Nina Power im Gespräch über Commons und Kommunismus

»Es gibt keinen neuen Marx«

Nina Power plädiert für einen pragmatischen Kommunismus in der Gegenwart und erklärt, welche Ressourcen und Mittel dazu nötig sind und welche Rolle die Rückeroberung der Commons dabei spielt. Sie ist Senior Lecturer am Fachbereich Philosophie der Londoner Roehampton University. Nina Power ist Mitherausgeberin von Alain Badious »On Beckett« und »Political Writings«. Ihr Buch »One-Dimensional Woman« ist 2009 erschienen, die deutsche Übersetzung erscheint in Kürze im Merve-Verlag. Sie betreibt das Weblog Infinite Thought. Beim Kongress »Re-Thinking Marx« am vorigen Wochenende in Berlin hielt sie einen Vortrag unter dem Titel »The Commons in Practice«.

Im Zuge der Finanzkrise setzte eine Art Marx-Renaissance ein. Welche Bedeutung hat der Marxismus oder der Neomarxismus heute?
Ich würde nicht von Neomarxismus sprechen. Vielleicht gibt es inzwischen einfach die Möglichkeit, Marx offener zu lesen, ohne den real existierenden Sozialismus im Hinterkopf zu haben, ohne die ganzen fraktionalisierten Interpretationen verschiedener Parteien und ohne die dogmatischen Lesarten. Aber es gibt keinen »neuen Marx«. Was Marx aber sehr gut erklären kann, ist die Krise, und natürlich ist das ein Hauptgrund für seine neue Relevanz. Es wird immer offenkundiger, dass der Kapitalismus strukturell nicht funktioniert und nicht für jeden Arbeit bieten kann. Man kann auf Eigentum spekulieren, der Markt kann auf sich selbst spekulieren, aber wir kommen gerade an den Punkt, wo immer deutlicher wird, dass wir nicht mehr wissen, wohin das führt. Es gibt eine Krise des Kapitalismus, es gibt eine Krise im Kapitalismus, und es gibt eine allgemeine, darüber hinausgehende Wahrnehmung von der Krisenhaftigkeit unserer Gesellschaft, und das könnte erklären, warum gegenwärtig jeder daran interessiert ist, Marx zu lesen.
Es hat allerdings auch den Versuch gegeben, die Finanzkrise mit den charakterlichen Schwächen der Banker zu erklären. Der abfällige Begriff »Bankster« wurde populär. Aus Sicht des Marxismus ist das eine Vereinfachung und unzulässige Personalisierung.
Auch Marx ist einzelne Personen sehr kritisch und rüde angegangen, aber es reicht offensichtlich nicht, zu sagen, dass die Krise das Resultat des Handelns einzelner »böser« Menschen ist, ganz im Gegenteil, sie ist eindeutig strukturell.
In Großbritannien erleben wir nun, wie versucht wird, das Narrativ des »Blaming the Banker« umzuschreiben in »Blaming the People«. Die Sparpolitik der britischen Regierung ist der unglaubliche Versuch, den Menschen die Schuld für etwas zuzuschreiben, was sie nicht verursacht haben. Nicht dass der Banker nicht individuell verantwortlich wäre. Es ist jedoch das System, das massive Deregulation und Spekulation erlaubt. Einige Leute wussten, dass es zur Krise kommen würde, aber die Krise eröffnet immer auch Möglichkeiten. Es ist kein Zufall, dass die Koalitionsregierung in Großbritannien jetzt all die Einsparungen und Attacken auf den Wohlfahrtsstaat und den öffentlichen Sektor durchsetzen kann, um »Thatchers Revolution« zu vollenden. Die Krise bietet der herrschenden Klasse immer auch die Chance, einen Schritt weiter zu gehen.
Was ist das Neue an der Krise?
Mir scheint, dass sich überall auf der Welt die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass das System der Belohnungen, die der Kapitalismus anbietet – der Konsumismus und das Eigentum – einfach nicht funktioniert. Entweder du kriegst die Belohnung überhaupt nicht, weil du zu wenig Geld hast, oder du willst sie nicht, weil sie dich persönlich nicht oder nicht mehr befriedigt, weil sie eben nicht hinreichend ist für ein gehaltvolles Leben. Die Spaltung zwischen der herrschenden Klasse und den anderen wird immer deutlicher und immer weniger tolerierbar.
Die Arbeiterklasse erodiert, die Linke schwächelt. Welche Gegenbewegung sehen Sie, wer ist das neue revolutionäre Subjekt, das gegen das Spardiktat kämpfen könnte?
