machen mit diesem Funpunk. Dazu der ganze Wahnsinn mit dem Mauerfall und dem Rassismus, der da wieder kam. Also brauchten wir Stücke, die nicht mehr so kurzformatig sind, wir brauchten längere Textstrecken. Die Idee war, eine Art polemischer Berichterstattung zu machen von den Dingen, die einem auf die Nerven gehen.«
Mit Dylans Waffen Konformisten auf die Nerven gehen, Nazis, Funpunks, Dylanisten, just like a Dylan in den besten Momenten. You gotta lotta nerve to say you are my friend … so fängt mein Lieblingssong an, der nervöse Quecksilbersound. Sound und Bild schlägt Wort am Ende.
Klaus Walter
Klaus Theweleit: How does it feel – Das Bob-Dylan-Lesebuch (Rowohlt Berlin)
Michael Endepols: Bob Dylan von A bis Z (Reclam)

Idiot Wind. Der frühe Dylan im Spiegel der Spiegel-Berichterstattung

Am 23. Juni 1965 widmete sich der Spiegel erstmals »Amerikas hochbezahltem Volksmusiktroubadour Bob Dylan, 23«, und gelangte zu dem Urteil: »Die scharfgeschliffene Intelligenz und die sprachliche Kunstfertigkeit von Dylans engagierten Agitprop-Versen« seien »kennenlernenswert«. Ein Vierteljahr später, am 15. September, hatte man auch die Höhe seiner Gage und sein richtiges Alter ermittelt: »Er rebelliert meist abends und meist für 10 000 Mark Honorar. Er rebelliert gegen Johnson und Goldwater, gegen die Atombombe und den Vietnamkrieg, in Cafés und Kirchen, aber immer öfter in den großen Konzerthallen zwischen Los Angeles und New York, Chicago und New Orleans. Bob Dylan muckt musikalisch auf.« Die Folk-Musik wurde nach wie vor ganz ungezwungen mit »Volksmusik« übersetzt: »Sänger Dylan, 24, führt eine amerikanische Jugendbewegung an, die mit den ›Folksongs‹, einem von Banjo oder Gitarre begleiteten, meist politisch aggressiven Sprechgesang, immer größeren Widerhall findet. Es ist der bedeutendste Beitrag zur mächtig schwellenden ›Country and Western‹-Woge – Volksmusik, mit der sich Amerika derzeit am liebsten unterhält.«
Inzwischen weiß man Genaueres darüber, was Dylan von seiner Vermarktung als Führer einer Jugendbewegung hielt und wie ungern er sich nachsagen ließ, dass er »Agitprop« betreibe. Viel wichtiger schienen dem Spiegel jedoch die finanziellen Aspekte der schwellenden Woge zu sein. Die »›Folk‹-Sänger«, so hieß es, »drängen mit den Millionenauflagen ihrer Schallplatten die Beatmusik ab«, und es wurden auch exakte Summen genannt: »Ein ›Folk‹-Jamboree zog letzten Monat nahezu 20 000 Jugendliche in den amerikanischen Millionärsbadeort Newport. Ein Volksmusik-Festival in der New Yorker Carnegie Hall, Ende Juni, brachte dem Veranstalter Manheim Fox rund 200 000 Mark.« Der Nachhall sei mittlerweile so stark geworden, »dass die Interpreten zu Höchst-Honoraren in Konzertsälen und Sportstadien auftreten konnten und können«. Besonders arg treibe es Joan Baez: »Die Sängerin, die ihren Jaguar barfuß fährt und eine New Yorker Millionärsvilla bewohnt, behält neuerdings 60 Prozent ihrer Steuerzahlungen ein.« Denn die würden, wie sie sagte, sonst ja doch nur für Waffen und für den Krieg in Vietnam verwendet.
Zu einer regelrechten Plattenkritik im Spiegel brachte Dylan es erst im Januar 1966 mit »Subterranean Homesick Blues«. Sie ist so kurz, dass man sie in voller Länge zitieren kann: »Er schreibt seine Songs ›mit einer Kesselpauke im Sinn‹ (Dylan), und er singt sie rüde oder winselnd wie ein Muezzin. Die engagierte US-Folk-Music hat in Bob Dylan, 24, ihren Herrn und Master of Pop-art gefunden: Die Lieder wider Hunger, Krieg und Rassenhetze lassen Amerikas Jung-Nonkonformisten mit dem bleichen, bitteren Beatnik konform gehen. Die slang-verkürzten Verse des Kant-Lesers und Bardot-Verehrers Dylan sind origineller als sein Gitarre- und Mundharmonikaspiel. Den Ton geben Hillbilly und Rock’n’Roll an.«
Bleich? Bitter? Und gar ein »Kant-Leser«? Man fragt sich, auf welchem Wege der namenlose Kritiker zu den Ergebnissen seiner Recherche gelangt war. Von Dylans Zerwürfnis mit den Folk-Puristen hatte er noch nichts vernommen, oder er hielt es nicht für erwähnenswert. Und wie wäre das Winseln eines Muezzins mit Hillbilly und Rock’n’Roll zusammengegangen?
