Erzählt drei hilfreiche Geschichten

Du weißt schon, dunkle Brille, Pferdeschwanz, plem-plem, kennst du?

Drei sehr hilfreiche Geschichten.

Das Bonbonpapierbarometer

Vor einigen Jahren, als der Zug Frankfurt-Köln noch gemächlich auf der linken Flussseite durch die Windungen des Rheintals quietschte, fuhr ich Richtung Köln. In Bonn stieg eine Mutter-Sohn-Kombi ein und setzte sich mir gegenüber ins Abteil. Noch ehe die Karten kontrolliert waren, packte die Mutter das Pausenbrot für den Sohn aus. Damit er auf dem Weg nach Köln nicht verhungert, lästerte es aus dem Boshaftigkeitslappen meines Gehirns, das aber, gut erzogen, den Gedanken nicht an die Sprechwerkzeuge weitergab. Vielleicht war ich neidisch auf den Buben, weil er, ohne sich um Proviant oder frische Wäsche kümmern zu müssen, mit Ende dreißig noch einträchtig in Gesellschaft seiner Mutter verreisen durfte, während meine Eltern mich schon kurz nach dem Führerschein aus dem Nest vertrieben hatten.
Genussvoll verzehrte er sein belegtes Brot und wies seine Mutter auf Sehenswertes in der vorbeifliegenden Landschaft hin: Kühe, Traktoren, Rübenhaufen, seltene Wolkenformationen. Für einen dicklichen Enddreißiger, der noch bei der Mutter wohnt, war er auffällig modern gekleidet. Wäre die Mama nicht dabei gewesen, hätte man ihn für einen Bruder aus der Hiphop-Szene gehalten. Als Nachtisch reichte ihm die Mutter ein Bonbon. Daran nestelte er einige Zeit herum, bis sie ihn plötzlich anfuhr: »Was machste denn so lange daran rum? Wie oft muss ich dir das denn noch zeigen?« Aber der Sohn hielt dagegen.
»Mama, das Papier geht nicht richtig ab, weil ein Tiefdruckgebiet in Anzug ist.«
Die Mutter war hart an der Explosionsgrenze. Aber der Sohn erklärte ihr ruhig und beharrlich, dass die erhöhte Luftfeuchtigkeit das Zellophan aufweiche, sodass es sich nicht mehr sauber von der Bonbonoberfläche entfernen lässt.
Ein paar Kilometer weiter fing es tatsächlich an zu regnen, und keine Minute später kam auch schon die Durchsage des Zugschaffners: »Meine Damen und Herrn, wir fahren gerade durch ein Tiefdruckgebiet. Wundern Sie sich bitte nicht, wenn sich Ihre Bonbons schlecht auswickeln lassen.«
Da verstand ich die Mutter. Einen so begabten Buben gibt man nicht gerne aus dem Haus.

Nachhaltig schnäuzen

Seit ich als Kind eine Grippe so lange verschleppt habe, bis sie mir aufs Gehirn schlug (Gott sei Dank nur auf die Hirnhäute), geh ich lieber einmal zu viel zum Arzt als zu wenig. Es nutzt ja nicht nur dem Körper, oft lernt man dabei auch was fürs Leben ganz allgemein. Beim letzten Temperatureinbruch zum Beispiel habe ich mir irgendetwas mit der Nase bzw. in der Nase eingefangen. Oft kommt etwas heraus, dann sitzt es wieder fest, von meinem Gefühl her irgendwo im Rachen oder hinter den Mandeln, hoffentlich nicht in den Nebenhöhlen. Vielleicht zieht es auch schon runter in die Bronchien.
Beim Arzt halte ich mich kurz. Ich trage eine stark eingekürzte Fassung meiner Krankengeschichte vor. Er hört eh nicht zu.
»Haben Sie Auswurf?«
»Sie meinen? …«
»Kommt etwas herrraus?«
»Ich glaub schon.«
»Was heißt ›Sie glauben‹? Wie sieht das Zeug aus, durchsichtig, gelblich, grün?«
»Weiß ich nicht, ich schluck’s immer runter.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Das ist ja oft die Frage: ausspucken oder runterschlucken.«
»Nicht ablenken! Bleiben Sie beim Thema. Ich muss wissen, wie das Zeug ausschaut.«
»Soll ich es in ein Tempo husten und herbringen?«
»In ein Papiertaschentuch? Auf keinen Fall. Der Schleimklumpen, Gallertbatzen? …«
»Lungenhering!«
»Meinetwegen. Das Bronchialprodukt schießt beim Hustenstoß mit einer derart hohen Geschwindigkeit aus dem Rachen, dass es ein Loch in die dünnen Zellstofflagen schlägt. Da können Sie durchgucken, aber der Gallertbatzen hängt gegenüber an der Wand. Da sind Stofftaschentücher technologisch überlegen: Sie lassen den Luftstoß durch, doch der Lungenhering bleibt im Gewebe hängen.«
Ich fand diese Erklärung ganz plausibel. Herr Ringsgwandl, sagte er, wenn Sie Auswurf haben, bringen Sie ihn mir direkt hierher. Gehen Sie an der Schlange im Wartezimmer vorbei direkt durch zu mir.
