Philip White im Gespräch über die Anti-AKW-Bewegung in Japan

»Die Menschen wollen Klarheit«

Die Live-Ticker sind aus dem Internet verschwunden und nur noch selten sieht man Bilder des havarierten Atomkraftwerks in Fukushima auf den Titelseiten deutscher Zeitungen. In Japan ist die Atomkatastrophe jedoch weiterhin ein bestimmendes Thema, vor allem für die dortige Anti-AKW-Bewegung. Ihre wichtigste Organisation ist das Citizens’ Nuclear Information Center (CNIC). Philip White war bei der Organisation bis vor kurzem für die internationale Zusammenarbeit zuständig. Zurzeit ist er dort als freiwilliger Mitarbeiter tätig.

Wie hat sich die Arbeit des CNIC seit der Katastrophe in Fukushima verändert?
Nun, das CNIC ist extrem ausgelastet seit dem Desaster. Wir haben unglaublich viele Anfragen erhalten. Außerdem beschaffen wir unabhängige Informationen und Analysen und bieten diese der Öffentlichkeit an. Natürlich haben wir das auch vorher getan. Unsere Homepage dient nun als Quelle für alternative Informationen zum Unfall.
Wie groß ist die Nachfrage nach Informationen?
Die Intensität und Anzahl der Anfragen der Öffentlichkeit und der Medien ist ein wenig zurückgegangen. Vor allem die Anfragen von Menschen, die Angst um ihre Gesundheit haben, sind abgeebbt. Obwohl die Situation immer noch sehr ernst ist, sind die Menschen über das Schlimmste hinweg: den Schock und die Angst. Aber wir erhalten immer noch eine riesige Menge von Anfragen. Ich kann keine Zahlen nennen. Kurz nach der Katastrophe standen die Telefone nicht mehr still. Es war uns kaum möglich, selbst einmal einen Anruf zu tätigen, ständig klingelte es. Jetzt hat sich die Lage ein wenig beruhigt, es ist wohl auch wieder leichter, uns zu erreichen.
Es gab nach dem Unglück verschiedene Petitionen, die teilweise von vielen Bürgern unterschrieben wurden und nun von der Regierung und Wissenschaftlern bearbeitet werden. Welche Bedeutung messen Sie den Petitionen bei?
Es gab verschiedenste Petitionen. Einige konnten sich größerer Aufmerksamkeit erfreuen, andere wurden kaum unterzeichnet. Es gab zum Beispiel eine Petition, die speziell die Gefahr der Strahlung bei Kindern thematisierte. Kinder müssen eine sehr hohe Dosis an Strahlung verkraften, wenn sie zur Schule gehen. Dieses Spezifikum wurde allgemein als sehr wichtig empfunden, die Petition wurde von etlichen Gruppierungen und vielen Privatpersonen unterzeichnet. Es gibt beispielsweise auch Petitionen bezüglich der Atompolitik, die ebenfalls von vielen unterzeichnet wurden, weil es um die Gesundheit der gesamten Gesellschaft ging. Gesundheit ist ein Thema, bei dem sich fast alle einig sind. Es gab allerdings auch andere wichtige Petitionen politischer Natur, die kaum unterschrieben wurden, weil ihre Inhalte schwer zu verstehen sind.
Wird die Atomenergie im Allgemeinen in einem größeren Maß öffentlich kritisiert oder betrifft die Kritik hauptsächlich die Betreiberfirma Tepco und das Kraftwerk Fukushima?
Erst einmal muss ich sagen, dass es in meinem privaten Umfeld viele Menschen gibt, die kaum etwas über Atomenergie wissen. Sie sagen Dinge wie: »Atomenergie? Darüber haben wir vorher einfach nicht nachgedacht. Es hat uns nicht betroffen.« In der Vergangenheit haben sie einfach Elektrizität benutzt. Sie wussten nicht, wo diese herkam. Wenn sie jemand nach AKW gefragt hat, waren sie sehr schnell sehr gelangweilt. Es gab hin und wieder kleine Zwischenfälle in den hiesigen AKW. Diese Menschen aus meinem Umfeld haben sich ein wenig gesorgt, aber das war dann auch schnell wieder vergessen.
Nun weiß jeder Mensch in Japan, dass es hier eine Menge Atomkraftwerke gibt. Das Bewusstsein vieler hat sich geändert. Es ist nun kein Geheimnis mehr, dass die Atomenergie wirklich gefährlich ist. Kurz gesagt: Die meisten finden Atomenergie schlecht und wünschen sich Alternativen. Ein wichtiger Punkt: Abgesehen von den Menschen, die sich immer gegen AKW eingesetzt haben, wissen die meisten aber nicht, ob Japans Wirtschaft auch ohne Atomenergie funktionieren kann. Ich glaube, dass es möglich ist. Und ich glaube ebenfalls, dass es unbedingt erstrebenswert ist, vollständig auf Atomkraft zu verzichten. Die Aufgabe der Anti-AKW-Bewegung ist es nun, die gesamte Gesellschaft von dieser Möglichkeit des kompletten Ausstiegs zu überzeugen.
