Über den Tag der »Nakba« an den israelischen Grenzen

Der Aufstand erreicht Israel

Für den Jahrestag der israelischen Staatsgründung hatten palästinensische Aktivisten zu einer »Dritten Intifada« und zu einem »Marsch nach Palästina« aufgerufen. Viele junge Menschen aus dem Libanon und Syrien beteiligten sich an der Aktion, die mit Toten und Verletzten endete. Auch in Ägypten versuchten viele, die Grenze zu Israel zu erreichen.

Bereits am frühen Morgen haben sich auf dem Tahrir-Platz die ersten Menschen versammelt. Sie sitzen in kleinen Gruppen im kühlen Gras, unterhalten sich, kauen Nüsse und nippen am Tee, manche lesen mit leiser Stimme aus dem Koran. Um 3 Uhr 30, mit dem Morgengebet, so steht in den Aufrufen palästinensischer Gruppen im Internet, soll an diesem Freitag die »Dritte Intifada« beginnen. Drei Tage lang soll »für ein freies Palästina« gebetet und protestiert werden. Am 15. Mai, dem Tag der Gründung des Staates Israel, der in den arabischen Ländern als Tag der Nakba (»Katastrophe«) bezeichnet wird, sind die Palästinenser und ihre Unterstützer in der ganzen Welt zum Protest aufgerufen worden und dazu, nach Palästina zu marschieren. Es wird ein blutigerer und folgenreicherer Tag werden, als die Initiatoren des Protests erwarten.
Im Laufe des Wochenendes fielen die Aktionen in Israel zwar kleiner aus als geplant, der »Marsch auf Palästina« löste aber in den angrenzenden Ländern, Syrien und dem Libanon, schwere Unruhen aus.

Bei den jungen Ägyptern, die im Januar und Februar auf dem Tahrir-Platz für den Rücktritt Hosni Mubaraks und mehr Demokratie in Ägypten gekämpft hatten, war die Reise nach Gaza seit Tagen das politische Thema Nummer eins. Dass das so beliebte Facebook den seit Wochen kursierenden Aufruf zum Marsch nach Palästina immer wieder sperrte, sorgte für einen kurzen Facebook-Boykott, was den Aufruf erst recht bekannt machte. Ein von den Initiatoren der Kampagne verbreitetes Video stellt gezielt den Bezug zwischen der palästinensischen Sache und den Revolutionen in den arabischen Ländern her, indem es Bilder von den großen Demonstrationen, vom Tahrir-Platz und von den Tränengaswolken über den Nilbrücken zeigt. Das hat bei den jungen ägyptischen Aktivisten gewirkt, auch wenn sich viele der Gefahren durchaus bewusst sind: »Das wird nicht so lustig wie auf dem Tahrir-Platz«, sagt etwa Rasha L., die ein kurzärmliges Shirt und mehrere Piercings im Gesicht trägt. »Die werden schießen, da bin ich mir sicher«, meint auch Said, der seit Tagen mit Kefiyah und Palästina-Flagge durch die Straßen zieht. Er möchte in der Al-Aqsa-Moschee beten, sagt er, weil das etwas »ganz besonderes« sei. »Der Konflikt in Palästina betrifft uns alle. Wir müssen unsere Brüder unterstützen. Die Israelis können Palästinenser erschießen, aber mit Menschen aus anderen arabischen Ländern können sie das nicht tun.«
Auch Khaled T. glaubt, dass die Aktion nicht so einfach sein wird: »Wir wissen nicht, ob wir über die Grenze kommen«, sagt er. »Aber das ist nicht so wichtig. Wir bringen Unterstützung und Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass die Welt wieder hinschaut, was dort geschieht!« Ihm sei wichtig, klarzustellen, dass er nichts gegen die Juden habe, er sei »nur gegen den Zionismus und gegen die Politik Israels!« Juden und Muslime seien doch Brüder, sagt er.
So differenziert sehen das zumindest jene, die zum Marsch nach Palästina aufrufen, nicht: Die meisten Flugblätter sind gespickt mit religiösen Zitaten, die zum »Marsch nach Jerusalem« aufrufen, die Propaganda-Videos mischen Bilder von tanzenden orthodoxen Juden mit Fotos von getöteten palästinensischer Kindern, untermalt von pathetischer Musik. Konkrete politische Forderungen indes fehlen meist, der Aufruf der Organisatoren bezieht sich allein auf die UN-Resolution 194, die den im Jahr 1948 vertriebenen Palästinensern das Recht auf Rückkehr zuspricht.
Wie sinnvoll es sei, nach Gaza zu fahren, war unter den jugendlichen Protestierenden in Kairo schon vor dem Aktionstag umstritten. »Das ist eine bescheuerte Aktion«, meint etwa Fatima. »Warum nach Gaza fahren? Hier gibt es genug zu tun.« Auch Hamid, der Ingenieurwesen studiert, sagt, er werde nicht nach Gaza fahren. Er habe in den vergangenen Wochen viel über die ägyptischen Militärgerichte recherchiert, die derzeit willkürlich politisch missliebige Personen zu langjährigen Haftstrafen verurteilen. »Unsere Revolution in Ägypten ist noch nicht beendet, wir sollten uns auf die Arbeit hier konzentrieren.« Ägypten, meint er, spiele eine wichtige Rolle für die Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung im Konflikt zwischen Israel und Palästina. »Aber erst wenn die Demokratie in Ägypten gesichert und das Land stabil ist, können wir den Palästinensern helfen.«

