Der abgestürzte Retter

Viele Beobachter sahen die nächste Präsidentschaftswahl in Frankreich in elf Monaten schon beinahe als entschieden an und meinten, der Gewinner stehe schon fest – bis zum vergangenen Sonntag. Überwältigend erschienen ihnen bis dahin die Aussichten des wirtschaftsliberalen Sozialdemokraten Dominique Strauss-Kahn, der in den Umfragen führte. Dabei war »DSK«, wie er in Frankreich seit längerem genannt wird, seit Jahren die Sphinx der französischen Innenpolitik: Er äußerte sich nicht zu ihr, unter Berufung auf die Pflicht zur politischen Zurückhaltung, die ihm auferlegt sei. Würde er sich klar zu politischen Fragen äußern oder gar Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur in Frankreich erkennen lassen, so argumentierten seine Unterstützer, verlöre er den Posten als Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds in Washington, den er seit Herbst 2007 innehat.
Je aufdringlicher er schwieg, desto populärer wurde er. Denn vielfach wurde »DSK« in der Medien als der wunderbare Retter präsentiert, der die Wirtschaftskrise lösen und alles wieder gut werden lasse, wenn das Schweigegelübde erst einmal aufgehoben und die Rückkehr nach Frankreich eingeleitet sei. »Sozial« und »ein solide wirtschaftender Finanzmanager« zugleich, mit seinen grauen Haaren schon mit dem Symbol der Altersweisheit ausgestattet, versprach man sich von dem 62jährigen die Linderung der sozialen Not, Schuldenabbau und kapitalistisches Wachstum. Die Wirklichkeit sah anders aus. Häufig war »DSK« als Lobbyist einschlägiger Wirtschaftskreise tätig – so schon 1993, als er den »Cercle de l’industrie« gründete, einen Lobbyistenclub der französischen Wirtschaft bei den EU-Institutionen in Brüssel. Am 28. Juni hätte Strauss-Kahn verkünden sollen, ob er zur französischen Wahl kandieren würde oder nicht – auf die Gefahr hin, vom IWF gekündigt zu werden. Er hätte von seiner Wolke heruntersteigen müssen. Nun ist es noch schneller gegangen, denn er ist abgestürzt. »Vergewaltigungsversuch«, »sexuelle Nötigung«, »Freiheitsberaubung« – so lauten die Vorwürfe, wegen derer »DSK« am Wochenende am New Yorker Flughafen festgenommen wurde und die von einer 32jährigen Hotel­angestellten gegen ihn erhoben werden. Sollte Strauss-Kahn nicht schnell von der US-Justiz entlastet werden – wonach es derzeit nicht aussieht –, müssen sich die Franzosen einen anderen wunderbaren Retter suchen.