Man nahm es damals allgemein nicht so genau im Feuilleton, wenn es um Popmusik ging. So konnte es auch geschehen, dass der Spiegel die Beatles im Dezember 1968 anlässlich einer Besprechung des Weißen Albums als »Mop-Köpfe« und die »genialen affenhaarigen Musikanten« titulierte. Anderthalb Jahre danach, im Juli 1970, hatte sich die Redaktion allerdings auf die andere Seite der Barrikade geschlagen und tadelte Dylan dafür, dass er beim Konzert auf der Isle of Wight »reichlich schlaff« geklungen habe und auf seiner neuesten Platte – »Self Portrait« – den rebellischen Geist der frühen Jahre vermissen lasse. Er singe da »Allerweltslieder« und »Kommerz-Weisen«, statt dem Establishment einzuheizen: »Mit harschem Timbre und ätzenden Versen hatte er einst vor dem radioaktiven Regen gewarnt und die ›Herren des Krieges‹ attackiert. Mit seinen Protestsongs, mit Folk-Rock und Country-Rock hat er Moden gemacht. Anfang Juni verlieh ihm die Princeton University einen Ehrendoktorhut; denn Dylans Musik, so die Laudatio, war der ›authentische Ausdruck des beunruhigten und betroffenen Gewissens der jungen Amerikaner‹.« Temps perdue: »Das ist nun vorbei. In besseren Tagen hatte er gesungen: ›The times they are a-changin’‹ – die Zeiten ändern sich.«
Sehr zum Bedauern der nun ihrerseits journalistisch aufmuckenden Kulturredakteure. Im Spiegel-Hochhaus, muss man wissen, rebellierten sie damals meist erst am Feierabend und meist für weniger als 10 000 Mark am Tag; da durften sie von Dylan schon verlangen, dass er ihrem beunruhigten und betroffenen Gewissen mit Protestsongs einen authentischen Ausdruck verlieh.
Erst im Januar 1974, nach dem Beginn von Dylans Comeback-Tournee, schien man in Hamburg aufatmen zu dürfen: »Seine nasale Stimme schnarrt wieder wie ehedem bissig und aggressiv, mit Blues-Tonfarben und der unverwechselbaren Hinterwäldler-Diktion. Auch die neuen Lieder, die er nun neben früheren Top-Hits anstimmt, sind wie einst überwiegend brillant formuliert.« Was man von dem hier zitierten Artikel nicht behaupten kann. Auf das phrasenhafte Lob folgte die Enthüllung, dass Dylan ruhmsüchtig und egozentrisch sei: »Von der Wahl des Pseudonyms Dylan (nach dem an Trunksucht verendeten walisischen Dichter Dylan Thomas) bis zur Taktik, Interviews nur selten und nur gegen die Zusage einer Zensurmöglichkeit zu gewähren, von der Mystifizierung seiner Herkunft bis zur Selbststilisierung als großer Einsamer hat der Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus der Minnesota-Kleinstadt Hibbing mit großer Energie stets nur das eine Ziel verfolgt: berühmter zu werden als Elvis Presley und ›einen Charakter zu erschaffen, der sich verkaufen lässt‹ (so Dylan 1961 zu einem Freund in Minneapolis).« Paradoxerweise wollte Dylan aber nicht einmal dem Spiegel eine Home-Story verkaufen: »Sein Privatleben, er ist verheiratet und hat fünf Kinder, tauchte er in ein totales Informations-Blackout.« So dass dem Spiegel nichts anderes übrig blieb, als Anthony Scadutos Dylan-Biographie auszuwerten und sich auf trübe Quellen wie jenen alten Freund aus Minneapolis zu berufen.
Am Ende ging es auch diesmal weniger um die Musik als um hohe Zahlen und runde Summen, die den abgebrühten Spiegel-Lesern Aufschluss darüber gewähren mochten, dass das Geld die Welt regiere: »Insgesamt gingen für die 658 000 verfügbaren Sitzplätze der Tournee mehr als fünf Millionen Kartenwünsche ein. Bis 100 Dollar kletterte der Preis pro Ticket auf dem schwarzen Markt.« Und man konnte es in Dylans Kasse klingeln hören: »Mag sein, dass er lediglich kassieren will, was ihm Amerikas Rock-Szene angesichts seiner stilbildenden und umsatzfördernden Beiträge schuldet – die Tour bringt ihm bei einem Gesamtvolumen von rund fünf Millionen etwa 2,5 Millionen Dollar ein. Mag aber auch sein, dass er damit einen weiteren massiven Stein in sein Denkmal fügt, das ihn einmal überdauern soll.«
Im Gegensatz zu der mal rüde und mal winselnd vorgetragenen Spiegel-Kritik.
Gerhard Henschel

