Die deutsche Leistungspropaganda und die Plagiatsaffäre

Ich bin dann mal unambitioniert

Silvana Koch-Mehrin und Karl-Theodor zu Guttenberg galten als ideale Protagonisten der Leistungspropaganda. Dann kamen die Plagiatsaffären.

»Gays against Guido«. Knapp drei Monate nachdem die schwarz-gelbe Koalition mit dem Regieren begonnen hatte, schmückten Sticker mit diesem Slogan die Winterjacken zahlreicher Berliner. Damals verging kaum ein Tag, an dem man nicht dazu aufgefordert wurde, die eigene Leistungsbereitschaft zu steigern. In den Fernseh- und Radiosendungen wurde über sogenannte Leistungsträger und Leistungsverweigerer debattiert, und die Zeitungen informierten über die neu entstehende Leistungsgesellschaft. Tagtäglich wurde man von den Visionen Guido Westerwelles heimgesucht, denn dem FDP-Parteivorsitzenden gelang es mit einem unnachahmlich schrillen Tremolo der Dringlichkeit, die Leistungsträgerideologie zu propagieren.
Mittlerweile ist es still geworden um Westerwelle. Nachdem seine Partei bei den Landtagswahlen im März miserable Ergebnisse erzielt hatte, musste er seinen Posten als Vorsitzender räumen. Über Leistung wird derzeit auffallend wenig geredet, die Minister achten penibel darauf, dass ihnen der Begriff des Leistungsträgers zumindest in der Öffentlichkeit nicht über die Lippen kommt. Das Schweigegelübde dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass der Regierung zwischenzeitlich die prominentesten Protagonisten abhanden gekommen sind, mit denen sie ihr Ideal des Leistungsträgers in den Medien zur Schau stellen konnte. Erst trat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zurück, vorige Woche folgte ihm Silvana Koch-Mehrin (FDP). Beide können auf eine Karriere zurückblicken, die rasend schnell verlief. Der Praktikant einer New Yorker Wirtschaftskanzlei wurde Wirtschaftsminister, die Praktikantin im Europaparlament wurde dessen Vizepräsidentin. Und beide haben an Universitäten Doktorarbeiten eingereicht, in denen sich Plagiate fanden. Ihre Rücktritte waren kaum vermeidbar, denn dass die Fähigkeit, seitenweise aus den Arbeiten anderer abzuschreiben, eine der berühmten Schlüsselqualifikationen sein soll, mit denen man sich die Zugehörigkeit zur »Leistungselite« sichert, ließ sich dann doch schwer vermitteln. Und über die Tatsache, dass das finanzielle Vermögen gemeint ist, wenn hierzulande über Leistung gesprochen wird, möchten die Politiker lieber schweigen.

Die Diplomatentochter und der Adelssprössling wären auch ohne Doktortitel als veritable Mitglieder einer »Elite« wahrgenommen worden, die sich seit einigen Jahren gerne mit dem zusätzlichen Etikett »Leistung« präsentiert. Die akademischen Titel von Koch-Mehrin und zu Guttenberg waren ein äußerst effektives Vehikel, um dieser Imagekorrektur Glaubwürdigkeit zu verleihen. Allerdings wäre diese ideologische Aufwertung des Vermögens von der Bevölkerung wohl kaum so widerspruchslos hingenommen worden, wenn sie nicht schon jahrelang unter dem Motto »Leistung muss sich wieder lohnen« darauf vorbereitet worden wäre.
Kurz bevor die ersten Hartz-Gesetze in Kraft traten, begann mit der Ausstrahlung von »Deutschland sucht den Superstar« die Ära der Casting-Shows. Mittlerweile sieht man im Fernsehen beinahe täglich junge Menschen, die sich einem demütigenden Auswahlprozedere aussetzen. Widerspruchslos ertragen sie Beleidigungen, die ihnen als konstruktive Kritik verkauft werden. Die einzige Botschaft, die in diesen Shows vermittelt wird, lautet: »Du bist nie gut genug!« Denn nur eine kann Germany’s Next Topmodel werden, in der Band ist nur Platz für vier Popstars-Teilnehmer, und natürlich gibt es nur einen deutschen Superstar. Für die Zuschauer sind diese Sendungen die perfekte Vorbereitung auf den nächsten Tag in der Schule, im Büro, in der Fabrik oder im Jobcenter.
Dank der unter der rot-grünen Regierung eingeführten »Liberalisierung« des Arbeitsmarktes, hat sich das Leben in eine immerwährende Casting-Show verwandelt. Denn in der flexibilisierten Arbeitswelt ist permanent die Gelegenheit oder Notwendigkeit gegeben, einen neuen Job zu finden. Jederzeit sollen Arbeitnehmer und Arbeitslose überzeugend darstellen, dass sie ehrgeizig und teamfähig sind, nach kreativen Herausforderungen lechzen, und dabei doch stets lösungsorientiert denken. Sie sollen allzeit arbeitsbereit sein, aber währenddessen nicht die körperliche Fitness vernachlässigen und wahnsinnig ambitionierte Gespräche führen können, aber natürlich auch die hohe Kunst des Smalltalk beherrschen. Denn der ist nicht nur unentbehrlich für das Business Dinner, sondern sorgt auch für eine gute Stimmung am Arbeitsplatz. Falls man bei diesen Anforderungen den Überblick verliert, sollte man zur Orientierung mal einen Blick in die Stellenangebote oder Bewerbungsratgeber werfen. Spätestens nach dieser Lektüre stellt man sich als Fernsehzuschauer auch nicht mehr die Frage, warum eine Sängerin, der die Imitation von Whitney Houston liegt, auch so klingen können sollte wie Lady Gaga.