Es gab in Japan inzwischen etliche Demonstrationen gegen die Atomkraft. Wer ist da auf die Straße gegangen?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Anti-AKW-Bewegung in Japan und in Deutschland. Deutschland ist wegen seiner großen Anti-AKW-Bewegung in der ganzen Welt einzigartig. Wenn Deutsche an Demonstrationen gegen die Atomkraft denken, dann erwarten sie 100 000 Teilnehmer. Bis jetzt waren in Japan noch nie 100 000 Menschen auf der Straße. Aber das bringt möglicherweise die Zukunft. Ich denke, dass sehr viele ihre Meinung geändert haben. Aber das Bemerkenswerteste ist, dass sehr viele junge Menschen nun auf die Problematik aufmerksam geworden sind. Das ist mein Eindruck. Ich habe nicht jeden einzelnen, den ich noch nicht von vergangenen Demonstrationen kannte, gefragt, warum er hier ist. Ich vermute aber, dass die meisten einfach nicht Bescheid wussten.
Ist es also künftig für die Anti-AKW-Bewegung wichtig, Informationen an Jugendliche heranzutragen?
Ich denke, es gibt Momente in der Geschichte, in denen Menschen aktiv werden und sich Bewegungen anschließen. Und alle, die jetzt dazustoßen, müssen unterrichtet und informiert werden. Zum Glück gibt es Twitter und Facebook. So werden grundlegende Informationen über die Atomenergie ausgetauscht, bei denen es keine Rolle spielt, ob du dafür oder dagegen bist.
Orientieren Sie sich bei Ihrer Arbeit an der Anti-AKW-Bewegung in anderen Ländern?
Als eine Person, die jahrelang für die japanische Anti-AKW-Bewegung gearbeitet hat, kann ich sagen, dass sie schon immer von der deutschen inspiriert wurde. Die politischen Erfolge, die von der deutschen Anti-AKW-Bewegung erreicht wurden, sind ein Vorbild für die japanische. Die Tatsache, dass es in Deutschland möglich war, die eigene Regierung zu einem Umdenken zu zwingen, hat uns sehr viel Hoffnung gemacht. Wir hoffen, dass das so bleibt und noch viele weitere Siege errungen werden. Denn das würde auch der japanischen Regierung zeigen: Es gibt ein Alternativprogramm.
Hamaoka, ein durch seine Lage sehr gefährdetes Kraftwerk, wird abgestellt. Wem ist dieser Erfolg zuzuschreiben?
Ich glaube, das ist der große Erfolg all derer, die schon immer gegen Atomenergie gekämpft haben. Hierzu gab es auch schon etliche Petitionen, einige schon lange vor dem Tsunami. Und bereits seit geraumer Zeit gibt es eine Kampagne, die sich gegen diesen Standort richtet. Nach der Katastrophe in Fukushima wurde die Gefahr für alle realer. Aber es ist die beharrliche Arbeit über mehrere Jahre hinweg, die die Schließung vorangetrieben hat.
Mit dieser Schließung sind Sie aber noch nicht am Ziel.
Der Ausstieg aus der Atomenergie war schon immer das Ziel meiner Organisation. Verschiedene Menschen werden verschiedene Ansichten darüber haben, wie schnell er stattfinden kann. Hamaoka wird schnell abgestellt. Wir brauchen einen Ersatz für alle Atomkraftwerke, damit sie abgestellt werden können. Ich glaube, dass es wichtig für die Aktivisten ist, nun eine Vision zu verbreiten und die Öffentlichkeit und die Politik davon zu überzeugen, dass der Ausstieg möglich ist, und zwar möglichst schnell. Die Regierung muss nun einen Rahmen für alle diese Ziele bieten. Wir brauchen vor allem alternative Energie.
Wünscht sich auch die Mehrheit der japanischen Bevölkerung mittlerweile den Ausstieg?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass die allgemeine Panik zurückgegangen ist. Trotzdem ist die Stimmung hier sehr angespannt und viele machen sich noch immer große Sorgen. Immer noch wissen viele nicht, was diese Katastrophe für sie bedeutet. Die Menschen wollen Klarheit und Sicherheit für die Zukunft.