»Ist Ihnen das nicht zu grausig?«
»Ich bitte Sie, ich bin Lungenfacharzt, so etwas schau ich mir immer gern an.«
Er hat den Gallertbatzen dann wirklich genau untersucht.
»Aha, grün, mit einem Stich ins Gelbliche, mhm, ja, sehr schön.«
Das hat er offenbar bei seiner Facharztausbildung gelernt. Er kann aus der Farbigkeit eines Lungenherings bereits Rückschlüsse auf die Ursache der Krankheit ziehen.
»Gelber Auswurf: eitrige Bronchitis. Roter Auswurf: Lungenkrebs.«
»Eigentlich nicht so schwierig.«
»Jaja, das sind die einfachen Fälle. Dafür bräuchte man nicht zu studieren. Aber dann kommen die Übergangsformen, da wird es schwieriger. Gelber Auswurf mit roten Stippchen, zum Beispiel, das ist eine verkrebste Bronchitis. Oder umgekehrt: roter Auswurf mit gelben Stippchen, vereiterter Krebs. Dafür braucht man dann schon einen guten Homöopathen.«
Nach der optischen Prüfung kommt die olfaktorische, die Geruchsprüfung. Mit einem leichten horizontalen Kopfschütteln beschnuppert er den Schleimklumpen. Manche Bazillen, behauptet er, erkenne er schon am Geruch. Dann folgt die Konsistenzprüfung: Vorsichtig tippt er mit der Kuppe des Zeigefingers auf den Gallerthügel und prüft seine Festigkeit. Ist der Schlaaz noch prallelastisch, oder verflüssigt er sich bereits? Daraus zieht der Facharzt Rückschlüsse auf das Krankheitsstadium. Steht uns das Schlimmste noch bevor, oder befinden wir uns schon auf dem Weg der Besserung? Dann leckt er ganz andächtig die Fingerkuppe ab und raunt aha, aha? … Die Geschmacksprüfung macht er allerdings nur bei Privatpatienten.
Seitdem benutze ich wieder Stofftaschentücher. Meine Frau sagt immer: »Igitt, wie grausig, wirf die Dinger endlich weg! Einfach ekelhaft, diese Rotzfetzen!« Sie ist irgendwo aus der Gegend von Hannover. Dort redet man anscheinend so.
»Wirf sie endlich weg! Heutzutage hat man Papiertaschentücher.«
»Was heißt ›hat man‹? Du hast sie!«
Im Großen und Ganzen ist sie eine intelligente Frau, aber in letzter Zeit frage ich sie schon manchmal: »Wo bleibt bei dir eigentlich der Nachhaltigkeitsaspekt? Rechne doch nur mal aus, was du in deinem Leben schon an Papiertaschentüchern verschnäuzt hast!«
»Nein, tu ich nicht.« (Kann sie auch gar nicht, sie hat ihr Abitur nämlich in Niedersachsen gemacht.)
»Extrapoliere mal, was du bis zu deinem Tod an Papiertaschentüchern verschnäuzt. (Sie wird eh ziemlich alt, 89 in etwa, hat uns der Allianzvertreter ausgerechnet.) Wenn du so weiterschnäuzt, dann verschnäuzt du im Laufe deines Lebens drei, vier Schwarzwaldtannen. Wenn das jeder so macht, dann schaut es im Schwarzwald bald so aus wie in der Sahel-Zone.«
»Ist mir doch egal. Du brauchst mir überhaupt nichts sagen mit deinen Rotzfetzen.«
Ihr Hauptargument ist: »Wenn du Schnupfen hast? …«
»Ich hab aber keinen Schnupfen. Ich wüsste nicht, dass ich jemals Schnupfen gehabt hätte. Und wenn, dann hab ich Katarrh.«
»Wenn du Schnupfen hast, du mit deinem Riesenzinken, dann läuft der Rotz literweise runter, dann kommst du mit einem Taschentuch nie zurecht.«
»Dann nehme ich halt zwei mit, eins rechts, eins links. Und wenn’s ganz schlimm wird, steck ich mir eben noch ein paar in die Hecktaschen rein. Ich hab ja genügend.«
Mein Bestand liegt bei 120 bis 140 Stück. Die genaue Zahl ist schwer zu bestimmen, weil sich die einzelnen Exemplare im sogenannten Taschentuch-Zyklus befinden. Manche sind in der Wäsche, manche im Bügelkorb, andere in einer Jacke. Wenn eines sich zum Beispiel Anfang Oktober noch in der Sommerhose befindet, bleibt es dort so lange, bis es wieder warm wird. In diesem Dreivierteljahr sind die Bazillen schon längst verhungert. Wenn ich die Hose im nächsten Sommer dann wieder aus dem Schrank nehme, ist das Taschentuch praktisch steril. Kurz ausschütteln, und weiter geht’s.
