Über das Buch »Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik«

Warum steht denn da jetzt keiner?

Jonathan Wilson schreibt die Geschichte der Fußballtaktik und erklärt dabei dieses Spiel wie vor ihm kein anderer.

Getippt wird ja gerne. Nach Abschluss der Fußballbundesliga werden die Bürowettlisten abgerechnet, und vor dem Finale der Champions League zwischen Manchester United und dem FC Barcelona dürfen die Experten noch mal ran. Also die, von denen man vorm Fernseher solche Sätze hört: »Jetzt müsste er schießen«, »Das war doch ein Foul« oder »Warum steht denn da jetzt keiner?«
Zumindest zur Beantwortung der Frage hat der Göttinger Werkstatt-Verlag nun in deutscher Übersetzung ein grandioses Buch des englischen Sportjournalisten Jonathan Wilson vorgelegt: »Revolutionen auf dem Rasen«. Es handelt sich dabei nicht etwa nur um eine Aneinanderreihung der diversen Systeme, die sich mal ­W-M-System, mal Catenaccio und mal 4-4-2 nennen – das Buch ist eine Geschichte der Taktik im Fußball. Wilson versucht wirklich, das jeweilige Spiel zu verstehen, er schildert, warum ein System zum beherrschenden wurde, warum es wegen äußerer Einflüsse oder innerer Beschränkungen irgendwann in die Krise geriet und warum – oft in sehr unterschiedlichen Gesellschaften zur gleichen Zeit – Innovationen das Spiel moderner, effektiver und meist auch besser machten. Das Ziel, auf das Wilson hinschreibt, ist der moderne Fußball, wie er gegenwärtig von Trainern wie José Mourinho (Real Madrid), Arsène Wenger (Arsenal London) oder, am kommenden Samstag im Champions-League-Finale, von Josep Guardiola (Barca) und Alex Ferguson (Manchester United) gelehrt wird. Über die historischen Herleitungen, die Wilson im Fußball, wie er an den englischen Public Schools in Eton und Rugby gespielt wurde, beginnen lässt, will er den heutigen Fußball verstehen.
Angefangen hat alles, fußballhistorisch völlig nachvollziehbar, mit der Konkurrenz zwischen einem in England und einem in Schottland dominierenden Spielsystem: das englische Dribbeln gegen die »schottische Furche«, ein Passspiel, bei dem für potentielle Schützen der Raum freigespielt wurde. Mit der in England früh einsetzenden Professionalisierung des Sports – was so viel heißt wie: Teilnahme der arbeitenden Klasse am Fußball – war das den körperlosen Idealen der Gentlemen entlehnte Dribbelspiel historisch überholt.
Ähnlich auf die sozialen und kulturellen Hintergründe der Akteure Bezug nehmend, erklärt Wilson den Siegeszug des Donaufußballs in den zwanziger Jahren: Mannschaften wie Austria Wien, das jüdische Team von Hakoah Wien oder die von Hugo Meisl betreute österreichische Nationalmannschaft dominierten mit Kombina­tionsfußball. Wilson benennt als Ursache für das weitgehend körperlose und oft nicht aufs Ergebnis achtende Spiel, dass zu jedem Club ein Kaffeehaus gehört habe, »in dem sich Spieler, Anhänger, Funktionäre und die schreibende Zunft mischten«. Damalige Stars wie Josef Uridil oder Matthias Sindelar waren also zunächst Helden der Kaffeehäuser und weniger des überwiegend proletarischen Stadionpublikums. Der auch heute noch Verwendung findende Begriff des »Rasenschachs« (der freilich meist negativ konnotiert ist, weil er nicht strategische Schläue, sondern unansehnliche Langeweile nahelegen soll) wurde damals erfunden. Das mag vielleicht nicht ganz überzeugen – wie überhaupt in Wilsons gesamter Herleitung die Bedeutung der Taktik für den Fußball vielleicht zu absolut gesetzt wird. Aber zur Erklärung, warum den deutschen NS-Funktionären der Wiener Kaffeehausfußball so verhasst war, dass er nach dem »Anschluss« 1938 nicht übernommen wurde, obwohl er objektiv erfolgreicher war, taugt dieser Ansatz schon.
