Die französische Atompolitik. Teil 9 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Die Grenzen der Sicherheit

Die Katastrophe von Fukushima wird für die französische Atompolitik kaum Folgen haben. In der Öffentlichkeit wird jedoch kritischer über die Atomenergie diskutiert, und auch die Anti-AKW-Proteste haben neuen Schwung bekommen. Teil 9 einer Serie über die internationalen Atomdebatten.

Über Sicherheitsfragen kann gerne diskutiert werden, die Energiepolitik Frankreichs wird aber nicht in Frage gestellt. Die Reaktion der französischen Regierung auf die Katastrophe von Fukushima unterschied sich nicht wesentlich von der in den meisten anderen europäischen Ländern. Henri Guaino, ein Berater von Präsident Nicolas Sarkozy, mutmaßte sogar, dass die französischen Atomexporte von den Ereignissen in Japan profitieren könnten, da die Katastrophe die Nachfrage »nach besonders sicheren Atomkraftwerken« steigern werde.
Am 7. Oktober vergangenen Jahres hatte der französische Energiekonzern Electricité de France (EDF) beschlossen, die Laufzeit seiner Atomanlagen über die bisherige Grenze von 40 Jahren hinaus zu verlängern. In den vergangenen Jahrzehnten gab es in Frankreich, dem zweitgrößten Produzent von Atomstrom nach den USA, eine große Zustimmung zur Atomenergie.
Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl vor 25 Jahren kam die Kritik an der französischen Atompolitik vor allem aus den europäischen Nachbarländern. Unangenehm fiel dort auf, dass Frankreich seine Atomanlagen in der Nähe der Außengrenzen gebaut hatte – im Falle eines Unglücks würden die Nachbarn die Folgen abbekommen, monierten die Kritiker. Besonders umstritten war damals das Atomkraftwerk von Cattenom an der Grenze zu Luxemburg.
Nach der Katastrophe von Fukushima könnte sich aber die Stimmung in Frankreich ändern, wie die jüngsten Anti-AKW-Proteste zeigten. Die Anlage von Fessenheim im Elsass hat zwei Reaktorblöcke, die beide 1977 in Betrieb genommen wurden, und ist derzeit das älteste laufende AKW in Frankreich. Es liegt 25 Kilometer von der elsässischen Industriestadt Mulhouse entfernt, aber nur 1,5 Kilometer von der Rheingrenze, ungefähr 30 Kilometer von Freiburg und keine 50 Kilometer von Basel. Sein Sicherheitsprotokoll stammt aus dem Jahr 1971.

Am 11. April fällte der Stadtrat der Regionalhauptstadt Strasbourg den einstimmigen Beschluss, das Atomkraftwerk Fessenheim sofort abzuschalten. Die Stadtratsmehrheit aus Sozialisten und Grünen sowie die konservative Opposition stimmten der Forderung gemeinsam zu. Zwischen dem 20. März und dem 25. April fanden im Elsass drei größere Demonstrationen gegen das AKW statt. Sehr viele Teilnehmer kamen aus Deutschland und aus der Schweiz. Es waren die mit Abstand größten Anti-Atom-Demonstrationen in Frankreich nach der Katastrophe von Fukushima.
Dass die Probleme mit der Atomkraft »am Rhein haltmachen«, wie französische Behörden es im Frühjahr 1986 der Öffentlichkeit bezüglich der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl weismachen wollten, um eine kritische Debatte über die Atomenergie im eigenen Land zu verhindern, glaubt heute in Frankreich niemand mehr. Die französische Öffentlichkeit hat begonnen, kritisch über die Atomenergie zu diskutieren, deren Anteil an der französischen Energieproduktion über 75 Prozent beträgt. Kein Land hat sich so sehr dieser Energieform verschrieben wie Frankreich. Seit den siebziger Jahren fördert die französische Regierung die Atomkraft im Namen der »nationalen Unabhängigkeit« in der Energiepolitik, wie schon damals behauptet wurde. Das importierte Uran kommt vor allem aus ehemaligen französischen Kolonien wie Niger und Gabun, diese Lieferanten werden vom französischen Staat als politisch »zuverlässiger« betrachtet als die Erdöl exportierenden Länder.
Weil der Anteil der Atomkraft an der Energieerzeugung des Landes zu groß ist, fordern selbst die französischen Grünen keinen sofortigen Ausstieg, sondern schlagen einen Ausstiegszeitraum von 20 bis 30 Jahren vor.

Als Lieferanten von »sauberer und sicherer Energie« versucht Sarkozy unterdessen den neuen europäischen Druckwasserreaktor EPR, das Kraftwerk »der dritten Generation«, zu präsentieren. Dieser Reaktortyp soll künftig der Exportschlager Frankreichs sein, wenn irgendwo in der Welt neue AKW gebaut werden. Allerdings werden solche Pläne nach der Katastrophe von Fukushima von vielen Staaten mit größerer Skepsis betrachtet als zuvor. Die französische Regierung hält jedoch daran fest, dass der EPR der einzige Reaktortyp ist, mit dem die bisherigen Sicherheitsprobleme der Atomindustrie gelöst werden können.
Die Umweltorganisation Greenpeace sieht das anders und besetzte Anfang Mai die EPR-Baustelle im normannischen Flamanville. Rund 50 Teilnehmer an der Aktion wurden verhaftet, doch im Anschluss wurde eine Delegation von Greenpeace bei Sarkozy empfangen.
Nicht sonderlich vertrauenerweckend wirken unterdessen die »Sicherheitstests«, die in Frankreich und in Europa unternommen werden sollen, um die Öffentlichkeit nach dem Unfall von Fukushima zu beruhigen. In Frankreich hat Sarkozy solche Tests für alle Atomkraftwerke angekündigt und dabei hinzugefügt, alle Anlagen, die beim Test durchfielen, würden unverzüglich abgeschaltet. Mit der Durchführung der »Sicherheitstests« sollen jedoch die Betreiber selbst betraut werden, also vor allem der Konzern EDF.
Am vorigen Donnerstag scheiterten in Brüssel die Verhandlungen über die sogenannten Stresstests für die europäischen Atomanlagen. Frankreich und Großbritannien widersetzten sich den Plänen der EU-Kommission, die Sicherheit der Atomkraftwerke bei Flugzeugabstürzen oder Terroranschlägen zu prüfen. Die französische Regierung etwa wollte nur wissen, ob sie Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Hochwasser standhalten.