Meine Grundausstattung waren ursprünglich die fünf Taschentücher, die ich zur Firmung von meinem Firmpaten geschenkt bekam. Dazu gesellten sich als Erbmasse die fünf Firmungstaschentücher, die mein Vater von seinem Paten bekam, plus einiges an Firmungstaschentüchern aus dem Polen- und Kaukasusfeldzug, von Kameraden, die sie nicht mehr gebraucht haben. Plus die Firmungstaschentücher, die mein Vater von seinem Vater, also meinem Großvater, geerbt hat. Das war ein größerer Stapel. Einmal die Firmungstaschentücher von meinem Großvater selbst plus die von seinen Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg. Die sind damals ein Jahr lang vor Verdun gelegen, da haben die meisten ihre Taschentücher nicht mehr gebraucht.
Die Gesamtzahl meiner Taschentücher, wie gesagt, fluktuiert. Es verschwinden welche, manchmal kommt aber auch eines dazu. Letztes Jahr, zum Beispiel, war ich mit meiner Frau auf dem Weihnachtsmarkt in Innsbruck. Ich dachte mir, sie hat so viel an der Backe, sie soll auch mal was Schönes erleben, fahr mit ihr nach Innsbruck. Der Schnee war relativ nass, wir stiefeln so zwischen den Buden herum, plötzlich seh ich eines liegen, schon im Matsch festgetreten. Natürlich hebe ich es auf. Ich kann gar nicht anders. Wenn ich ein Stofftaschentuch am Boden liegen sehe, schießt meine rechte Hand aus. Ich muss es aufheben, und schon geht es los: »Nein, das lässt du liegen. Schämst du dich nicht, du als Millionär!«
»Ja, gerade deswegen! Von irgendwoher muss es ja kommen.«
»Aber das ist doch grausig!«
»Was soll daran grausig sein?«
»Du weißt doch gar nicht, was die Leute alles gehabt haben.«
»Was sollen sie denn gehabt haben? Die Leute haben auch nichts anderes als wir. Wir haben, was die Leute haben, und die Leute haben das Gleiche wie wir. Wir gehören alle zu einer großen bakteriellen Gemeinschaft.«
»Nein, die haben grausige Krankheiten!«
»Du brauchst gerade reden. Ich hab dich auch geheiratet, obwohl du Herpes gehabt hast.«
Ich lenke sie einfach ab. Da, schau mal, der Rauschgoldengel! Dann gebe ich ihr fünf Euro und sage, komm, lass es dir gut gehen, stell dich so lang rüber zum Glühweinstand, und während sie sich zududelt, gehe ich hinten um den Stand rum und nehme das Taschentuch mit. Die Waschmittel heutzutage sind so gut, ich sehe da hygienisch überhaupt kein Problem. Einmal bei neunzig Grad in die Maschine, bügeln, und dann kommt es zu den anderen in den Schrank.
Das vom Weihnachtsmarkt in Innsbruck ist übrigens etwas ganz Besonderes, ein handgewebtes Leinentaschentuch. Ich habe es vom Tiroler Materialprüfungsamt untersuchen lassen: Es handelt sich um handgeschlagenes, handgesponnenes, teilmaschinell gewebtes Flachsleinen vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Mit der Hand hat jemand in Rot draufgestickt: Lieber Andreas, in ewiger Liebe, Deine Kathl. Man vermutet, dass es sich um das Taschentuch handelt, das die letzte Freundin des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer ihm durch die Eisenstäbe des Gefängniswagens zugereicht hat, kurz bevor ihn die Franzosen zum Erschießen nach Mantua abtransportierten. Das Textil war hundertfünfzig Jahre lang verschollen und tauchte erst Anfang der zweitausender Jahre wieder bei einer Auktion von Sotheby’s in London auf, wo es ein Swarovski-Erbe für den eigentlich ganz manierlichen Preis von 390 000 Pfund ersteigerte.
