Die französische Debatte um die Strauss-Kahn-Affäre

Ein ganz normaler Mann

Dominique Strauss-Kahn hat in Frankreich noch viele prominente Freunde. Feministinnen kritisieren den Umgang der französischen Medien mit den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Strauss-Kahn und sprechen von »ungehemmtem Sexismus« in der öffentlichen Debatte.

Unter diesen Umständen lässt es sich aushalten, unter Hausarrest gestellt zu werden. 623 Quadratmeter umfasst die neue vorübergehende Behausung des früheren IWF-Direktors Dominique Strauss-Kahn, im Stadtteil Tribeca in New York. Der französische Politiker und Finanzmanager bezog sie am Mittwoch voriger Woche, nachdem es ihm am vorherigen Ort seines Hausarrests zu eng geworden war. Vier Badezimmer, vier Speisesäle, einen eigenen Kinosaal, ein Fitnesszentrum und eine Dachterrasse umfasst die bescheidene Unterkunft. Anne Sinclair, die Ehefrau Strauss-Kahns, mietet das Anwesen für 50 000 Dollar monatlich.
Bei den französischen Sozialdemokraten löst dies ein spürbares Unbehagen aus. Zu deutlich ist der Kontrast zur Legende vom Kandidaten mit der ausgeprägten sozialen Sensibilität, der die Sorgen der kleinen Leute versteht und sich in diese hineinversetzen kann.
Strauss-Kahn wusste, dass er von Teilen der Öffentlichkeit argwöhnisch beobachtet wurde, seitdem das Gerücht über seine Präsidentschaftskandidatur die Runde machte. Inoffiziell traf er in jüngster Zeit die Redaktionen mehrerer großer Zeitungen, die der Sozialdemokratie mehr oder weniger nahestehen: Le Nouvel Observateur, Le Monde oder Libération. Der letztgenannten Zeitung erzählte Strauss-Kahn Ende April unter anderem, er wisse, dass seine Schwäche für Frauen eine seiner »Achillesfersen« sei. Er fügte hinzu, er könne sich vorstellen, dass jemand »einer Frau 500 000 oder eine Million Euro bezahlt«, damit sie fingierte Vorwürfe über »eine Vergewaltigung auf einem Parkplatz« erhebe.
Dass es nicht ganz so einfach ist, jemandem mit gefälschten Vorwürfen solcher Art zu schaden – es gibt schließlich DNA-Analysen und andere Formen wissenschaftlicher Spurensicherung –, wusste natürlich auch Strauss-Kahn. Tatsächlich wird auch der US-Justiz demnächst eine Analyse von Kleidungsstücken sowie des Teppichs aus dem New Yorker Hotel, wo die Vergewaltigungsszene sich abgespielt haben soll, vorgelegt werden. Intern stehen die Ergebnisse bereits fest. Anfang vergangener Woche berichteten US-Medien und der französische Fernsehsender France 2, es seien Spermaspuren mit der DNA Strauss-Kahns am Kragen der Bekleidung der mutmaßlich zum Oralsex gezwungenen Hotelangestellten nachgewiesen worden. Mittlerweile wurde dies jedoch öffentlich dementiert, New Yorker Polizei- und Justizbehörden versicherten, sie hätten das Ergebnis an niemanden weitergegeben. Erst zum Prozess werde es bekanntgegeben.

