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So hatten wir uns das mit dem Zensus eigentlich nicht vorgestellt. Bisher waren wir davon ausgegangen, eine junge, kritikfreudige und wortgewandte Leserschaft zu haben, die uns ihre wohlformulierten und luzide begründeten Einwände gegen die Gestaltung unseres Blattes gleich säckeweise schicken würde. Aber stattdessen heißt es bis jetzt nur: Super, weiter so, immer wieder lustig, netter Zeitvertreib. Und wir dachten, Sie würden sich wenigstens darüber beschweren, dass wir noch immer kein geschlechtersensibles Deutsch schreiben, manchmal zu überheblich und oft zu polemisch sind, dass die Sätze unserer Autorinnen und Autoren zu lang und ihre Interessen zu speziell sind. Haben wir geistig wirklich derart abgebaut, dass uns inzwischen alle mögen? Sind wir vielleicht sogar kreativ geworden? Darin kann nämlich, wie Sie diesmal unseren Themaseiten entnehmen können, durchaus eine Gefahr liegen. Wen die Kreativität ereilt, der hockt womöglich fortan in eigens dafür eingerichteten »Coworking Spaces«, wo er ungemein produktiven, aber nicht näher bestimmbaren Arbeiten nachgeht, und lernt seine künftige Primärbeziehung beim »Speed Dating« kennen. Sollten Sie Symptome für derartige Tendenzen bei uns entdecken, melden Sie sich doch bitte umgehend. Und schreiben Sie uns zur Abwechslung auch einmal, warum Sie uns nicht mehr so oft wie früher lesen, was Ihnen in unserem Blatt fehlt und wovon es nach Ihrem Geschmack zu viel gibt. Oder wollen Sie bei uns den Eindruck hinterlassen, Sie hätten noch weniger auf dem Kasten als wir?
Vielleicht sind wir im Moment auch nur frustriert, weil einer der Redakteure unseres Thema-Ressorts uns Mitte des Monats verlassen hat. Wir hoffen natürlich, dass er weiterhin für uns schreibt, sofern ihm seine neue Tätigkeit Zeit dafür lässt, werden ihn aber in jedem Fall schmerzlich vermissen. Im Gegensatz zu den meisten von uns ist er nämlich handwerklich geschickt, was uns nicht nur während unseres Umzugs viel Ärger erspart hat. Ohne ihn ständen hier immer noch keine Regale an den Wänden, und sogar an seinem letzten Arbeitstag hat er noch die Lampen über unserem Konferenztisch angebracht. Auch sonst ist er stets einer der Ersten gewesen, die kamen, und einer der Letzten, die gingen, und die zahlreichen Arbeiten, auf die kein anderer Lust hatte, wurden meist von ihm übernommen. Fast könnte man meinen, wir hätten ihn gar nicht verdient. Aber wir wollen auch nicht zu defätistisch sein, sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin ist auf eine eigene Art bestimmt genauso gut wie er. Und wenn Sie sich endlich Ihren Hang zur Affirma­tion abgewöhnen, dann werden bestimmt auch wir selbst noch besser. Vielleicht sogar so gut, dass Sie uns nie wieder lesen wollen.