Dieser Swarovski, so stelle ich es mir vor, wird ein paar Stunden vorher mit seiner Frau über den Weihnachtsmarkt geschlendert sein, das Handy klingelt, er reißt es flott aus der Tasche. Ein geschäftlicher Anruf, es geht um viel Geld. Und bei diesem Vorgang zieht er das Taschentuch mit heraus, er braucht ja nicht groß achtzugeben, waren ja bloß ein paar hunderttausend, es fällt zu Boden, andere marschieren drüber – normalerweise war es das für das Taschentuch. Nach Weihnachten, wenn der Markt abgebaut wird, kommt ein Kehrfahrzeug der Stadtreinigung, gelbes Blinklicht, rotierende Besen, und das Taschentuch landet im allgemeinen Müllstrom der Wegwerfgesellschaft. Ein Glücksfall, dass ich es gefunden habe. Ich weiß es zu schätzen, dass ich, wenn es aus meiner Nase tröpfelt, ein Stück gut anzufassendes, haptisch hochwertiges Leinen aus der Tasche ziehen kann und mich in zweihundert Jahre Geschichte schnäuzen darf. Ich verliere es auf gar keinen Fall. Und obwohl die Versuchung groß ist, werde ich es auch nicht verkaufen. Ich habe vor, es zu vererben, wie die Generationen vor mir.
Warum doch hin und wieder eines meiner Taschentücher verschwindet, obwohl ich immer ein Auge auf sie habe, ist nicht ganz klar. Es kann nicht daran liegen, dass ich sie verliere. Ich habe das Problem mit Spezialisten des BKA besprochen. Der zuständige Experte vermutet Stalkerinnen. Er sagt, nach seiner Erfahrung gibt es Frauen, die der Gedanke umtreibt, sie bräuchten unbedingt ein Taschentuch ihres Idols. Zwar verfüge er über keine belastbaren Hinweise darüber, was solche Frauen mit den Taschentüchern anstellen. Aber er könne sich vorstellen, dass die Damen damit nachts in irgendeiner Weise unter der Bettdecke hantieren. Und der Mann liegt daneben und merkt nichts davon.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum meine Frau etwas gegen Stofftaschentücher hat. Wenn sie sich darüber äußert, klingt es natürlich ganz anders. Ihr offizielles Argument ist immer: Wenn du mal Schnupfen hast? … Gut, dann tropft es natürlich massiv aus der Nase. Da schaut man schon beim Aufstehen nach einer Tasse oder einem Weinglas zum Darunterhalten. Aber auch ein stärkerer Katarrh ist kein Problem für mich. Dann ziehe ich nämlich mein Kombinationssakko an, und damit habe ich acht Taschen zusätzlich. Das heißt, ich habe zwölf Taschentücher dabei, und damit komme ich ganz gut hin. In der Früh fange ich mit dem in der rechten Hosentasche an, schnäuze mich ums Becken herum, dann langsam spiralig den Oberkörper hinauf, und abends gegen sechs hole ich das letzte aus der Reverstasche heraus. Dann ist der Anzug allerdings, das gebe ich zu, schon ziemlich schwer.
Ist aber auch kein Problem. Wir haben nämlich inzwischen eine Zentralheizung. Das ist auch ein Tipp vom Lungenfacharzt: Legen Sie die Taschentücher nachts auf die Heizung, dann ist die Raumluft nicht so trocken. Durch die Hitze des Heizkörpers, so hat er es mir erklärt, kommt es im Lungenhering respektive Nasenrammel während der Nacht zu einer Art Biopolymerisationsvorgang. Dabei verwandelt sich der Nasen- bzw. Bronchialschleim zu einem hochpolymeren Kunststoff, der sich mit dem Baumwollgewebe des Taschentuchs zu einem hochwertigen Carbonfaserverbundwerkstoff verbindet. Das ist hochfestes Material und ex­trem zäh. Aus dem gleichen Material werden übrigens die Tragflächen des neuen Airbus hergestellt. Davon gibt es aber zu wenig, deswegen wird der Airbus auch nie rechtzeitig fertig. Wenn ich morgens das Taschentuch abnehme, ist es starr und hat die gleiche Form wie der Heizkörper. Beim Frühstück stelle ich es wie einen Tunnel auf den Tisch. Da könnte ich zum Beispiel den Hamster drunter parken.
Jetzt gibt es ein Verfahren, wie man das Taschentuch ohne Einsatz von Wasser wieder sauber kriegt, ein Trick, den ich von meinem Vater gelernt habe: Das Taschentuch mit ein paar kurzen, ruckartigen Bewegungen diagonal in entgegengesetzte Richtungen zerren, einmal von Norden nach Süden, einmal von Ost nach West. Dadurch wird mikrosekundenweise der maximale Dehnungskoeffizient der Popelpolymere überschritten, das heißt, die erstarrten Nasenrammel oder Krusten platzen ab und springen durch die Luft. Meine Frau hält dann immer ihre Hand über den Kaffee.