Ich denke nicht, dass das »working subject« verschwunden ist. Die elementaren sozialen Schichtungen sind so geblieben, wie Marx sie beschrieben hat. Die meisten Leute müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben, und die Kapitalisten verfügen über das Kapital. Es gibt vielleicht ein Problem mit den Begrifflichkeiten und unterschiedliche Theorieansätze, die das Problem beschreiben. Sollen wir also lieber von Multitude sprechen? Denn anscheinend sollen wir das Wort »Proletarier« nicht mehr benutzen.
Was halten Sie vom Konzept der Multitude?
Ich kritisiere dieses affirmative, vitalistische Verständnis eines kollektiven Körpers der Multitude, das die Spaltungen und Antagonismen nicht berücksichtigt, die unsere Beziehungen untereinander potentiell konstituieren. Es kann nicht nur darum gehen, wie der Kapitalismus uns als Arbeiter ausbeutet, es sollte auch darum gehen, wie wir uns  – ungewollt – gegenseitig ausbeuten. Das Konzept der Multitude kann diese sozialen Spannungen nicht präzise fassen.
Sie würden nicht sagen, dass die Arbeiterklasse tot ist?
Nein, auch wenn die Arbeitslosigkeit sicherlich konstitutiv für den Kapitalismus ist. Wir haben inzwischen eine ganze Generation von technisch fähigen, gebildeten jungen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt einfach nicht mehr gebraucht werden. Der Kapitalismus will diese Leute auch nicht mehr unterstützen, weder über den Wohlfahrtsstaat noch über die Arbeitslosenhilfe. Es gibt zur Zeit viele Kämpfe, die charakterisiert sind von Jahren der Arbeitslosigkeit. Und das müssen wir berücksichtigen.
Könnten diese jungen Leute das revolutionäre Subjekt sein?
Zunächst einmal müssen wir unsere Definition vom Arbeiter weiter fassen. Die klare Unterscheidung zwischen Arbeitern, also jenen, die Lohnarbeit verrichten, und denen, die das nicht tun, verschwimmt vielerorts. Wenn ich beispielsweise an meine Studenten denke: Student zu sein, bedeutete in den sechziger Jahren etwas anderes als heute. Meine Studenten sind immer auch Arbeiter, d.h. sie haben Jobs und werden durch ihr Verhältnis zum Arbeitsmarkt stark geprägt. Sie werden praktisch dazu gebracht, sich selbst immer auch als Arbeiter zu begreifen.
Auch in den Ländern Nordafrikas gibt es immer mehr junge qualifizierte Leute, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und die nun gegen ihren Ausschluss protestieren. Was hat der Marxismus den Marginalisierten dieser Welt zu bieten, der arbeitslosen Uni-Absolventin, die in Madrid protestiert, der Latina, die als Nanny in Manhattan jobbt, und dem Gemüseverkäufer in Kairo?
Was der Marxismus kann, ist die »mystifizierten« Beziehungen, die das alles generiert haben, zu erklären. Der Marxismus beschreibt, wie die Ausbeutung in den Jobs, aber auch in der Arbeitslosigkeit funktioniert. Marx spricht im »Kommunistischen Manifest« über die Art, wie das Kapital über den Globus jagt. Ohne jetzt das Wort »Globalisierung« verwenden und die Problematik, die mit dem Begriff verbunden ist, erörtern zu wollen, kann man sagen, dass die Leute heute sehr wohl fühlen, dass sie auf eine negative Weise miteinander verbunden sind, und dass bestimmte Formen der Ausbeutung, die wir auf der ganzen Welt beobachten, überall von einer globalen Elite auf ähnliche Weise durchgesetzt werden. Und ein Grund für die Aufstände, die wir zurzeit erleben, ist die zunehmende Unwilligkeit der Leute, diese Eliten zu tolerieren – in Großbritannien, in Nordafrika und anderswo.
Die deutsche Linke war von den Protesten in Tunesien und Ägypten ziemlich überrascht.
Zumindest Teile der britischen Linken waren von den Aufständen in Nordafrika überhaupt nicht überrascht, weil sie schon lange Zeit über Proteste in Ägypten spekuliert hatten.
In einem Artikel für den Guardian haben Sie die Bedeutung der »Girl Rioters« für die jüngsten Bildungsproteste in Großbritannien hervorgehoben und die selbstbewussten, kämpfenden Frauen gewürdigt. Welche Rolle spielen Frauen in den aktuellen sozialen Kämpfen?