Mit Bob Dylan auf meiner Seite. Ein Geburtstagsständchen auf einen dünnen Mann

Als ich Bob Dylan kennenlernte, war er bereits eine Legende. Ich wusste es nur nicht. In den entscheidenden Jahren 1968/69 hing ich in einer Kleinstadt herum mit ein paar Freunden, und die waren auch schon das einzige, was diese Kleinstadt zu bieten hatte, in der es sonst nur eine Disco gab, in der Thomas Gottschalk Schlager und Tanz-Mucke auflegte, während wir den wirklich guten Stoff hörten. Dass diese Jahre einmal in die Geschichtsbücher eingehen sollten, wusste niemand von uns. Es kümmerte uns nicht. Wir waren noch keine sechzehn, leerten trickreich Zigarettenautomaten, kauften ein paar Kästen Bier und verzogen uns in eine sturmfreie Bude, um sie zu verwüsten. Aus einem Sanyo krächzte und jammerte Bob Dylan. »Everybody must get stoned« war die Devise, und uns war klar, dass da niemand gesteinigt werden sollte. Und wenn Dylan schmalzte: »Honey, I want you«, dann schmolzen wir dahin und träumten von der scharfen Frau, die uns bei diesem Geständnis zu Füßen liegen würde. Wir kannten alle LPs von Dylan, aber von den Texten verstanden wir nur Bruchstücke. Dylans Lyrik war uns zu schwyrik. Uns reichten ein paar Fetzen, um uns den großen Gefühlen der Sehnsucht und des Fernwehs hingeben zu können, die niemand besser als Dylans Stimme und seine Mundharmonika zu evozieren wusste. Dann wäre man selber gerne ein Hobo gewesen, der sich mit seiner Gitarre in die weite Welt aufmacht, um der bedrückenden Enge der Kleinstadt zu entfliehen.
Aber Dylan hat nicht bloß Musik für Heranwachsende gemacht, die keinen blassen Schimmer vom Leben haben und nur nach einem Idol Ausschau hielten, wie das beispielsweise beim Magdeburger Quartett Tokio Hotel der Fall ist, wo ein bescheuerter Refrain ausreicht, um picklige Schülerinnen massenweise in Ekstase zu versetzen. Nein, Dylan hatte keine androgyne Ausstrahlung, er sah aus wie ein spackeliger Jüngling, der ein paar Steaks auf den Rippen hätte vertragen können, oder wie Kinky Friedman schrieb: »Zimmerman war ein magerer, unruhiger Typ, der aussah wie ein pubertierender Jesus. Ein Auge lachte und das andere weinte.« Dylan hatte dafür eine Menge zu erzählen. Niemand wusste besser als wir, dass »the times they are a-changin’«, und wir waren überzeugt davon, dass für die »masters of war« das Ende gekommen war und dass der Vietnam-Krieg ein Dreckskrieg war. Wir waren vielleicht unerfahren und auch ein bisschen dumm, aber wir hatten das Glück, auf eine musikalische Goldader gestoßen zu sein. Über Dylan musste man nicht nach einem Jahr den Mantel des peinlichen Schweigens breiten, wie beispielsweise bei den Monkees oder anderen Eintagsfliegen des Popgeschäfts. Selbst heute noch ist Dylan mit dabei, wenn ich meine Lieblingssongs zusammenstelle. Zugegeben, nicht unbedingt der Folksinger Dylan der frühen Phase, als er mit der Heulboje Joan Baez zusammen auftrat, und auch nicht der konvertierte Dylan, dessen Stimme plötzlich so salbungsvoll wurde, sondern der Dylan, der kurz hintereinander mit »Highway 61 Revisited« und »Blonde on Blonde« zwei der größten Alben der Popgeschichte herausgebracht hat.
Damals wusste ich nicht, dass diese beiden Alben genau in einer Umbruchphase entstanden sind, die sein Bemühen dokumentierten, aus der Folk-Ecke herauszukommen. Vielleicht ergab es sich auch einfach, so wie viele historische Momente sich auf unberechenbare Weise verdichten und wie ein Gewitter zur Entladung kommen, ohne dass man wirklich begreifen könnte, was geschehen ist.
Am 15. Juni 1965 spielt der Legende nach Bob Dylan ein paar Töne auf dem Klavier, aber als er zu singen anfängt, versagt seine Stimme. Am nächsten Tag entsteht zusammen mit den Musikern Al Kooper und Mike Bloomfield eine Single. »Like a rolling stone« ist sechs Minuten und sechs Sekunden, für jeden Radiosender genau drei Minuten zu lang, weshalb man den Song einfach nach der Hälfte der Zeit ausblendet. Erst als die Hörer zu protestieren beginnen, wird der Song vollständig gespielt und stürmt nach vier Wochen die Charts. Greil Marcus hat über diesen Song und seine Entstehungsgeschichte ein ganzes Buch geschrieben, um herauszufinden, was es mit ihm auf sich hatte und warum eine ganze Generation von ihm fasziniert war. Und der Rolling Stone kürte den Song zum besten aller Zeiten. Der Text über einen gefallenen Engel ist geheimnisvoll, und wenn man ihn wörtlich nimmt, bleiben eine Menge Ungereimtheiten. Der Zauber von Dylans Lyrik bestand darin, dass sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen konnte. Und auch die Musik hatte etwas Geheimnisvolles, denn live hörte sie sich jedes Mal anders an.
Kurze Zeit später, am 24. Juli, traf sich Dylan mit Kooper und Bloomfield in Newport, wo das bekannte Folk Festival stattfand. Pete Seeger, »die Galionsfigur des Folk Revivals«, spielte dem Publikum über Band die Stimme eines Neugeborenen vor und bat die Besucher, dem Baby etwas vorzusingen, um ihm klar zu machen, in welche schlechte Welt es hineingeboren worden sei. Am Ende betritt Dylan die Bühne. Über diesen Auftritt gibt es viele unterschiedliche Darstellungen, aber als Dylan mit einem »Let’s go« die elektrisch verstärkten Gitarrensaiten schrubbt und »Maggie’s Farm« in Rock’n’Roll umkippen lässt, stellt er, wie Greil Marcus schrieb, »alles in den Schatten, was man in jener Zeit in den USA zu hören gewohnt war«. Pete Seeger soll hinter der Bühne sogar versucht haben, mit einem Beil die Stromkabel zu kappen, was gar nicht so unwahrscheinlich ist bei jemandem, der gerne Holz hackt und mit »If I had a hammer« einen Welthit schrieb. Die sonst andächtig lauschende Menge buhte und pfiff und johlte. Aber ob aufgrund der schlechten Soundqualität oder aus Empörung über die Elektrifizierung des Folks, lässt sich nicht mehr eindeutig sagen. Jedenfalls wurde Dylan von nun an lange Zeit auf seinen Konzerten als Verräter und als »Judas« beschimpft. Innerhalb eines Jahres hatte Dylans Auftritt sämtliche Regeln des Folk außer Kraft gesetzt. Seine Musik hatte die puritanischen Grenzen des Folk gesprengt und schwappte in eine Gesellschaft hinein, die mit sich selbst uneins war.
»Hast du einmal richtig gute Musik gehört«, schrieb Hunter S. Thompson, »kannst du sie in deinem Gehirn speichern und für immer und überall abspielen.« Einer der Lieblingssongs von Hunter S. Thompson war »Mr. Tambourine Man«, dieser Song erinnerte ihn an eine ganz bestimmte, elektrisierende Nacht mit den Hell’s Angels, als aus riesigen Boxen Dylans Song strömte, und das war eine ganz andere Szenerie als die harmonische Folkgemeinde in Newport. Aber auch die gesellschaftliche Mitte wurde von Dylans Musik infiziert. Staatspräsidenten, Päpste und komische Politiker und humorlose Manager stehen auf Dylans Musik, auch wenn man das bedauerlich finden mag, denn mit unangenehmen und dummen Menschen teilt man nur ungern seine Vorlieben. Und dennoch: Auch wenn Niedecken »Desolation Row« für Dylans bestes Stück hält, wenn ich diesen Song höre oder »Sad eyed Lady of the Lowlands«, dann kehrt die Erinnerung an die betrunkenen Nächte zurück, und die waren um Lichtjahre besser als die in einer Disco zu hörenden Top-Ten-Gassenhauer, die der von uns allen mitleidig belächelte Mitschüler Thomas Gottschalk auflegte.
Klaus Bittermann