Ausbeuteln, zusammenfalten, und dann kommen die Sacktücher in die Hecktasche, jeweils vier, fünf aufeinander. Das ist wichtig, damit ordentlich Druck drauf ist. Dann fahre ich mit dem öffentlichen Verkehr, U-Bahn, Trambahn (S-Bahn oder Bus gehen aber auch). Durch die Hitze, die von meinem Gesäßmuskel ausstrahlt, und den Druck gegen die Rückenlehne kommt es dabei zu einer Art Bügelvorgang. Wenn ich dann drei, vier Stationen weit gefahren bin, sind die Taschentücher wieder so einwandfrei aufbereitet, dass ich sie einer jeden Dame ohne weiteres anbieten kann.

Blitzziegen und Smaragdbaumnattern

Ich achte nicht groß auf Kleidung, aber mein grünes Sakko mit der schwarzgezackten Musterung genießt einen Sonderstatus, das möchte ich auf keinen Fall verschwitzen; darunter leidet nämlich das Material, und dieses Sakko war teuer. Es besteht aus Smaragdbaumnatter, das ist eine geschützte Tierart. Die Smaragdbaumnatter ist die einzige Pelzschlange der Welt. Früher habe ich auch Schuppenschlangen getragen, aber das ist eine ewige Juckerei. Pelzschlange dagegen: ein unglaublicher Tragekomfort. Man vermutet, dass es auf der ganzen Welt noch ungefähr dreihundert Smaragdbaumnattern gibt, aber keiner weiß genau, wo. Wahrscheinlich hängen sie im Privatdschungel des Sultans von Brunei auf irgendwelchen Bäumen herum und rühren sich nicht.
Jetzt sind es auf jeden Fall ein paar weniger. Allein für dieses Sakko sind sechs Stück draufgegangen: eine für den linken Ärmel, eine für den rechten und jeweils zwei für Brust und Rücken. Inzwischen hat mir der Vogelschutzbund die Reptilienschützer auf den Pelz gehetzt. Vor kurzem wollte mich in der Fußgängerzone von Tübingen ein Flora-Fauna-Aktivist umbringen. Er hat mir ein Riesenküchenmesser von hinten so heftig durch die Rippen gestoßen, dass es vorne noch zwanzig Zentimeter weit herausschaute. Da hätte man eine Breze dran aufhängen können. Im ersten Affekt dachte ich: Das war’s. Aber ich hatte Glück, es ist nichts Gröberes passiert. Der Brustkorbchirurg in der Universitätsklinik hat mir erklärt, es gibt zwischen Rippen, Lunge, Herz und Aorta ein winziges Fenster, wo kein wichtiges Gewebe ist, und genau da hat mir der Trottel das Messer durchgeschoben.
Smaragdbaumnatternsakkos kann man nicht einfach so kaufen. Es ist ja nicht so, dass man dafür Werbung machen müsste. Die besten der besten Boutiquen können von Glück reden, wenn ihnen alle paar Jahre mal ein Exemplar zugeteilt wird. Und wenn dieses Stück tatsächlich geliefert wird, ruft der Boutiqueninhaber zuerst seine Premiumkunden an, und damit ist das Sakko normalerweise weg. Dass so ein Textil jemals ins Schaufenster gelangt, ist absolut selten. Derjenige allerdings, der ein Smaragdbaumnattern­sakko erwerben darf, erhält eine Einführung durch speziell ausgebildetes Personal. Das zeigt einem genau, wie die Jacke zusammengelegt wird. Ich zum Beispiel wurde von einer Textilingenieuse aus Bottrop ausgebildet. Der Erwerb eines Smaragdbaumnatternsakkos verpflichtet nämlich und berechtigt zur Teilnahme an einer zertifizierten Nutzerschulung. Die Fachfrau wies mich sehr bestimmt darauf hin, wie wichtig es sei, das Sakko immer »soachfältich« zusammenzulegen. In Bottrop spricht man so. Sie meinte wahrscheinlich sorgfältig, aber sie sprach es anders aus: soachfältich. Für einen Käufer aus Bayern klingt das eigenartig. Ich tat etwas begriffsstutzig und fragte ein paarmal nach: »Wie wird es zusammengelegt?« Soachfältich, sagte sie ganz unverdrossen, soachfältich.
