Die Ausstellung »Atlantis SO 36« zeigt Bilder von Kreuzberg in den siebziger Jahren

Vor unserer Zeit

Ludwig Nikolai Menkhoff hat das Kreuzberg der siebziger Jahre fotografiert.

Auf posthumen Ausstellungen herrscht oft eine ganz seltsame Atmosphäre, die Besucher unterhalten sich nur ganz leise, als wolle man die Totenruhe des Künstlers nicht stören, die Eröffnungsreden sind von ausgesuchter Pietät, und im Katalog steht Erhebendes zum Thema Vergänglichkeit und dazu, dass der Verblichene aber durch seine Werke fortleben werde.
Bei der Eröffnung der Fotoausstellung »Atlantis SO36« im Kreuzberg-Museum in Berlin war von alldem nichts zu spüren, im Gegenteil, zur Eröffnung spielten Bands, man war fröhlich, trank und lachte laut, was sicherlich dem Künstler, dem 2008 verstorbenen Ludwig »Nikolai« Menkhoff, gut gefallen hätte – vor allem der Part mit dem Trinken, denn der Fotograf, Ikonenmaler und Lebenskünstler war zeitlebens auch ein engagierter Zecher.
Die ausgestellten Bilder zeigen eine versunkene Welt, nämlich das Kreuzberg der siebziger Jahre, mit seinen schmutzigen Hinterhöfen, die genauso gut eine europäische Stadt während des Zweiten Weltkriegs zeigen können. Damals zog der an der Mauer gelegene Stadtteil von Westberlin viele junge Menschen an, die eine Chance sahen, der öden Provinz dauerhaft entkommen zu können und, ganz wichtig, so leben zu können, wie sie es wollten. Was die Hausbesetzer von damals nicht ahnen konnten: Dadurch, dass sie den Abriss der alten Häuser und den Neubau von Mietskasernen verhinderten, legten sie gewissermaßen den Grundstein für die heutige Vertreibung der angestammten Kiezbewohner durch Immobilienmakler, reiche Münchner auf der Suche nach Hipness und Skandinavier, die sich Wohnungen in Kreuzberg als Wochenend-Flats suchen – was Menkhoff davon gehalten hätte, darüber kann nur gemutmaßt werden.
Der Autor Richard Hess ist wohl derjenige aus dem Bekanntenkreis des Kreuzbergers, der Ludwig Menkhoff am längsten gekannt hat. Irgendwann Anfang oder Mitte der Siebziger hat man sich kennengelernt, »in einem Laden namens Schwarze Rose«, der zur Hausbesetzerszene gehörte. »Kommunist und weinerlich ist Ludwig da gewesen«, sagt Hess über den Mann, der ihm »40 Jahre lang über die Leber gelaufen ist«. Menkhoff, der jahrelang zur See gefahren war und sich schließlich in Berlin niedergelassen hatte, wo er offen schwul leben konnte, sei entschieden gegen den Abriss der alten Bausub­stanz gewesen und habe versucht, das, was nicht mehr zu retten war, dann wenigstens auf seinen Fotos festzuhalten. Die Aufnahmen, die erhalten und nun Exponate der Ausstellung sind, geben oft keinen Aufschluss über den genauen Ort, an dem sie entstanden sind, und so werden die Besucher der Ausstellung auch ausdrücklich darum gebeten, Hinweise zu geben, wenn sie eine Straße wiedererkennen.
Ordentlich dokumentiert hat Menkhoff seine Fotos also nicht, was jedoch nicht ausschließlich an ihm lag, wie Jürgen Borchers, einer der Herausgeber des Fotobuchs zur Ausstellung, erklärt. Bei einem Brand – der Mann, der sich Nikolai nannte, lebte in einer Wohnung mit Ofenheizung – wurde ein Großteil der Bilder vernichtet. Borchers hatte kurz vor Menkhoffs Tod noch den Versuch unternommen, mit dessen Hilfe ein paar Aufnahmen zuzuordnen, »aber da brauchte er schon sehr lange, um sich zu erinnern und überhaupt etwas dazu zu sagen, ständig schweifte er ab, und kurz darauf erlitt der 84jährige einen Schlaganfall und ist dann wenig später auch gestorben«.
Kennengelernt hatten sich der Fotograf und der Buchhändler »um das Jahr 2000 herum«. »Ich komme wie er aus Norddeutschland und hatte das Ostfrieslandmagazin im Abo«, lacht Jürgen Borchers. Zu dieser Zeit hatten viele Leute immer wieder versucht, Menkhoff zu überreden, seine Zustimmung zur Veröffentlichung seiner Fotos zu geben. Der reagierte allerdings zunächst genervt. Zu Borchers, der ein begeisterter Sammler von Fotobänden ist und dazu noch ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der Fotografie, scheint der alte Mann Vertrauen gefasst zu haben, denn eines Tages kam er mit einer Plastiktüte voller Bilder zu ihm.
