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Haben Sie eigentlich in letzter Zeit Ihre Wohnung daraufhin untersucht, welche linken Devotionalien sich darin befinden? In unseren Redaktionsräumen ist die Ausbeute einer solchen Suche eher gering. Die meisten Fundstücke sind Zeugnisse schnöder Selbstbespiegelung: lauter Jungle World-Plakate, Jungle World-Postkarten und Jungle World-Gimmicks, aber keine Marx-Büste, kein Exemplar von Maos rotem Büchlein und kein Che-Guevara-T-Shirt. Die »Kapital«-Bände, die unseren Produktionsraum dekorieren, erwecken bei unseren Redakteuren ebenso wenig Interesse wie die alten Konkret-, Radikal- oder Bahamas-Hefte, die in unseren Regalen vor sich hinrotten. Stattdessen steht auf unserem Konferenztisch, inmitten lauter Taz- und ND-Ausgaben, immer noch die wehrlose kleine Freiheitsstatue, mit der wir unsere Wertschätzung gegenüber der westlichen Zivilisation bekunden. Im Lektoratsraum hängt ein Bild mit Eichhörnchen an der Wand, und unser Drucker wird von einem verstaubten Stoffpinguin bewacht. Sollten Sie diese anachronistischen Ausstattungsvorlieben als Ausdruck mangelnden politischen Bewusstseins missverstehen, müssen wir Sie belehren, dass der Pinguin ein Tugendsymbol ist und Eichhörnchen, ähnlich dem Fuchs, als Begleiter des Teufels gelten. Mit den Eichhörnchen und dem Pinguin bringen wir auf subtil-dialektische Weise unseren doppelten Anspruch zum Ausdruck, für die Wahrheit und für die Kritik, für Destruktion und Freiheit einzustehen. Jetzt schauen Sie sich Ihre eigene Wohnung noch einmal genauer an, und Sie werden überrascht sein, wie geistreich Sie im Grunde sind.
Unsere kleine Philosophie der Innenausstattung verdankte sich eigentlich nur der beiläufigen Erkenntnis, dass Karl Marx in unserem Redaktionsalltag eine so geringe Rolle spielt. Nicht nur, dass er hier nirgends herumsteht, im Grunde haben wir auch keine Ahnung von ihm. Einer unserer Redakteure protzt geradezu mit seiner umfassenden Marx-Unkenntnis, auf die Frage »Welches ist Ihr Lieblingssatz von Marx?« antwortete ein anderer Kollege »Der mit dem Wert«, und unsere interne Marx-Konferenz war nach zehn Minuten beendet. Die Teilnehmer der Konferenz »Re-Thinking Marx« an der Berliner Humboldt Universität haben aber, wie Sie in dieser Ausgabe nachlesen können, für ähnliche Einsichten viel länger gebraucht. Darum wollen wir abschließend noch einmal ungerührt auf unsere »kontinuierliche Produktverbesserung« zu sprechen kommen, wie das redaktionsintern genannt wird: Unser Zensus ist jetzt beendet, Sie brauchen uns also nicht mehr zu schreiben. Aber wenn bei Ihnen noch irgendwo ein Bändchen »Marx für Anfänger« liegt, schicken Sie es uns doch bitte zu. Nach der Lektüre melden wir uns wieder.