Man redet also beruhigend auf das Sakko ein, legt es sorgfältig zusammen und packt es irgendwohin, wo es keiner stört. Am liebsten ist ihm ein sauberer kleiner Tisch, auf dem es ganz alleine liegt. Und dann, wenn es ganz soachfältich zusammengelegt ist, tritt man mit dem Fuß ein paar Mal kräftig drauf. Das ist indonesischer Dialekt und heißt so viel wie: »Bleib gefälligst liegen, du Matz!«
Dieses Sakko schaut, wie vieles, was ich trage, für den normalen Menschen aus wie ein Fetzen aus der Altkleidersammlung. Es handelt sich aber durchweg um erstklassige Ware aus einem Spezialoutlet für Designerkleidung. Eigentlich ist es eine Änderungsschneiderei, die ich gelegentlich aufsuche, weil ich im Zuge einer nachhaltigen Klamottenbewirtschaftung meine Sachen so lange trage, bis der Zwirn verdampft. Kürzlich war der Knopf vorn an meiner Jeans locker. Ich bat meine Frau: »Geh, könntest du mir den Knopf hier annähen?«
»Waaas, iiiich? Ich soll dir Knöpfe annähen? Was bildest du dir ein? Ich habe schließlich Psychotherapie studiert und nicht Knöpfe annähen.«
Von meiner Ausbildung her könnte ich den Knopf natürlich selbst annähen, ich war ja einige Zeit in der Chirurgie, aber ich sehe es auch nicht ein, und in dieser ökonomischen Nische lebt die Änderungsschneiderei. Die Chefin ist eine Kroatin, Biljana Slrjobovic. Sie hat die Firma von einem Türken übernommen, der sagt, hab ich nicht mehr nötig. Er ist jetzt Vermögensberater.
Als ich in den Laden komme, schreit sie: »Gääorg! Grieß dich, wie gäht?« Sie freut sich über mein Kommen, und das äußert sie relativ kräftig. Vielleicht ist sie in einem Mühlenbetrieb aufgewachsen oder in einer Schmiede, wo man unterhalb dieser Lautstärke gar nicht wahrgenommen wird. Sie sagt jedenfalls:
»Gääorg, schmeißdu Jeans wääg!«
»Nein, ich schmeiße sie ja gerade nicht weg. Ich stecke ein bisschen Geld hinein und möchte sie weiter benutzen.«
»Nein, schmeißdu Jeans wääg!«
Und dann, mehr sirenenhaft lockend: »Gääorg, bist du Anzugstiep!«
Aha. Das ist mir von meiner Frau in dieser Klarheit bisher nicht vermittelt worden. Normalerweise trage ich nämlich keine Anzüge.
»Gääorg, hast du schääne Figur, bist du groß, schlaank, hast du ideal Konfäktionsgräße.«
Ich habe eine ideale Konfektionsgröße, das stimmt. Früher habe ich sogar gemodelt; zwar nur im Regenmantelbereich, aber immerhin.
»Gääorg, hab ich Spietzensache fier dich. Mächst du Designeranzug? Paris, värstähst du? Haute Goutiier!«
»Sicher, wenn es finanziell machbar ist, gern.«
Kein Problem, sagt sie, mach ich dir Späzi-Preis. Hab ich Geheimoutlet von Rive Gauche, värstähst du? Karl Lagerfeld, du weißt schon, dunkle Brielle, Pferdeschwanz, plem-plem, kennst du?
»Logisch kenn ich ihn. Ich hab ihn in letzter Zeit nicht so häufig getroffen, aber wir kennen uns, klar.«
Dann erzählt sie mir von ihrer Freundin, die noch unten in Kroatien wohnt, irgendwo in einem Hügelgebiet bei Smpfrmtnijjek. Wenn man von Ljubljana Richtung Zagreb fährt, geht es irgendwann links rein, in eine ganz verhaute, bucklige Gegend. Ziegenhalterei, Hühnerställe, Hasenzüchter, kleinteilige Landwirtschaft. Dort hat Karl Lagerfeld seine geheime Entwurfswerkstätte. Er sagt, das ist sicher, hier kennt mich keiner. In Paris dagegen verliert er jedes Jahr zig Millionen durch Modespionage. Er hat sich den dreckigsten Ziegenstall der ganzen Gegend ausgesucht. Eine heruntergekommene Holzhütte, wo seit Jahrzehnten jede Geiß ihren verschissenen Arsch außen an die Bretter hinreibt. Das gefällt ihm. Hier, sagt er, kann ich endlich vernünftig arbeiten. In diesem Ziegenstall werden die Prototypen der Mode geschneidert, die man drei Jahre später auf den großen Schauen in Paris und New York über den Laufsteg segeln sieht, und wieder ein paar Jahre später kann sie unsereins im Geschäft kaufen, vorausgesetzt, er hat etwas Geld dabei.