German Bob

»Ja, wir sind auf Achse von früh bis spät/Ja, wir sind auf Achse, bis die Welt vergeht/Mit Fanta und mit Butterkeks/Ja, wir sind junge Christen unterwegs!« Das linksprotestantische Pfadfindermilieu, das Funny van Dannen in seinem Lied karikiert, hat, unterstützt von Klampfen, Mundorgeln und Sozialkundelehrern, in Deutschland aus Bob Dylan einen Lagerfeuerlyriker gemacht, mit dessen Songs sich die Niederträchtigkeiten staatlicher Wohlfahrt und christlicher Fürsorge gleichermaßen besinnlich orchestrieren lassen. Zu Dylans Strophen konnte man über das Elend der Welt klagen, die freie Liebe preisen und die Schönheit der Revolte besingen. Und wenn es wieder einmal nichts geworden war mit der besseren Zukunft, konnte man im gleichen Grundton melancholisch fragen, wo denn all die Kinder beim Erwachsenwerden ihre Blumen verloren haben. Dass man bei seinem Namen hierzulande unwillkürlich zuerst an Konfirmanden, Musiklehrer und Strickpullis denkt, hat Dylan freilich mitverschuldet, indem er sich irgendwann in den Siebzigern ein religiöses Erweckungserlebnis zuzog. Ganz ohne Erweckung geht es bei großen Songwritern ja selten ab. Sogar Leonard Cohen, der schon immer ein bisschen klang, als sitze ihm der Heilige Geist persönlich in der Kehle, hat in weisen Jahren seine Bekehrung absolviert. Hinterher musste er allerdings feststellen, dass seine Managerin ihn, während er spirituell kräftig zulegen konnte, um sein weltliches Vermögen gebracht hatte. Um den Verlust wettzumachen, musste er ein paar Jahre lang fast so ackern wie Dostojewski zwecks Begleichung seiner Spielschulden. Dylan dagegen ist eigentlich erst nach seiner Vergeistigung auch weltlich so richtig reich geworden. Und während Cohen seinen Massenerfolg der Tatsache verdankt, dass er auch denen, die all seine Lieder mitsingen können, immer noch ein wenig wie ein unnahbarer Prophet erscheint, uralt, düster und mythenbeseelt, ist Bob der gute Kumpel von nebenan, der zwar Opa und Oma nervt, aber die Jugend vereint. Insofern passt es gut zusammen, dass Martin Walser, wie Günther Amendt berichtet, Dylan einmal einen »herumzigeunernden Israeliten« nannte, während der Sänger gleichzeitig zum Idol der heranwachsenden Friedensbewegung werden konnte. An ihm tobte sich das deutsche Vorurteil über den Folk gleich doppelt aus: als Hass gegen dessen ungebundenen Geist und als Anhimmelung seines nomadischen Glücksversprechens. Man selbst saß derweil im heimischen Reihenhaus, die Kinder gitarrespielend im Garten, die Eltern naserümpfend vor dem künstlichen Kamin. Irgendwie klar, dass es in Deutschland statt Cohen und Dylan immer nur Juliane Werding und Wolfgang Niedecken gab. Und aus der jungchristlichen Mundorgelkultur hat auch kaum jemand so richtig ästhetische Funken schlagen können. Außer vielleicht Funny van Dannen. Aber dessen Lieder sind wirklich zu schön, um richtig deutsch zu sein.
Magnus Klaue

