Über den Dokumentarfilm »Unter Kontrolle«

Die Schönheit der Atomkraft

Drei Jahre lang drehte Volker Sattel in deutschen Atomkraftwerken. Sein Dokumentarfilm »Unter Kontrolle« zeigt eine Zukunftstechnologie, die bereits Geschichte ist.

Als Volker Sattels Dokumentarfilm »Unter Kontrolle – Eine Archäologie der Atomkraft« auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurde, fanden die Kritiker den Film entweder »langweilig« oder »wunderschön« oder sogar »brillant«. Es gab auch ein paar kritische Stimmen, die bemängelten, der Film sei zu »unpolitisch«, womit im Grunde gemeint war, dass dem Film ein klares Bekenntnis gegen die Atomkraft fehle. Als besonders »brisant« allerdings wurde der Film nicht wahrgenommen.
Das änderte sich bereits einen Monat später: Am 20. Februar 2011 endete die Berlinale, und wenige Wochen später, am 12. März, ereignete sich in Japan die Katastrophe von Fukushima. Volker Sattels Dokumentation schien urplötzlich der aktuellste und brisanteste Film überhaupt zu sein. Der offizielle Starttermin wurde wegen des großen Interesses um ein halbes Jahr vorgezogen.
Seit der Katastrophe in Japan ist Atomkraft wieder ein großes Thema in Deutschland. Tage und Wochen lasen die Menschen hierzulande Schreckensmeldungen und sahen sich Satellitenbilder an. Dennoch wissen bis heute die wenigsten wirklich über Atomkraft Bescheid. Atomkraft ist eine Ideologie, zu der man man sich entweder pro oder contra positioniert hat.
Umso bemerkenswerter ist die Offenheit, die Volker Sattels Dokumentarfilm »Unter Kontrolle« auszeichnet. In den ersten Sekunden des Films sieht der Zuschauer lediglich ein Blitzen. Diese erste Szene ist programmatisch für den ganzen Film. Das Blitzen entsteht in einer Nebelkammer bei einer Kernspaltung, die Kamera hält drauf. Sie fährt die Schaltzentrale ab, dort sieht es wie in einem Raumschiff aus, allerdings eins aus einem Science-Fiction-Film älteren Datums, und man ist überrascht, dass die Anlage überhaupt noch in Betrieb ist. Es ist die Architektur aus einer Zukunft, die schon vergangen ist.
Die Atomkraft war der Traum einer Gesellschaft, die das Atom-Monstrum friedlich nutzen und jeden einzelnen mit so viel Strom wie nötig versorgen wollte, die von der unendlichen Energie phantasierte, für jeden einzelnen, sauber und friedlich, eine Gesellschaft, die davon träumte, ab jetzt gebe es nur noch Wachstum. Allein schon dieser Zukunftsglaube scheint Lichtjahre zurückzuliegen. Man versteht die Größe der Utopie und gleichzeitig ihr Scheitern.
Doch während die Motive veraltet scheinen, überraschen Volker Sattels Bilder. Der Regisseur hat selbst die Kamera geführt, auch weil es schwierig war, immer eine Drehgenehmigung für ein ganzes Kamerateam zu bekommen. Sattel geht nahe heran an die Schalter und Knöpfe, richtet die Kamera etliche Sekunden auf einen Monitor, fährt die Betonwände entlang und wendet den Blick dann wieder ab und richtet ihn auf die Kühltürme in der Ferne, die inmitten von Landschaften, Neubaugebieten oder der kleinbürgerlichen Ausflugshölle stehen. Die Motive wechseln zwischen abstrakter Schönheit und altbekannter Tristesse, man sieht Bilder aus dem Inneren des Atomkraftwerks, die uns eine bisher unbekannte Welt eröffnen, Außenaufnahmen der Atommeiler, wie man sie schon hundertmal gesehen hat: Hier tut sich die Kluft zwischen Meinung und Wissen auf. Was die meisten sehen, wenn sie ein Atomkraftwerk sehen, ist die Verdinglichung ihrer Einstellung zur Atomkraft. So sehen Atomkraftgegner das Gefahrenpotenzial und die Bedrohung; und die Befürworter eine saubere Energielösung.
Drei Jahre arbeitete Sattel an seinem Film und besuchte deutsche Atomkraftwerke, darunter das Kraftwerk Grundremmingen und den Forschungsreaktor in Garching bei München. Immer wieder stellt sich die Frage: Wie filmt man in einem Atomkraftwerk? Welche Technik darf in die Gefahrenbereiche mitgenommen werden? Hatten die Filmleute Angst? Der Zuschauer dringt in eine ihm unbekannte Welt vor. Eine »Archäologie« nennt Volker Sattel im Untertitel seinen Film, und ähnlich dem ethnografischen Film nähert er sich einer fremden Kultur.
Der Titel »Unter Kontrolle« ist so mehrdeutig wie der Film selbst: Er erzählt von einer Technik, die man unter Kontrolle haben muss, von der Utopie, alles unter Kontrolle zu haben, menschliches Versagen und alle Eventualitäten berechnen zu können, und von der Angst, niemand könne alles unter Kontrolle haben.
Gleichzeitig fahndet der Film nach den Methoden der Risikobeherrschung. Deutlicher als bei anderen Katastrophen – solche, die der Natur zugeschrieben werden, eingeschlossen – kann man bei Atomunfällen den Anteil des Menschen erkennen. Und trotzdem: Man kann Radioaktivität nicht sehen. Sie ist ein Ungetüm, das sich auch in den Köpfen aufgebaut hat. Vielleicht kommt daher auch die Besessenheit, Bilder für das nicht Sichtbare zu finden: Immer wieder wird im Fernsehen und im Film die morbide Schönheit in der Sicherheitszone um Tschernobyl in Bildern beschworen. Und auch Volker Sattels Bilder sind von einer Magie, die den Zuschauer einlullt und von der man nicht vermutet hätte, dass man sie hier finden kann. Sattel verführt den Zuschauer, während er gleichzeitig bestehende Vorstellungen entmystifiziert. »Unter Kontrolle« ist ein unpädagogisches Lehrstück und gerade dadurch nicht nur inhaltlich, sondern auch formal einer der spannendsten Dokumentarfilme der jüngsten Zeit.
Indem er jene Menschen zu Wort kommen lässt, die im System Atomkraft angestellt sind, vom Techniker im Werk bis zum Vertreter des Atomforums, eröffnet er eine neue Perspektive auf das Thema. Die Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie sind bekannt, doch wie ergeht es Menschen, die mit und von der Atomenergie leben? Eines fällt dabei deutlich auf: die Abwesenheit von Frauen. Die Welt der Atomkraft ist eine Männerwelt. Aber keine von Marlboro-Männern, sondern von schmächtigen Angestellten mit Bauchansatz und Kaufhaus-Sakko. Viel besser kommen die einzigen Atomkraftgegner im Film auch nicht weg: In ihrem kleinen Büro nesteln sie hilflos an einer Kaffeemaschine. Sattel hält die Kamera drauf; so stoisch und gleichzeitig erbarmungslos, wie er das auch im Inneren der Atomkraftwerke macht.
Der Film »Unter Kontrolle« ist Science Fiction, denn obgleich er eine Gegenwart dokumentiert, nimmt er mit seinen Bildern das Ende der Atomkraft vorweg, er archiviert bereits, deutet um. Hier ist die Zukunft schon längst Vergangenheit und cinematografisch musealisiert.

»Unter Kontrolle«. Ein Film von Volker Sattel.
Start: 26. Mai