Während der Revolution in Ägypten hat Außenpolitik kaum eine Rolle gespielt, bei den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz waren fast nur ägyptische und keine brennenden amerikanischen oder israelischen Flaggen zu sehen. Das ist an diesem Freitag anders. Der Platz geht unter in einem Meer von palästinensischen Fahnen, von einem Laternenpfahl baumelt eine Puppe, auf die der blaue Davidstern gemalt ist, von der Bühne schallen die Slogans der Revolution, nun umgedichtet: »Wir ziehen nach Jerusalem!«, »Freiheit für Palästina!«, »Weg, weg mit Israel!« Von dem eigentlich geplanten »Marsch der Einheit«, der nach den Zusammenstößen zwischen Kopten und radikalen Muslimen vergangene Woche den Zusammenhalt der Religionen demonstrieren sollte, ist kaum etwas zu sehen. Die Palästina-Solidarität prägt das Bild. Während sonst ein eher junges und durchmischtes Publikum die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz bestimmt, sind an diesem Tag fast nur Männer mittleren Alters zu sehen. Viele Anhänger der Muslimbrüder und andere konservative religiöse Gruppen haben sich dem Aufruf angeschlossen. Eine Gruppe junger Aktivisten steht am Rand und sieht den wehenden Fahnen zu. »Das ist heute ein merkwürdiges Publikum hier«, schimpft Mohammed. Schon zweimal sei er fast in eine Prügelei geraten, erzählt er, weil einige Demonstranten ihn wegen seines Ohrrings als Schwulen angegriffen hätten. Jetzt geht er lieber. Nach Gaza will er ohnehin nicht fahren.
Für diejenigen, die dahin wollen, läuft an diesem Wochenende aber alles anders als geplant. Am Freitag verkündet der herrschende Militärrat, er werde keine Aktivisten nach Gaza lassen. Die Armee schließt den Grenzübergang und errichtet Stützpunkte entlang der Zufahrtsstraßen. Die Busse, die am Samstagmorgen am Tahrir-Platz abfahren sollen, bleiben stehen. Nur einzelne Aktivisten gelangen mit großem Aufwand weiter südlich über die Grenze. Viele, die in Richtung Rafah gefahren sind, kehren schon am Samstagmittag frustriert zurück.
Sie ziehen dann zur israelischen Botschaft, die unweit der Universitätsbrücke gelegen ist, in der obersten Etage eines 20 Stockwerke hohen Gebäudes, von dem der Putz blättert und an dem die Klimaanlagen wie Bienenstöcke hängen. Winzig klein ist weit oben die Fahne mit dem Davidstern zu sehen. »Wir wollen die Fahne herunter holen!«, rufen etwa 100 meist junge Demonstranten. Ein junger Mann im schwarzen Kapuzenpullover steht auf einer Mauer und gibt die Slogans vor: »Wir wollen die Botschaft anzünden, aber die Armee hindert uns daran!«, »Gott ist groß!« und: »Wir wollen unseren Brüdern in Palästina helfen, aber die Armee steht zwischen uns!« Die Armee, gegen die sich ein großer Teil der Rufe richtet, steht mit drei Panzerfahrzeugen und einigen Dutzend Soldaten schützend vor dem Gebäude.