Zwischen 160 und 170 Abzüge, aber keine Negative, alle auf Papier aufgeklebt, befanden sich darin, entsprechend lange dauerte es, die Sammlung zu ordnen und zum Druck vorzubereiten.
Nun aber ist das endlich geschafft. Was bei den Bildern dann doch recht einfach war, gestaltet sich in Bezug auf Menkhoffs Leben jedoch weit schwieriger. Einen stringenten Lebenslauf des Mannes haben die beiden Herausgeber Jürgen Borchers und Erik Steffen nicht zusammenstellen können.
Dem Jahrgang nach hätte der 1924 geborene Ludwig Menkhoff Inhaber einer dieser ordentlichen Biografien sein müssen, in denen sich eins zum anderen fügt. Die Teile seines Lebens ergeben aber mitnichten ein vollständiges Puzzle, sondern passen einfach nicht zueinander, was vor allem an seiner Lust am Geschichtenerzählen liegt. Ein »faszinierendes Fluidum von Anarchie, Frömmigkeit, Melancholie und Trunkenheit« habe ihn umgeben, schreibt der Journalist Erik Steffen über Menkhoff, listet aber auch auf, was alles von dem, was der Fotograf über sich erzählte, nachweislich nicht stimmt.
»Als ich ihn kennenlernte, war er Jude und wollte mich zum Rabbiner der Synagoge am Fraenkelufer vermitteln – der kannte ihn allerdings gar nicht«, erinnert sich Hess. »Er war keine gerade Person, sondern schillernd, nein, allerschillerndst«, sagt Hess.
Seinen Geschichten ist vermutlich eins gemeinsam: Sie entsprechen nicht ganz der Wahrheit. »Es ging auch mal ein Foto von seinen Eltern herum , aber das zeigte gar nicht seine Mutter und seinen Vater.« Immerhin, das Gerücht, Menkhoff sei in Wirklichkeit bei der Waffen-SS gewesen, konnte von offizieller Seite entkräftet werden.
Warum gab sich Ludwig »Nikolai« häufig als etwas aus, das er gar nicht war, also beispielsweise als Russe oder als Jude?
»Er wollte Jungs imponieren«, glaubt Hess. »Er war ein einsamer Mann auf der Suche nach Liebe und Halt«, meint Borchers. »Halt fand er in Religionen – und Liebe, naja.« Als er nach Berlin zog, »war er schon alt, damals kamen viele junge Leute nach Kreuzberg, die Freiheit und Abenteuer suchten, und er konnte da natürlich in vielem nicht mehr so mithalten«.
Dabei hätte der Mann, der sich »immer mit gebildeten, interessanten Menschen umgab«, das Erfinden von Geschichten gar nicht nötig gehabt, denn er sei auch so als intelligenter, gebildeter, charismatischer Mensch mit vielen kulturellen Interessen aufgefallen, meint Borchers.
Menkhoffs Leben in Kreuzberg war jedoch nicht einfach, nicht zuletzt wegen ständiger Geldsorgen. Er erhielt zwar eine kleine Rente, und auch Freunde halfen immer mal wieder aus, aber finanzielle Sicherheit kannte er nicht. Und dann wurde sein Leben plötzlich ganz real bedroht: 1985 stach ihn ein Mann auf dem Heinrichplatz regelrecht ab. Nach seiner Genesung wandte sich Menkhoff der Religion zu, konvertierte zum griechisch-orthodoxen Glauben und begann eine Freundschaft mit einem Mönch namens Vater Jelassiós, der in einem Kloster auf der Insel Athis lebt. Die beiden führten einen, wie seine Freunde sagen, »bigotten Briefwechsel«, der darin gipfelte, dass der Priester nach Menkhoffs Tod bekannt geben würde, Menkhoff sei gar nicht schwul gewesen, jedenfalls nicht mehr in den letzten Jahren seines Lebens, denn durch die Gebete sei er von seiner Homosexualität »geheilt« worden. »Wahrscheinlich hat er das selber geglaubt«, seufzen Hess und Borchers.
Ein Arzt im Urban-Krankenhaus, wo Menkhoff 2008 verstarb, habe über den Patienten gesagt: »Nie hat hier ein alter Mann so viele Kümmerer«, heißt es im Erinnerungsbuch. Und Erik Steffen schreibt über seinen verstorbenen Freund: »Mit ihm ist das kollektive Gedächtnis eines Bezirks verschwunden. Das langt. Das fehlt. Das ist ein Fuck wert. Was bleibt: eine Leerstelle für alle.« Aber immerhin: Die Fotos sind ja noch da. Und die Geschichten.

Atlantis SO 36. Fotografien einer versunkenen Welt von Ludwig ›Nikolai‹ Menkhoff (1923–2008). Kreuzberg-Museum. Bis 5. Juni

Bernd Kramer/Erik Steffen (Hg.): Erinnerungen an einen Unangepassten – Ludwig Nikolai Menkhoff (1923–2008). Seemann – Anarchist – Ikonenmaler. Karin Kramer Verlag, Berlin 2011, 86 Seiten, 10 Euro

Jürgen Borchers/Erik Steffen (Hg.): Stationen sonstiger Augenblicke – Berlin-Kreuzberg: Fotografien. Verlag M, Berlin 2011, 96 Seiten, 24,90 Euro