Ist Dylan Gott? Eine Geschichte vom Herrn Reiner und Herrn Kainer

Herr Kainer und Herr Reiner spazierten gemächlich die Isar entlang in Richtung auf den Biergarten ihres Vertrauens. Der Regen gestern war warm und weich gewesen, und die Frauen mit dem Wachtturm versuchten gute Miene zum blutigen Spiel ihres Herrn auf allen Spuren zu machen. Der Wind in den Bäumen hatte die Fragen vergessen zu den Antworten, die von ihm erwartet wurden. Im Untergrund war von Heimweh die Rede, und die Isar flüsterte von Steinen gegen die Einsamkeit.
»Tja«, sagte Herr Kainer. »Jetzt wird er also auch schon siebzig.«
»Wer?« fragte Herr Reiner, der die Gedankensprünge seines Freundes kannte. (Denn gerade hatten sie noch vom unsachgemäßen Füllen von Waschmaschinen gesprochen.)
»Dylan. Bob Dylan.«
»Ach, der! Der ist eigentlich ganz in Ordnung, finden Sie nicht?«
»Aber ja«, sagte Herr Kainer. »Wie jeder Gott eben.«
»Gott?«
»Du lieber Himmel, Gott! Ja. Es ist unglaublich leicht, ein Gott zu sein. Es probieren nur so furchtbar wenige.«
»So mit Schöpfung, Unsterblichkeit und eigenem Himmel und allem?«
»Ach, das! Pipifax. Nein, Sie müssen einfach mal drüberstehen. Oder draußensein. Wer das aushält, sagen wir mal, fünf bis zehn Minuten … «
»Oder die Länge eines Songs«, warf Herr Reiner altklug ein und hatte zu den Worten seines Freundes so viel Vertrauen wie der blinde Sohn von Wilhelm Tell zu den Schießkünsten des Vaters.
»Naja, jeder Kerl und jede Frau, die glaubten, die Welt in eine Geschichte verpacken zu können.«
»Ehrbar und gesetzlos, nicht wahr? Das heißt, Dylan ist Gott, weil wir’s alle sein könnten.«
»Alle, die das Glockenspiel der Freiheit hören. Komplett mitsamt seiner Dreifaltigkeit. Da ist Dylan-Gottvater … « (Die Isar rollte, wie es ihr gemäß war, eher Steinchen aus den Bergen ins Offene.)
»Ich verstehe: Die Dylanhaftigkeit der Welt … «
»Da ist Dylan-Sohn … «
»Ganz klar: Die Welthaftigkeit Dylans!«
»Und Dylan-Heiliger Geist.«
»Der Dylan in uns. Hosiannah!«
»Ja, aber es ist eben wie mit allen Göttern. Sie sind ja vielleicht ganz okay. Aber ihre Gemeinde!«
»Die Theologien und die Theologen!«
»Furchtbar! Aber die anderen sind auch nicht besser. Die Ketzer und die Zweifler!«
»Gottesvergiftete Dylanhasser in verdammten Planetenwellen!«
»Werden Sie bitte nicht pathetisch! Mir gehen sogar die Gleichgültigen auf die Nerven.«
»Die ist doch sowieso gespielt, die Gleichgültigkeit.«
»Das ist die Kacke an den Göttern. Dass man sich irgendwie zu ihnen verhalten muss.«
»Eben. Deswegen bin ich dann doch ganz froh, dass wir großzügig darauf verzichten, Götter zu werden. Obwohl wir genau wissen, wie es geht.«
»Götter trinken kein Weißbier!« sagte Herr Kainer frohgemut, denn sie hatten nun den Biergarten ihres Vertrauens erreicht.
»Eins trinken sie vielleicht schon, die Götter.«
»Sicher. Ein Weißbier haut einen Gott nicht um.«
»Dylan hat schon ganz andere Sachen zu sich genommen.«
»Göttliche Substanzen. Gewiss. Trotzdem: Beim Weißbier hört die Göttlichkeit auf.«
»Also, beim zweiten oder beim dritten Weißbier.«
»Dann wissen wir, was wir heute abend machen.«
»Wir entgöttlichen uns.«
»Aber so was von!«
Und Herr Reiner und Herr Kainer waren gerettet.
Georg Seesslen