Am Sonntag geschieht dann alles auf einmal. In Gaza gibt es Proteste mit vielen Verletzten und einem Toten, Proteste und Verhaftungen gibt es auch in Jerusalem und im Westjordanland. Ein blutiger Tag wird es in den Nachbarländern: Von Syrien und dem Libanon aus versuchen Tausende Exil-Palästinenser, nach Israel einzudringen. Die israelische Armee schießt. Mindestens 20 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt, darunter auch libanesische Soldaten. Auf Fernsehbildern ist zu sehen, wie die israelische Armee mit Panzern auf syrisches und libanesisches Territorium vordringt, um Gruppen von Palästinensern daran zu hindern, die Grenze in den unwegsamen Hügeln der Golanhöhen zu überqueren. In Kairo versammeln sich am Sonntagnachmittag erneut Tausende Demonstranten vor der israelischen Botschaft. Sie fordern, dass Ägypten den Friedensvertrag mit Israel kündigt. Eine selbstgemalte Israelflagge wird verbrannt. Die Stimmung ist angespannt, nicht nur wegen der Eskalation an der libanesischen und syrischen Grenze. Am Samstagabend haben Schlägertrupps eine Sitzblockade vor dem staatlichen TV-Gebäude am Nilufer in Maspiro angegriffen, zwei Menschen getötet und zahlreiche verletzt. Der Protest in Maspiro war von Kopten organisiert worden, anlässlich der gewalttätigen Zusammenstöße zwischen radikalen Muslimen und Christen im Kairoer Arbeitervorort Imbaba. Es hatten sich jedoch zahlreiche Muslime und viele der jungen Menschen angeschlossen, deren Proteste sich vornehmlich gegen das Militär und die Polizei richteten.

Am Sonntagabend eskaliert die Situation vor der israelischen Botschaft. Sicherheitskräfte behaupten, Demonstranten hätten versucht, in das Gebäude einzudringen, was die Aktivisten auf Internetforen jedoch bestreiten. Die Polizei und die Militärpolizei setzen Tränengas und Gummigeschosse ein, die Demonstranten werfen Steine und zünden Barrikaden an, daraufhin wird scharf geschossen.
Über 350 Menschen seien verletzt worden, berichtet das Gesundheitsministerium am nächsten Tag. Augenzeugen berichten von drei Toten. Von offizieller Seite wurde dies bisher nicht bestätigt, einzig der Fall von Atef Yehya, der nach einem Schuss in den Kopf weiter in Lebensgefahr schwebt, wurde bekannt.
Während der Proteste und danach sind rund 200 Personen festgenommen worden, unter ihnen befinden sich die bekannten Blogger Tarek Shalaby und Mosaad Elshamy. Die Gefangenen sind Angaben im Internet zufolge in Militärgefängnisse gebracht worden, ein Sprecher der Armee sagte am Montag, ihnen drohten teilweise mehrere Jahre Haft.
Im Internet tobt derweil eine heftige Diskussion über die Aktion vor der israelischen Botschaft. Dass die Armee die Botschaft verteidigen musste und würde, darüber sind sich die meisten Kommentatoren einig – aber auch darin, dass die Reaktion des Militärs absolut unverhältnismäßig war. »Willkommen«, schreibt etwa der bekannte Blogger Arabawy, »Mubaraks Polizei ist zurück.« »Ich war gegen die Aktion an der Botschaft und auch dagegen, nach Rafah zu fahren«, schreibt auch Mahmud Salem auf Twitter. »Aber es ist unerträglich, dass Leute erschossen oder vor Militärgerichte gestellt werden, nur weil sie demonstriert haben!« Mehrere Gruppen kündigten für die nächsten Tage Proteste gegen das Militär und die Polizei und Blockaden an, für den 27. Mai rufen Aktivisten schon seit einigen Wochen zu einer »zweiten Revolution« auf.