Wir erleben zurzeit eine wirklich phantastische Präsenz oder sogar Dominanz von Frauen, die Besetzungen organisiert oder den Protest angeführt haben, über ihn berichtet oder Polizeiautos demoliert haben. Mein Artikel drückt einfach meine Freude über diese Entwicklung aus. Die rechte Presse und die britischen Medien allgemein versuchen beständig, weibliches Protestverhalten moralistisch zu deckeln. In den neunziger Jahren attackierten sie die »Ladettes«, Frauen aus der Arbeiterklasse, die einen Job hatten und ihr Geld für Ausgehen und Trinken ausgaben. Eine schreckliche Plage sei das, so der Tenor damals. Ich denke, dass die Attacken gegen die Girl Rioters die Fortsetzung des Ressentiments sind, das sich in den neunziger Jahren gegen die Ladettes richtete. Es ist der endlose, immer wiederholte Versuch, weibliches Vergnügen und weibliche politische Beteiligung zu limitieren, was im Grunde zurückgeht bis auf das Bild von der Sufragette in der Literatur.
In ihrem »Feministischen Manifest für das 21. Jahrhundert« zitieren Sie aus dem »Kommunistischen Manifest«: »Je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der Weiber und Kinder verdrängt.« Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Feminisierung der Arbeit. Ist die Frau der neue Proletarier, der Proletarier von heute?
In den fünfziger Jahren drängten Frauen zum ersten Mal auf den Arbeitsmarkt, ein Prozess, der im Grunde erst heute zum Abschluss kommt, da wir annähernd eine Balance zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt erreicht haben. Als Frauen massenhaft Teil des Arbeitsmarktes wurden – wir wissen natürlich, dass die Frauen der Arbeiterklasse immer gearbeitet haben –, war weibliche Arbeit gekennzeichnet durch prekäre Bedingungen und schlechte Bezahlung. Es gab keine Arbeitsplatzsicherheit und eine geringere Bezahlung für gleiche Arbeit. Genau diese Arbeitsbedingungen sind heute allgemein durchgesetzt und haben im Grunde nichts geschlechtsspezifisches mehr. Es ist nicht der Fehler der Frauen. Man könnte auch sagen: Der Kapitalismus hat gesehen, dass er die schlechte und asymmetrische Behandlung, die er Frauen zugemutet hat, genauso gut allen antun kann.
Als Strategie, um auf die völlige Durchsetzung des Kapitalismus zu reagieren, wird seit einiger Zeit die Rekommunalisierung von Commons, also Gemeingütern, diskutiert. Auf der Konferenz »Re-Thinking Marx« haben Sie gesagt, früher seien die Commons die Vergangenheit und der Kommunismus die Zukunft gewesen, heute sei der Kommunismus die Vergangenheit und die Commons seien die Zukunft.
Das ist eine sehr interessante Debatte, die im Moment geführt wird. Heute haben wir eine Situation, in der alles Gemeingut privatisiert und ökonomisiert wurde. Wenn wir auf die Gegenwart gucken, gibt es einfach keine Anzeichen für eine bessere Welt, es gibt keine utopische Dimension und kein Fragment der Hoffnung. Diese Feststellung steht im Widerspruch zu den Theorien von Leuten wie Silvia Federici, die sagen, »schaut her, es gibt Kämpfe gegen die Demontage der Commons«. Sie meint, wir können in verschiedene Teile der Welt gucken, in denen kollektives Leben immer noch möglich ist, und daran sollten wir uns orientieren.
Ich dagegen meine, dass es in der Diskussion um Kommunalisierung mehr darum geht, dass der Kommunismus in einem unmittelbaren Sinne realisiert werden muss, also jetzt. Aber in der Gegenwart gibt es nichts, was wir verwenden können, um den Kommunismus zu denken und zu überlegen, wie er sein könnte. Das ist natürlich problematisch, und meine Position ist eine sehr puristische Position: Wenn wir praktisch darüber nachdenken wollen, was Kommunismus sein könnte, müssen wir über die Gegenwart nachdenken. Was werden wir nach der Revolution zum Beispiel mit den Gebäuden tun?
Es ist in sich selbst utopistisch zu glauben, dass die Revolution alles zerstören wird. Ich glaube, dass die Revolution überhaupt nicht so sein wird oder so ist. Man muss auch institutionell überlegen, was man tut und was man erhalten muss.
Ist die Kommunalisierung eine Strategie, die uns praktisch zum Kommunismus führt?
In gewisser Weise ist es so. Wir müssen einfach berücksichtigen, was wir an Material und Ressourcen haben. Es sind dieselben Dinge, die heute ausgebeutet werden. Ich glaube also nicht daran, dass etwas ganz Neues und Tolles einfach so kommen wird. Wir sollten daher schauen, über welche Ressourcen wir verfügen und wie wir sie nutzen können, statt auf den radikalen Bruch zu hoffen.