The cold black cloud is coming down

Ein Album, das eigentlich gar keines ist: »Pat Garrett & Billy The Kid« (1973) umfasst streng genommen nur zwei Stücke, »Billy«, das auf der LP gleich in vier Varianten auftaucht, und »Knockin’ On Heaven’s Door«, das ziemlich abrupt nach zweieinhalb Minuten ausgeblendet wird. Dann gibt es noch eine Handvoll Instrumentals, an die man sich umgehend schon nicht mehr erinnert. Es ist der Soundtrack zum gleichnamigen Spätwestern Sam Peckinpahs, einem Werk, das sich trotz aller Hollywood-Zensur und vom Regisseur missbilligten Schnitt-Stümpereien als ausweglos verzweifelter, regelrecht todessehnsüchtiger Abgesang auf »1968« behauptet. Es geht um Kollaboration und Verrat, um die Permanenz der ursprünglichen Akkumulation, um das letzte Aufbäumen des letzten Rebellen, der weiß, dass die Zeit an ihm vorübergegangen ist, und der die (bewusste!) Verweigerung dieser Einsicht mit dem Leben bezahlen wird. In diese Szenerie stolpert Bob Dylan als namenloser Alias, ein neugieriger, juvenil-unschuldiger Sympathisant des Outlaws. »Pat Garrett & Billy The Kid« sollte der Beginn seiner Hollywood-Karriere sein, viele Szenen mit Dylan fielen schließlich dem Schnitt zum Opfer – weil er zu wenig als Schauspieler agiert, zu ironisch-distanziert mit der Kamera gespielt habe.
»Pat Garrett & Billy The Kid« gilt Dylanologen als vollwertiges Album, nicht nur weil es sein Comeback nach fast drei Jahren abermaligen Schweigens markiert. Es nimmt die Outlaw-Thematik von John Wesley Harding auf und leitet einen äußerst fruchtbaren Werk-Zyklus ein (kurz darauf folgen in nur zwei Jahren »Planet Waves«, »Before The Flood«, »Blood On The Tracks«, »Desire« und die Veröffentlichung der »Basement Tapes«). Wofür andere, und oftmals auch Dylan selbst, ein Dutzend Songs brauchen, verdichtet er hier in zwei Songs, eben in »Billy« und »Knockin’ … «: Es ist die Stimmung des Western und es ist die einer gescheiterten Revolte, die einen einzelnen Rebellen auf seiner langen Flucht voller düsterer Verlockungen, funkelnder Paranoia und sterbensmüder Erschöpfung zurücklässt: »Billy, you’re so far away from home.« Und es gibt keine Erlösung, nur diese Müdigkeit, das Heraustreten aus der Rolle, aus dem Dienst, den auferlegten Verpflichtungen, die fast immer mit Mord und Totschlag verbunden sind, ist gleichbedeutend mit dem Tod: »Mama, take this badge from me/I can’t use it anymore! (…) Mama, put my guns to the ground/I can’t shoot them anymore!/The cold black cloud is coming down/Feels like I’m knocking on heaven’s door!«
Dylan, dem frühere Freunde von links vorgeworfen hatten – nicht ganz zu unrecht –, er hätte seine präzise Gesellschaftskritik für Nabelschau, ein verstiegenes Künstlerego eingetauscht, widerlegt sie mit diesen Songs: präziser, knapper, auch zurückhaltender kann man das Ende von etwas, was als Verheißung, als großes Spiel von Abenteuer und Freundschaft begann, kaum besingen. Ja, es ist Outlaw-Romantik, aber keine, die wärmt und in der man wohlig schwelgen möchte.
Felix Klopotek