Strauss-Kahns Anwälte wiederum haben viel Geld für Recherchen in der Bronx, wo das mutmaß­liche Opfer Nafissatou Diallo lebte, und in dessen Herkunftsdorf in Guinea ausgegeben. Auch ihre guineischen Landsleute, in den USA wie in Westafrika, könnten zu Rate gezogen werden. Einige von ihnen äußern sich in den französischen Medien derzeit negativ über Diallo und ihre Moral, und zwar vor allem deswegen, weil es in ihren Augen grundsätzlich unsittlich ist, wenn eine Frau mit Vorwürfen sexueller Gewalt an die Öffentlichkeit tritt. Guinea weist eine sehr patriarchalische Gesellschaftsordnung auf, in der – ob unter Muslimen, Christen oder Animisten – über 90 Prozent der Frauen Opfer von Genitalverstümmelung zwecks »Eindämmung des weiblichen Geschlechtstriebs« werden. Strauss-Kahns Anwälte werden alles daran setzen, unter den Mitgliedern der Jury Zweifel am Charakter Diallos zu streuen. Es genügt, dass einer von zwölf Geschworenen am Ende Bedenken anmeldet, um eine strafrechtliche Verurteilung zu verhindern. Danach ist allerdings noch ein Zivilprozess um Entschädigungsforderungen möglich.
Aufgrund seiner politischen Stellung innerhalb der Sozialdemokratie hat Strauss-Kahn in Frankreich viele Verbündete. Stand er in seiner Jugend noch der kommunistischen Partei nahe, hat er sich bald immer weiter nach rechts bewegt und gehört seit nun 15 Jahren zum wirtschaftsliberalen Flügel der sozialdemokratischen Partei. Strauss-Kahn galt auch bis zum Beginn der aktuellen Affäre als derjenige sozialdemokratische Kandidat, dem es am ehesten gelingen könnte, Wähler der bürgerlichen Rechten für sich zu gewinnen.
Strauss-Kahns politische Bedeutung war der Grund dafür, dass viele politische Akteure mit Unglauben auf die Anklage in New York reagierten. So ereiferte sich der Fernsehphilosoph Bernard-Henri Lévy darüber, dass Strauss-Kahn »wie irgendein einfacher Beschuldigter« in Handschellen gelegt werde. Für Aufsehen sorgte der bisherige Chefredakteur der linksnationalistischen Wochenzeitschrift Marianne. Den Begriff »Vergewaltigung« oder »sexuelle Gewalt« meidend, druckste Jean-François Kahn in einer Talkshow im Fernsehen herum und sprach schließlich glucksend vom »Betatschen von Domestiken«. Sein Auftritt sorgte für heftige Reaktionen und am Mittwoch letzter Woche gab Kahn bekannt, er ziehe sich aus dem Berufsleben zurück und gebe den Journalismus definitiv auf. Am folgenden Tag veröffentlichte er einen Beitrag in Le Monde unter dem Titel »Werft mein Engagement nicht vor die Hunde«. Darin rechtfertigt er sich mühsam mit dem Argument, er habe sich sehr unglücklich ausgedrückt, wolle aber nicht sein Leben und Wirken auf diesen Auftritt reduziert sehen.

Zumindest im Falle von Jean-François Kahn haben die kritischen Reaktionen aus der Gesellschaft offenbar ihre Wirkung gezeigt. Doch nach wie vor wird der Vergewaltigungsvorwurf systematisch heruntergespielt – wo doch vermeintlich Höheres auf dem Spiel stehe, die französische Wahl etwa oder die Besetzung des Chefpostens beim IWF.
Französische Feministinnen reagieren darauf empört und protestieren gegen den »ungehemmten Sexismus« in der Berichterstattung der französischen Medien über den Fall. Die Verharmlosung eines Vergewaltigungsvorwurfs in der öffentlichen Diskussion führe zu einer Verwirrung darüber, wo die Grenze zwischen sexueller Freiheit und Gewalt gegen Frauen verlaufe, schreiben feministische Organisationen in einem Aufruf, der innerhalb einer knappen ­Woche bereits 28 000 Unterschriften erhielt. »Wir wissen nicht, was am vergangenen Samstag in New York passiert ist«, heißt es im Aufruf, »aber wir wissen, was seit einer Woche in Frankreich passiert. Wir erleben einen energischen Aufschwung von sexistischen und reaktionären Reflexen, wie sie bei einem Teil der französischen Eliten so schnell auftauchen können. (…) Diese Aussprüche machen tendenziell, aus einer ­Vergewaltigung eine Situation mit unklaren Grenzen, eine Art mehr oder minder akzeptablen Ausrutscher.« Die Frauenrechtsvereinigungen »Osez le féminisme«, »La barbe« und »Paroles de femmes« organisierten gemeinsam eine Kundgebung vor dem Pariser Centre Pompidou. An ihr nahmen 3 000 Menschen teil.