Die Bedeutung des Kollektivs im Fußball wurde laut Wilson durch die fußballerischen Ansätze in der frühen Sowjetunion hervorgehoben. Und auch noch in den siebziger und achtziger Jahren unter Trainerpersönlichkeiten wie Wiktor Mas­low, Walerij Lobanowskyj oder Eduard Malofejew lässt sich ein fußballerischer Ausdruck dieses anderen Gesellschaftsentwurfs nachweisen: eine Verwissenschaftlichung, die so weit ging, dass einzelne Spieler aus dem Blick gerieten und nur noch ein aus elf Objekten bestehender Mechanismus zu agieren schien.
Ähnlich kompetent behandelt Wilson das Catenaccio mit seinem Vorläufer, dem Rappan-Riegel aus der Schweiz. Oder den Totaalvoetbal, der von Ajax Amsterdam aus einen weltweiten Siegeszug antrat und der mit dem Genie eines Johan Cruyff verbunden ist. Es geht auch um den Streit der Trainer und Konzepte, der in den siebziger Jahren in Argentinien ausgetragen wurde: auf der einen Seite Cesar Luis Menotti mit dem von ihm ausgerufenen »linken Fußball«, dem »Fußball des Volkes«, auf der anderen Seite der Vertreter des »Anti-Futbol«, Freund der Grätsche und des Destruktiven, Carlos Bilardo. Beide, Menotti 1978 und Bilardo 1986, wurden mit ihrer jeweiligen Nationalmannschaft Weltmeister, insofern steht es eins zu eins zwischen den verfeindeten Systemen.
Wilson, der für den Guardian als Fußballkorrespondent arbeitet, erklärt mit Liebe zum Detail, wie sich in den siebziger und achtziger Jahren im englischen Fußball auf einmal mit großem Erfolg unansehnliche Taktiken der langen Bälle durchsetzen konnten, namentlich beim FC Wimbledon und beim FC Watford. Und er erklärt auch, wie diese Unsitte wieder beendet wurde. Er zeigt, wie in den achtziger und neunziger Jahren der Spielmacher verschwand, wie auf einmal einzelne Stars das Spiel prägten und aus dem Kollektivspiel ein paralleles Handeln einzelner wurde. Der Spielmacher ist in Gestalt von Persönlichkeiten wie Lionel Messi oder auch Mesut Özil wieder da, die Ursache für die Produktion von individuellen Stars ist freilich noch nicht beseitigt. »Die Macht dieser besonders begabten Spieler wird durch den Starkult unserer Zeit noch verstärkt«, schreibt Wilson. »Es kann sogar vorkommen, dass Vereine Stars deshalb benötigen, um ihre Marke in den Wachstumsmärkten Asien, Afrika und den USA besser zu positionieren.«
Bei der Übersetzung von Wilsons seit 2008 auf Englisch vorliegendem Standardwerk zur Fußballtaktik ins Deutsche fällt auf, wie vorbildlich behutsam sie besorgt wurde: Der Übersetzer Markus Montz erläutert sorgfältig nationale sprachliche Besonderheiten, wie etwa die Differenzen von »Trainer«, »Manager« und »Coach«, oder gibt Erklärungen zur englischen Populärkultur, sofern sie zum Verständnis des Textes erforderlich sind.
Es sollte einen nicht wundern (und wenn es so ist, würde es einen freuen), wenn Wilsons »Revolutionen auf dem Rasen« gegenwärtig zumindest von Menschen, die professionell mit Fußball beschäftigt sind, also vor allem von Spielern, Trainern und Journalisten, gelesen würde. Andere Rezensenten würden jetzt den Begriff »Pflichtlektüre« benutzen.
Und auch Tipper werden von diesem Buch profitieren, erklärt es doch die Über- und Unterlegenheit bestimmter Spielsysteme und verhindert so den allzu fahrlässigen Verlust von Geld.

Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011, 464 Seiten, 19,90 Euro