Punk war er nicht

Zugegeben: Meine Begeisterung für Bob Dylan hat sich schon immer in Grenzen gehalten. Zur Zeit meiner Musiksozialisation in den Neunzigern hatte ich mir die Punkgeschichte retrospektiv zu erschließen – und Dylan mag vieles gewesen sein, aber Punk war er nicht. Im neuen Jahrtausend wiederum ergaben sich neue Hindernisse, die mir eine Auseinandersetzung mit Dylans Werk unmöglich machten, dessen Bedeutung für die Musikgeschichte sich bis in die Provinz herumgesprochen hatte. Leider, so muss man sagen, denn das Mainzer Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, an dem ich zu dieser Zeit studierte, hatte entschieden, sich im Zuge der Cultural-Studies-Welle an der Popkultur zu orientieren. Und Popkultur, das war in Mainz Bob Dylan. Und zwar ausschließlich Dylan. Die Sitzungen hießen dann »Dylan und die Postmoderne« oder »Intermedialität bei Dylan«. Was genau dort besprochen wurde, kann ich nicht sagen. Um Seminare, in denen Dylan das Thema war, habe ich immer einen Bogen gemacht.
Aber im Mainzer Institut scheint man – wenigstens dieses eine Mal – fast schon prophetisch vorausgeahnt zu haben, was in den folgenden Jahren passieren sollte: Es gibt wohl niemanden in der Popgeschichte, der so viele absurd betitelte wissenschaftliche Konferenzen über sich hat ergehen lassen müssen wie Dylan – vor allem natürlich angesichts des diesjährigen Geburtstages. Wieder ganz vorne mit dabei: die Mainzer Komparatistik mit einer Tagung unter dem Titel »Bob Dylan und die Revolution der populären Musik«. Vorträge wie »Dylans szenische und Rollensongs«, »Bob Dylan, die Stimme und die Zeit« oder »Bob Dylan und die Bibel« sprechen für sich. Zum Aspekt der Religion hielt die Katholische Akademie München sogar eine eigene Konferenz ab – immerhin ist Dylan auch schon für den Papst, den klapprigen Johannes Paul II., aufgetreten und spielte für ihn »Knockin’ on Heaven’s Door«. Unter der Überschrift »Bob Dylan. Songpoet, Idol, Prophet« wurde in München unter anderem Dylans Gesang als »sehr freies Gebet« und sein religiöser Fundamentalismus nach der Konversion als »Geist der Verweigerung« interpretiert.
Angefangen mit Axel Honneths Frankfurter Kongress »Zum kritischen Gehalt von Bob Dylans Werk« über »The Seven Ages of Dylan« (Bristol) und »Bob Dylan: Immigrants, Wanderers, Exiles and Hard Travelers in the Poems, Songs and Culture of Ancient Greece and Modern America« (St. Louis) bis hin zu »Refractions of Bob Dylan – Cultural Appropriations of an American Icon« (Wien) finden sich allein bei oberflächlicher Netzrecherche 14 Konferenzen zu Dylan. Am schönsten ist dabei das Thema von New Yorker Juristen: »Bob Dylan and the Law«. Diese seltsame Verwissenschaftlichung hat es mir wohl für immer unmöglich gemacht, mich Dylans Musik unvoreingenommen anzunähern. Angesichts des auf allen wissenschaftlichen Tagungen zu Dylan betonten Allgemeinplatzes, der Musiker sei der »Erfinder einer Strategie der Identitätsverweigerung«, kann für mich der einzig wahre Zugang zu seinem Werk – und dies hoffentlich im Sinne des Identitätsverweigerers – womöglich nur über die Dylan-Coverband Double Dylans erfolgen. Vielleicht spielen die ja sogar auf der Mainzer Tagung – oder wenigstens The Zimmermans.
Jonas Engelmann

Base, Box and Bob

Das Verhältnis von Bob Dylan zum Sport ist in der Dylanologie bislang kaum bis gar nicht behandelt worden. Dabei ist Dylan ein großer Sportfan, und, wie ich zeigen will, mehr als das.
1975 schrieb er zusammen mit Jacques Levy die Ballade »Catfish« über Jim Hunter, einen Baseball-Pitcher, der von den Oakland Athletics zu den New York Yankees gewechselt war. Joe Cocker machte den Song berühmt, und dieser Catfish Hunter war nicht nur ein exzellenter Spieler, er war auch zu der Zeit, als Dylan den Song schrieb, einer der ersten Free Agents im Baseball: also ein Sportler, der auf eigene Rechnung Verträge mit den Clubs und der Liga schließt. Genau diese ökonomische Selbständigkeit, die ihm selbst auch immer wichtig war, lobt Dylan an Catfish: »So he packed his glove and took his arm/An’ one day he just ran away/Catfish, million-dollar-man/Nobody can throw the ball like Catfish can«. Das Thema Baseball hat Dylan auch einmal für seine berühmte Sendung »Theme Time Radio Hour« gewählt: Songs wie »Third Base, Dodgers Stadium« von Ry Cooder, »Did You See Jackie Robinson Hit That Ball?« von Buddy Johnson und Count Basie, »Baseball Baby« von Johnny Darling und »Three Strikes and You’re Out« von Cowboy Copa sind da zu hören. Den hundert Jahre alten Klassiker »Take Me Out to the Ball Game« knattert Dylan dort selbst ins Mikrofon (zu hören hier: ).
Dass Dylan mehr ist als ein Fan, der auch mal gerne Stadionmelodien mitträllert, lässt sich am Beispiel Boxen zeigen. Er besitzt selbst ein kleines Gym, in dem auch Hollywood-Größen wie Will Smith oder Quentin Tarantino trainieren. Laut Tarantino ist Dylan sogar ein guter Boxer. Auch drei Dylan-Songs beschäftigen sich mit dem Boxen: »I Shall Be Free No. 10« – eine Ulknummer über Muhammad Ali, der damals noch Cassius Clay hieß. »Who killed Davey Moore?« – eine Anklage gegen den Profiboxbetrieb. Und »Hurricane« – Solidarität mit dem inhaftierten Boxer Rubin »Hurricane« Carter. Sein Verständnis von Sport, das auch seiner Berufsauffassung als Musiker ähnelt, legt er Hurricane Carter in den Mund: »It’s my work, he’d say, and I do it for pay«. Ähnliches war schon bei Catfish Hunter angedeutet. In seiner Autobiographie »Chronicles I« führt Dylan das aus, indem er an einen Boxkampf zwischen Jerry Quarry und Jimmy Ellis erinnert. Quarry, ein weißer Schwergewichtler, galt Ende der sechziger Jahre als »White Hope«, Ellis war ein wenig spektakulärer schwarzer Schwergewichtler, kurze Zeit auch Weltmeister. »Ich identifizierte mich sowohl mit Ellis als auch mit Quarry«, schreibt Dylan. »Genau wie Quarry wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich ein Emblem, ein Symbol oder ein Wortführer sein sollte. Und wie Ellis hatte ich eine Familie zu ernähren.« Eine Art Wunschbiographie repräsentieren die Boxer für ihn – Leute, die einfach ihren Job machen, in Dylans Fall: die Musik; Leute, die nie zum Symbol für irgendetwas wurden, wie im Boxen Muhammad Ali, und in der Musik – sehr gegen seinen Willen – Bob Dylan, der Mann des Sports.
Martin Krauß