Die schwarz-gelbe Regierung ist mit dem Versprechen angetreten, dass die »Leistungsträger« endlich die ihnen zustehende Entlohnung erhalten sollen. Dabei ging es natürlich nicht um eine Erhöhung des seit Jahren stagnierenden Lohnniveaus oder die Einführung eines Mindestlohns, sondern um Steuererleichterungen, die erst bei höheren Einkommen wirksam werden. Die Regierung hat dafür den schönen Begriff der »Leistungsgerechtigkeit« gefunden. Zukünftig möchte sie sich auch um mehr »Chancengerechtigkeit« bemühen. Man darf gespannt sein, wo diese verwirklicht werden soll. Anbieten würde sich das deutsche Bildungssystem, dem seit Jahren bescheinigt wird, dass es eines der ungerechtesten der Welt ist. Aber das wäre vermutlich zu naheliegend. Eine Forderung, die Koch-Mehrin vor einigen Jahren stellte, dürfte der schwarz-gelben Wählerklientel besser gefallen. Sie schlug vor, dass Eltern sämtliche Bildungsausgaben, die sie für ihre Kinder tätigen, steuerlich absetzen können sollten. Den Beziehern von Hartz IV und Geringverdienern würde das selbstverständlich nichts nützen. Es fällt auf, dass Koch-Mehrin und zu Guttenberg im Zusammenhang mit den Plagiats­affären auf ihre Familien zu sprechen kamen. Koch-Mehrin begründete ihren Rücktritt damit, dass sie »Druck von ihrer Familie« nehmen wolle. Zu Guttenbergs Begründung klang ähnlich, mittlerweile erklärte er der Bayreuther Universität, dass seine Familie einen großen »Erfolgsdruck« auf ihn ausgeübt habe und er während seiner Dissertation an »Überforderung« gelitten habe. Überforderung und Erfolgsdruck, das sind Symptome, mit denen vor allem Leistungsträger zu kämpfen haben. Dass die Bevölkerung dieses Geständnis mit Mitgefühl goutieren wird, ist unwahrscheinlich. Anders als der Vorgesetzte kann die Verwandtschaft keine Kündigung aussprechen, wenn man über Arbeitsbelastung klagt.

Anlässlich der Plagiatsaffären fragten in den Zeitungen einige Kommentatoren, ob man sich mit Koch-Mehrin und zu Guttenberg die Falschen zum Vorbild genommen habe und plädierten dafür, diese Entscheidung selbstkritisch zu hinterfragen. Das ist nett gemeint, aber falsch gefragt. Die Rücktritte der beiden Politiker, die den Glamour der »Leistungselite« verströmten, sind vielmehr ein willkommener Anlass, ein Recht auf Mittelmäßigkeit zu fordern. In den Berliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln, wo zahlreiche Bewohner in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, scheint man schon länger dieser Ansicht zu sein. Auf die Winterjacken mit den »Gays against Guido«-Stickern folgten im Sommer ­T-Shirts mit dem Slogan: »Is mir egal, ich lass das jetzt so!«