Über das Glück des frühen Erwachens

Der Tag wird kommen

Eine Erinnerung an das Glück des frühen Erwachens.

Der Schlaf gehört zu den schönsten Geschenken, die das Leben uns macht, man sollte es nicht zurückweisen. Sich abendlich ins Bett zu begeben, um für acht oder neun Stunden der Welt verloren zu gehen, ist nicht nur eine verständliche Angewohnheit, sondern zeugt von freundlichem Temperament und einem zarten Gemüt. Wer es dagegen fertigbringt, in ein und derselben Nacht ein Punkkonzert besuchen, Marx zu lesen, einen politischen Artikel zu schreiben und zwei Partys zu absolvieren, um schon am nächsten Morgen voller Tatendrang zur Lohnarbeit oder zum Arbeitsamt zu radeln, zeigt sich derart lebenstüchtig, dass man fürchten muss, er ist zu allem fähig. Autoritäre Charaktere haben stets den Schlaf gehasst, weil in ihm die Unverfügbarkeit der Menschen zum kreatürlichen Impuls wird, der sich gegen alle Zumutungen und guten Vorsätze immer wieder Geltung verschafft. Wenn sich auch sonst wenig über sie sagen lässt, die freie Menschheit wäre mit Sicherheit eine, in der jeder glücklich schlafen kann.

Doch das Verhältnis von Schlafen und Wachen, Tag und Nacht hat sich geschichtlich verändert. Wie das Lob des Müßiggangs mittlerweile einen sentimentalen und archaischen Klang hat, so verbummelt heutzutage kaum einer mehr seine Zeit. Wer lange schläft, tut es nicht dem Schlaf zuliebe, sondern weil er einen verdrießlichen Tag oder eine durchsumpfte Nacht hinter sich hat. Lange zu schlafen, das klingt nach Erschöpfung und Depression, Kater und Kopfschmerzen, aber nicht nach Lust. Sich zufrieden in seine Kissen zu kuscheln und bis zum Mittag träge in die Sonne zu blinzeln, beim viel zu späten Frühstück mit den Freunden lässig und heiter über Dinge zu reden, die niemandem etwas nützen, und das Leben wie einen langen Feiertag zu genießen, das sind Erfahrungen, die in alten Eric-Rohmer-Filmen aufgehoben sind, aber nicht in der Wirklichkeit. Hier schläft nur noch lange, wer in der Nacht zuvor durch Zank oder Lärm, Stress oder gute Laune sich selbst und den Nachbarn Albträume beschert hat, und die Tage, an denen man im Bett bleibt, sind meistens sinnlos vergeudet statt glücklich verschenkt.
Genauso schlimm wie die verdrossenen Langschläfer sind freilich die agilen Frühaufsteher, für die carpe diem bedeutet, keine Stunde ungenutzt verstreichen zu lassen. Rotwangig, lebenshungrig und immer auf Draht, gehen sie ihren Freunden und Kollegen mit penetranter Munterkeit, unerbetenen Ratschlägen und brutalem Optimismus vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf die Nerven. Ohnehin sind sie von den Spätaufstehern kaum zu unterscheiden. Beide sind austauschbare Erscheinungsformen eines leerlaufenden Hyperaktivismus, der von der Bohème gelernt hat, wie man die Nächte durchmacht, und von den Bürgern, dass es Tag für Tag etwas zu tun gibt. Sie sind der angemessene Charaktertypus einer Zeit, in der alle ständig überarbeitet sind, obwohl allen die Arbeit ausgeht, keiner etwas verpassen will, obwohl es immer weniger zu erleben gibt, und alle miteinander kommunizieren müssen, obwohl niemand irgendjemandem etwas zu sagen hat. In einem solchen Leben, das seinen eigenen Begriff verhöhnt, stören sich Schlafen und Wachen nur noch gegenseitig, statt gemeinsam das ungeteilte Glück zu sein.

Der neue Tag aber, von dem die Menschheit seit jeher träumt, begänne nicht damit, dass man mit schwerem Kopf zur Katzenwäsche ins Badezimmer taumelt, sich die Zähne putzt, um den schalen Geschmack im Mund loszuwerden, und benommen zum Bäcker trottet, weil der Kühlschrank leer ist, sondern mit einem frühen, langsamen und absichtslosen Erwachen. Wer das Glück kennt, an einem klaren, kühlen Frühlingstag, an dem es nichts zu tun und nichts zu verlieren gibt, mit der ersten Morgendämmerung aufzuwachen, weder Müdigkeit noch Pflicht zu verspüren und beim Blick aus dem Fenster mit stillem Staunen die vom geschwundenen Nachtdunkel sanft verwandelte Welt zu betrachten, vermag zu ermessen, was an diesem Tag alles möglich wäre. Ein solches Erwachen lässt sich nicht erzwingen, es geschieht, wie uns ein Gedanke oder die Liebe geschieht. Doch einfach nur darauf zu warten, genügt nicht, denn es ist eine Kunst für sich. Nur wer zahllose Arbeitstage verbummelt und alle ausgerufenen Revolutionen verschlafen hat, ist eines Tages vielleicht dafür bereit.