Von außen käme niemand darauf, was hier passiert. Innen wurde der Stall natürlich sauber gekehrt. Da sitzen zwanzig zusammengebogene, gichtige Kroatinnen an uralten Singer-Nähmaschinen, die werden noch mit den Füßen getreten, da wird Strom gespart, und die Frauen sagen, wunderbar, so gut ist es uns noch nie gegangen. Wir kriegen eine Suppe, wir dürfen Radio hören, danke, Karl. Und am Freitag kommt Lagerfeld. Für ihn ist das sehr praktisch, Smpfrmtnijjek liegt nahe bei Paris, er muss nicht extra nach China fliegen. Sobald das Dorf in Sichtweite kommt, dreht der Pilot eine Runde, und dann lässt sich Karl abwerfen. Streng geheim natürlich, das heißt, er schwebt in Tarnkleidung ein. Früher hat er sich oft bei Jörg Haider einen Trachtenanzug ausgeliehen, mit Hut und Gamsbart. Wenn er so landete, dachte natürlich keiner an Lagerfeld, da sagte jeder: Na servas, was für ein zünftiger Bruder. Genau genommen war es allerdings kein richtiger Gamsbart, und daran erkennt man, mit was für einem ausgekochten Modeprofi wir es hier zu tun haben: Er hatte sich am Hut, dort, wo die Krempe ansetzt, ein Loch in den Filz schneiden lassen, und da zog er den Pferdeschwanz durch und föhnte ihn zu einem Gamsbart auf. Ein Modegenie, keine Frage.
Wenn Lagerfeld wieder weg ist, ruft die kroatische Freundin an und sagt: »Biljana, hab ich Designermode, hast du Kunde mit kienstlerisch Geschmack?« Und so komme ich in den Genuss dieser erstklassigen Ware. Die Hose zum Beispiel ist »Alt-Pfirsich«. Das ist die Modefarbe von in drei Jahren. Zurzeit wird darüber noch gelästert, du lieber Gott, schau dir die Hose an, nein, wie furchtbar. Aber in drei, vier Jahren, wenn sie bei den Herrenausstattern an der Münchener Oper hängt, wird es heißen: »Oh ja, klasse, wirklich schön, und damals haben wir uns über den Ringsgwandl noch lustig gemacht? …«
Das Hemd habe ich auch von ihr. Es war das Teuerste an der ganzen Kombination. Reine Blitzziegenseide. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Mohair, Merino, Kaschmir kenne ich, aber Blitzziege war mir neu.
»Na, schmeißt du Mohäär Kaschmir wääg, is grob grausig Stoff. Blitzziege fienfzigmal feiner!«
Blitzziege ist wirklich sehr kostbar. Es gibt auf der ganzen Welt nur noch ein einziges Tal, wo dieses Tier lebt. Keiner weiß genau, wo das ist. Anscheinend ziemlich weit hinten in der transaltaischen Mongolei. Wenn du mit der Transsibirischen nach Peking fährst, irgendwann hinter Ulan Bator, kurz vor der chinesischen Grenze geht es dann rechts rein in ein Hügelgebiet. Als Ausländer kommt man da sowieso nicht hin, das ist alles streng bewacht. In diesem Talkessel hausen noch dreißig- bis vierzigtausend Blitzziegen. Die vermehren sich auch nicht. Die sagen: »Nöö, haben wir nicht nötig.« Das internationale Kapital denkt, daraus machen wir eine Industrie, das bringt Kohle, aber die Blitzziegen sagen nöö, nicht mit uns. Dreißigtausend reicht uns. Wir haben keine Lust, uns zu vermehren. Gerade die Weibchen sind sehr extrig: »Ich hab so einen feinen Pelz, den bringt mir der Kerl nur durcheinander, nein, danke!«
Blitzziegen sind schwierig zu halten. Eigentlich können sie nur am Hang leben. Die rechten zwei Beine sind nämlich kürzer als die linken. Das heißt, die Geißen laufen also ihr ganzes Leben lang in einer Richtung die Abhänge des Talkessels entlang, immer gegen den Uhrzeigersinn. So ist es bei den Böcken. Bei den Weibern ist es umgekehrt, da sind die linken zwei kürzer. Die Geißen laufen also mit dem Uhrzeiger durchs Tal. Wenn sich die beiden Herden mal treffen, was eher selten ist, normalerweise gehen sie sich nämlich aus dem Weg, wenn es also dazu kommt, dass Bock- und Ziegenherde ineinanderlaufen, dann kann es zur Paarung kommen – eventuell.