»Wer um Himmels willen ist Bob Dylan?«

Bob Dylan ist heilig, schon klar. Aber bedeutet er darüber hinaus noch etwas für Menschen, deren Joint auf den Namen »Bionade« hört und die es unlogisch finden, dass man Kunststoff mit einer Nadel zerkratzen muss, um Musik zu hören? Denen Pink und Britney Spears schon als ältere Damen gelten und deren Heldinnen Miley Cyrus und Demi Levato heißen? Oder Selena Gomez, eine 19jährige US-Amerikanerin mit mexikanisch-italienischen Wurzeln, die bereits mehrere Millionen Tonträger verkauft hat, die Hauptrolle in der Serie »Die Zauberer vom Waverly Place« spielt und 2009 zur jüngsten Unicef-Botschafterin ernannt wurde?
Dokumentiert sei an dieser Stelle ein Selbstversuch der bekennenden Gomez-Fans Jette Akkermann (12) und ihrer kleinen Schwester Sina (10) vor einem Computer in Otterndorf/Niederelbe zum Thema:
Bob »The times they are a-changin’« Dylan vs. Selena »Tell me something I don’t know« Gomez.

»Mein Onkel schrieb mir: Sag mir doch mal, ob du Selena Gomez besser findest als Bob Dylan! Ich dachte nur: Wer um Himmels willen ist Bob Dylan?! Also googlete ich nach ihm und fand bei youtube auch Auftritte.«
»Als ich mir im Internet ein paar davon angeschaut hatte, wusste ich, warum ich Selena mehr mag als Dylan.«
»Warum ich Selena Gomez besser finde: Bei Selena Gomez verstehe ich die Botschaft der Songs. Bei Bob Dylan trifft das nicht zu. Die Lieder von Selena Gomez sind modern und, abgesehen von ein paar Ausnahmen, eher schnell, was bei Bob Dylan nicht der Fall ist. Außerdem ist es so, dass ich bei den Liedern von Selena Gomez den Text verstehe. Bei Bob Dylans Songs verstehe ich wenig. Das liegt vielleicht auch an seiner kratzigen, nuscheligen, eher tiefen Stimme. Selena hingegen hat eine klare, hohe Stimme.«
»Selenas Musikvideos haben eine bessere Qualität. Ihre Tanzschritte sind bekannt und oft in Zeitschriften zu sehen. Dylan aber hat immer nur seine Gitarre in der Hand.«
»Sie ist außerdem ein Stylevorbild für Kinder und Teens.«
»Bob dagegen: Naja … «
»Die letzten Gründe, warum ich Selena besser finde, sind: Sie kommt oft in Jugendzeitschriften vor und hat eine eigene TV-Serie. Das bedeutet: Sie ist ein Vorbild für junge Leute und oft im Gespräch. Bob Dylan hingegen ist bei jungen Leuten sehr wenig bis gar nicht bekannt, sondern eher bei älteren Leuten und somit auch kein Thema.«
»Wie alt ist Bob Dylan eigentlich? Siebzig? Und der kann noch singen?!«

Das niederschmetternde Ergebnis: Für Menschen vor der Volljährigkeit ist Bob Dylan ein Phänomen, das man erstens mühsam im Internet suchen muss, um es zweitens fassungslos zu bestaunen oder gar zu belächeln und ihm drittens zu raten, dass er sich dringend mal rasieren und eine neue Hose kaufen sollte. Für alle bekennenden Fans von Dylan hingegen – oder alle anderen Menschen, die eigentlich kein Thema mehr sind – gelten die Worte des großen Dylan-Befürworters Martin Krauß: »Wir denken, dass wir immer jung bleiben. Dabei werden wir nur gemeinsam immer älter.«
Knud Kohr