Die Blitzziege unterscheidet sich von der gewöhnlichen, landläufigen Geiß dadurch, dass sie ihre beiden Hörner nicht neben-, sondern hintereinander auf dem Kopf hat. Vorne das Kampfhorn, für den Fall, dass es Ärger mit dem Parkplatz gibt, und hinten das Abwehrhorn, das sie einsetzt, wenn der Feind von hinten kommt. Die Blitzziegenkönigin allerdings besitzt drei Hörner, vorne das Angriffs-, hinten das Verteidigungs- und in der Mitte das Blitzableiterhorn. Die Gegend dort ist enorm niederschlagsarm. Es regnet vielleicht sechs, sieben Mal im Jahr und davon ein-, zweimal mit Gewitter. Alle drei bis vier Jahre gibt es ein Gewitter, bei dem der Blitz in die Ziegenherde einschlägt. Meistens trifft er dann die Königsziege, fährt ihr durchs Blitzableiterhorn in die Gedärme und verbrennt die Königin zu einem Kohlenstoffbatzen. Der stinkt nach verbranntem Horn und kugelt den Berg runter. Unten wird er von der einheimischen Bevölkerung dankbar aufgefangen und auf ein Seidenkissen gelegt. Huhu, wir verehren den Blitz­ziegen­klumpen! Er kommt in eine Kapelle und wird jedes Jahr am Blitzziegentag in einer Prozession durchs Dorf getragen. Dann schmeißen sich alle auf den Boden und sagen: Danke, liebe Blitzziegenkönigin, danke!
In dem Augenblick, in dem der Blitz durch das mittlere Horn der Ziegenkönigin einfährt, fassen sich alle gegenseitig an den Hufen, damit sich die Elektrizität in der gesamten Herde ausbreiten kann, und in dieser Sekunde verfeinert sich der ohnehin schon sehr feine Pelz noch einmal um das Zwanzig- bis Dreißigfache. Jetzt stürzen sich die Buben aus dem Dorf auf die Herde und scheren blitzschnell so viel Ziegen, wie sie in vierzig, fünfzig Sekunden schaffen. Wenn sie dieses Zeitfenster nicht nutzen, ist es vorbei. Eine Minute später vergröbert sich der Pelz schon wieder, und dann vergehen Jahre bis zur nächsten Gelegenheit. Bei jeder Schur kommen allerhöchstens drei, vier Pfund Wolle zusammen. Sie wird im Panzerwagen nach Samarkand gefahren und in der Geheimdienstspinnerei zu Blitzziegenseide versponnen. Daher der Preis. Der Stoff trägt sich allerdings wie ein Hauch von Frühlingsluft. Dafür werfe ich jeden Kaschmirfetzen weg. Ein Hemd aus Blitzziegenseide kostet sechs- bis siebentausend Euro.
Der Anzug, den mir Biljana schließlich zusammenstellte, erwies sich als Kombination aus grün-schwarz gemusterter Smaragdbaumnatternjacke, Hose in Altpfirsich und Blitzziegenhemd. Unter marktüblichen Bedingungen absolut unbezahlbar, aber wenn man die Sachen bei ihr im Package kauft, wird es deutlich billiger, und dann geht es. Das Hemd kostet normalerweise 6 500 Euro, das Sakko war im Rahmen der Spezipreisaktion schon heruntergesetzt auf 3 500, aber dadurch, dass ich auch die Hose dazunahm, reduzierte sich der Preis auf insgesamt 379.
Gääorg, zwitscherte sie raukehlig, hast du gut bei mir eingekauft, läg ich noch was obendrauf, kriegst du Socken. Sie griff unter den Ladentisch, machte eine Handbewegung, als ob sie etwas herausholen und auf die Theke legen würde, und sagte: »Hier, hast du Socken.«
»Wo? Ich seh nichts.«
»Bist du bläd? Kannst du nicht sähen, sind virtuälle Socken, hab ich gestrickt aus Softwär, värstähst du?«
»Ah ja, danke. Und welche Größe?«
»46. Hab ich dir programmiert Gräße 46.«
Ja gut, sage ich, 46 passt.
»Ciao, Gääorg.«
Aber irgendetwas stimmt nicht mit den Socken. Ich glaube, das Problem besteht darin: Die Socken sind zwar digital, aber stinken tun sie analog.

Georg Ringsgwandl, Jahrgang 1948, hängte mit 45 seinen Beruf als kardiologischer Oberarzt an den Nagel und widmete sich ganz der Musik. Er steht seit über 30 Jahren auf der Bühne und hat neben zahlreichen Platten auch Theaterstücke veröffentlicht. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Deutschen Kleinkunstpreis, dem Bayerischen Kabarettpreis und dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik.

Vorabdruck mit freundlicher ­Genehmigung des Verlags aus: Ringsgwandl: Das Leben und Schlimmeres. Hilfreiche Geschichten. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011. 256 Seiten, 9,99 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.